OLG Oldenburg hält automatische Videoüberwachung von Tempo und Abstand für unzulässig - Was steckt dahinter?

Staat und Verwaltung
04.12.20092902 Mal gelesen
An dieser Stelle hatte ich bereits im September berichtet, dass das Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerde eines Temposünders hin die verdachtsunabhängige Verwendung von ortsfesten Video-Systemen zur Ermittlung von Abstands- oder Geschwindigkeitsverstößen ohne formell-gesetzliche Ermächtigung als rechtswidrig gebrandmarkt hat. Ein solches Vorgehen verletze das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Gestalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Beschluss vom 11.08.09, Az.: 2 BvR 941/08). Die Verfassungsrichter haben die Erhebung solcher Daten für unzulässig erklärt und es denn Fachgerichten überlassen, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Dies ließ nach meiner Auffassung nur einen möglichen rechtlichen Schluss zu, nämlich die Unzulässigkeit der Verwendung von derartigen Videoaufnahmen als Beweismittel im Bußgeldverfahren. Betroffenen war daher zu raten, im Bußgeldverfahren Einspruch einzulegen und der Beweisverwertung zu widersprechen.
 
 
Nunmehr ist die Wertung, des Bundesverfassungsgerichts, das in der kontinuierlichen Videoüberwachung ohne gesetzliche Grundlage einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sieht, endgültig auch in der höchstrichterlichen Praxis angekommen. Soeben hat das Oberlandesgericht Oldenburg festgestellt, dass die Videoaufzeichnung nicht als Beweismittel verwertet werden darf. Das OLG Oldenburg hat diese Konsequenz im Fall eines Abstandsünders gezogen und einen Bußgeldentscheidung gegen ihn verhindert (Az.: Ss Bs 186/09 144 Js 81648/09, Beschluss vom 27.11.09) Spätestens jetzt dürfte jedem, der mittels automatisierter Videoüberwachung erwischt wird, klar sein, dass er gute Chancen hat, erfolgreich gegen einen entsprechenden Bußgeldbescheid anzugehen. Insbesondere das Video-Abstands-Messverfahrens (VAMA) und seine Weiterentwicklung VKS sowie das System ViDistA stehen jetzt am Pranger der Rechtswidrigkeit.
 
 
Im zugrunde liegenden Fall war einem Autofahrer zur Last gelegt worden, bei einer Geschwindigkeit von 119 km/h nur einen Abstand von weniger als 3/10 des halben Tachowertes zum Vordermann eingehalten zu haben. Gegen den Bußgeldbescheid, der neben einer saftigen Geldbuße auch ein einmonatiges Fahrverbot enthielt und drei Punkte in Flensburg zur Folge gehabt hätte, legte der Betroffene Einspruch ein. Das Messergebnis, das diesem Strafzettels zugrunde lag, wurde durch ein Verkehrskontrollsystem namens VKS 3.0 ermittelt. Bei diesem Messverfahren sind zwei Videoaufzeichnungen vorgenommen worden, nämlich eine sog. Tatvideoaufzeichnung, mit welcher die Abstands- und Geschwindigkeitsmessung durchgeführt wird, sowie eine Fahrervideoaufzeichnung, welche der Identifikation des Fahrers und der Kenzeichenerfassung dient. Messung und Auswertung liefen dergestalt ab, dass der auflaufende Verkehr in einem bestimmten Fahrbahnabschnitt mit der Videokamera von einem ortsfesten Kamerastand aufgenommen wird, der mindestens drei Meter über der Fahrbahn, meist auf einer Brücke, installiert ist. Während der Aufnahme wird das Videosignal kodiert. Der Kodierer zählt in dem Videosignal die einzelnen Videobilder. Der zeitliche Abstand von zwei aufeinander folgenden Videobildern beträgt 1/50 Sekunden. Die Auswertung des so kodierten Videobandes wird dann mittels eines Computers durchgeführt. Bei dieser Form der Verkehrsüberwachung kommt es zu einer durchgängigen Aufnahme des fließenden Verkehrs in der Weise, dass jeweils die auf der Überholspur befindlichen Fahrzeuge mit Kennzeichen erfasst werden und die Fahrer identifizierbar sind.
 
 
Unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom11.08.2009 (Az.: 2 BvR 941/08) hatte zunächst das Amtsgericht den Betroffenen freigesprochen. In der Urteilsbegründung des Amtsgerichts hieße es: Diese Art der Messung sei mit Rücksicht auf das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage in Niedersachsen als verfassungswidriger Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung anzusehen. Weiterhin ist das Amtsgericht zu dem Schluss gelangt, dass der Verwertung des rechtswidrig erlangten Messergebnisses ein Beweisverwertungsverbot entgegenstehe. Mit der Messung sei automatisch und unvermeidbar die Aufnahme einer unüberschaubaren Vielzahl von Personen verbunden, welche sich regelkonform verhielten und über deren persönliche Information dem Staat ein Erfassungsrecht nicht ohne gesetzliche Legitimierung zustehe. Dieser mit dem Messverfahren verknüpfte ungerechtfertigte Eingriff in die grundgesetzlich geschützten Rechte einer Vielzahl von Verkehrsteilnehmern führe dazu, dass dem Verfahren per se eine Verfassungswidrigkeit innewohne. Die daraus gezogenen Beweismittel könnten auf ordnungsgemäßem Wege nicht mit gleicher Sicherheit erlangt werden. Für eine Differenzierung nach jeweiligen Einzelfällen der Verstöße sei bei einer derartigen Vorgehensweise kein Raum. 
            
 
Gegen diesen Freispruch wendete sich die Staatsanwaltschaft Osnabrück mit der Rechtsbeschwerde. Sie führte im Wesentlichen an, dass ein Beweisverwertungsverbot nicht bestehe, da das Interesse der Allgemeinheit an der Verkehrssicherheit das wenig beeinträchtigte Individualinteresse des Betroffenen überwiege.
 
 
Dieser Auffassung der Staatsanwaltschaft hat sich das Oberlandesgericht in der vorliegenden Entscheidung jedoch nicht angeschlossen. Die OLG-Richter wiesen die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das freisprechende Urteil als unbegründet ab und griffen in ihrer Begründung auf die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts zurück. 
  
 
Sie stellten fest, dass das Amtsgericht zutreffend von einem Beweisverwertungsverbot ausgegangen ist.  
Die Aufzeichnung individueller Verkehrsvorgänge durch fest installierte Videoanlagen sei, jedenfalls wenn sie unter den hier vorherrschenden Bedingungen erfolgt, mit einem Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verbunden, wie es das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 11.08.2009 angeführt hat. Die Aufzeichnung des Bildmaterials führe zu einer technischen Fixierung der beobachteten Vorgänge, die später zu Beweiszwecken abgerufen, ausgewertet und bearbeitet werden können, wobei eine Identifizierung von Fahrer und Fahrzeug gewollt und technisch möglich ist. Derartige Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung seien unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im überwiegenden Allgemeininteresse nur bei Existenz einer formell-gesetzlichen Grundlage zulässig. Eine solche gesetzliche Ermächtigungsgrundlage habe vorliegend zweifellos aber nicht existiert. Das darauf folgende Beweiserhebungsverbot ziehe hier auch ein Beweisverwertungsverbot nach sich, da sich der Verfahrensverstoß bei der gebotenen Interessenabwägung als schwerwiegend darstelle. Die Schwere des Verstoßes ergebe sich daraus, dass die Messmethode mit einem schematischen Eingriff in die Grundrechte einer Vielzahl von Personen verbunden sei. Die Messweise sei bereits konzeptionell so angelegt, dass sie mit einer über die herkömmlichen, anlassbezogenen Abstands- und Geschwindigkeitsmessverfahren einhergehenden Gefahr einer Grundrechtsbeeinträchtigung weit hinaus gehe. Auch die mit einer Dauervideoüberwachung verbundene Heimlichkeit bestätige die Schwere des Eingriffs.  
      
 
       
Zwar beschränkt sich die bindende Wirkung dieser erfreulichen Entscheidung des OLG Oldenburg zunächst nur auf die Gerichte in diesem OLG-Bezirk. Zusammen mit der Steilvorlage des Bundesverfassungsgerichts dürfte es anderen Gerichten jetzt jedoch zunehmend schwerfallen, Argumente für eine Zulassung von Videoaufzeichnungen als Beweismittel zu finden. Es ist damit zu rechnen, dass die meisten Fälle nach einem Einspruch und bei qualifizierter Begründung bereits in der ersten Instanz geklärt werden können. Der Gesetzgeber ist jetzt erst recht aufgefordert die notwendige gesetzliche Grundlage für verdachtsunabhängige Videoaufzeichnungen zu schaffen. Solange das nicht passiert, bleiben eine Vielzahl solcher Messungen schlichtweg rechtswidrig.
 
 
 
Hier hat sich der Staat mit seiner Sammelleidenschaft voll ins Abseits gestellt. In der Konsequenz müssten alle Videomessungen bis zur Schaffung einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage gestoppt werden. Jeder Bußgeldbescheid, der auf einer Videoüberwachung basiert, sollte daher mit fachkundiger Begleitung durch einen Anwalt angegriffen werden. Niemand muss akzeptieren, dass ihn der Staat in seinen Persönlichkeitsrechten beschneidet und er dann auch noch dafür zahlen soll.
 
 
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Der Verfasser dieses Beitrags, Rechtsanwalt Christian Demuth, Düsseldorf, ist bundesweit nahezu ausschließlich auf dem Gebiet des Verkehrsstrafrechts, einschließlich Ordnungswidrigkeiten- und Fahrerlaubnisrecht, tätig.
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