Scheinselbstständigkeit im Sozialversicherungsrecht: Rechtsschutz gegen Fehlentscheidungen der Sozialversi

Arbeit Betrieb
28.11.20096966 Mal gelesen
Die Sozialversicherung steckt in der Dauerkrise. Die Renten sind angeblich nicht mehr sicher. Das Gesundheitssystem gilt als zu teuer. Die Kassen sind leer. Da verwundert es nicht, wenn die Sozialversicherungsträger alle Möglichkeiten ausschöpfen, Beiträge zu vereinnahmen.

Die Prüf- und Eingriffsmöglichkeiten wurden in den letzten Jahren ständig erweitert. Sie sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Zu beobachten ist ein zunehmend schärferes Vorgehen. Selbständig Tätige werden mitunter auch gegen erhebliche rechtliche Bedenken zu abhängig Beschäftigten erklärt. Die Kontrollstellen zur Bekämpfung von Schwarzarbeit erstatten nach unserer Beobachtung bisweilen schon bei kleinsten Anlässen Strafanzeigen. Beitragsbescheide werden sofort vollziehbar erlassen. Widersprüche und Klagen haben keine aufschiebende Wirkung. Beiträge müssen also sofort gezahlt werden, die rechtliche Klärung erfolgt (Jahre) später. Betroffen sind vor allem freie Mitarbeiter und Honorarkräfte, freiberuflich tätige Dozenten, Coaches etc., In vielen Branchen wird mit freien Mitarbeitern gearbeitet, z.B. im IT-Bereich (Webdesigner, Progammierer, Systemadministratoren), in der Jugendhilfe (Familienhelfer), in der Gastronomie, im Transportgewerbe, in den Medien (freie Journalisten), Musiker, Dozenten etc.. Die Folgen einer nachträglichen Feststellung sind gravierend. Beiträge können rückwirkend für vier Jahre gefordert werden. Der Arbeitgeber muss die Sozialversicherungsabgaben in voller Höhe - also einschließlich der Arbeitnehmeranteile - nachentrichten! Hinzu kommen Säumniszuschläge für jeden angefangenen Monat der Säumnis von einem Prozent des rückständigen Betrages.Andererseits: Die Sozialkassen sind auf ordnungsgemässe Meldungen und Beiträge angewiesen. Denn wer pflichtversichert ist, hat in der Regel auch einen Anspruch auf Leistungen. So hafteten die Unfallversicherungsträger für die Folgen eines Arbeitsunfalles auch dann, wenn der Arbeitgeber den Mitarbeiter nicht angemeldet und Beiträge nicht abgeführt hat. Die Arbeitsagentur darf die Zahlung von Arbeitslosengeld nicht verweigern, weil Beiträge nicht gezahlt wurden. Schwarzarbeit und das Vorenthalten von Sozialversicherungsbeträgen sind strafbar und müssen verfolgt werden. Trotz alledem: Viele Behördenentscheidungen sind falsch, um nicht zu sagen: willkürlich! Wie kann man sich schützen? Was muss man wissen? Was ist Scheinselbständigkeit?Von Scheinselbständigkeit spricht man, wenn jemand im Wirtschaftsleben als selbständiger Unternehmer auftritt, in Wahrheit jedoch von einem einzelnen Auftraggeber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch organisatorisch derartig abhängig ist, dass man eine echte unternehmerische Freiheit und Beweglichkeit kaum noch erkennen kann und deshalb von abhängiger Beschäftigung ausgehen muss. Gibt es eine exakte Definition für abhängige Beschäftigung?Leider nicht. Laut Gesetz ist "Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers" (§ 7 Abs. 1 SGB IV). Diese Klausel lässt viel Interpretationsspielraum. Deshalb hat das Bundessozialgericht zur Abgrenzung folgende Formel entwickelt, die die Sozialgerichte bundesweit in der Regel einheitlich benutzen: Eine Beschäftigung setzt voraus, "dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und er dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte und eigener Betriebsmittel, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen. Maßgebend ist stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung. Weichen die Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen ab, geben letztere den Ausschlag." Aber auch diese Formel reicht nicht in jedem Fall aus, um eine Entscheidung zu ermöglichen. In der Rechtsprechung der Sozialgerichte hat sich deshalb in jahrzehntelanger Rechtsprechung ein Katalog von Kriterien herausgebildet, die man als Merkmale einer abhängigen Beschäftigung ansehen kann. Sie werden nicht addiert, sondern sind im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu betrachten. Wie sieht die Behördenpraxis aus?In der Praxis muss man eine kritische Gesamtwürdigung, die alle relevanten Kriterien berücksichtigt, leider oft vermissen. Nicht selten knüpfen die Behörden ihre Entscheidung an das Vorliegen nur eines einzigen, für abhängige Beschäftigung sprechenden Kriteriums obwohl bei kritischer Würdigung genügend Gründe für eine Selbständigkeit sprechen. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes: Eine Chartergesellschaft setzt eine begrenzte Anzahl von Piloten je nach Bedarf für einzelne Flüge als sog. Freelancer (freie Mitarbeiter) ein. Zeitpunkt, Dauer, Art und Umfang eines jeden Einsatzes werden im Einzelfall vereinbart. Die Piloten dürfen Einsätze ablehnen. Die Verträge bestimmen, dass die Geschäftsinteressen der Chartergesellschaft zu wahren und Weisungen der Geschäftsleitung sowie der von ihr bevollmächtigten Personen zu beachten sind. Während ihrer Flugdienstzeit haben die Piloten alle Beschäftigungen, die den Flugdienst beeinträchtigen könnten und während der Ruhezeit alle Tätigkeiten zu unterlassen, die dem Zweck der Ruhezeit entgegenstehen. Der Versicherungsträger sah dies als abhängige Beschäftigungen an. Sein Hauptargument: Die Piloten seien weisungsgebunden. Sie müssten konkrete Vorgaben wie z.B. Abflugzeit, Ziel des Fluges, Abflug- und Zielflughafen und zu transportierende Güter bzw Personen beachten. Der äußere Ablauf sei durch gesetzliche und (flug)technische Regelungen vorgegeben. Das Bundessozialgericht entschied jedoch, dass bei einer Gesamtwürdigung der Tätigkeit kein abhängiges Beschäftigungsverhältnis zum Flugunternehmen bestehe. In der Begründung heisst es: Die Piloten unterliegen bei der Durchführung ihrer Einsätze keinem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht der Chartergesellschaft. Zwar seien gewisse "Eckpunkte" vorgegeben, wie z.B. Abflugzeit, Ziel des Fluges, Abflug- und Zielflughafen usw. Allein aus der "geminderten Autonomie" bei der Durchführung der einzelnen Einsätze könne nicht auf eine Weisungsgebundenheit geschlossen werden. So werde keine ständige Dienstbereitschaft erwartet. Die Piloten seien nicht in Dienstplänen aufgeführt, die das Unternehmen ohne vorherige Absprache mit ihnen erstellt. Die einzelnen Einsätze würden lediglich in einen Tagesplaner eingetragen. Die Chartergesellschaft könne deshalb nicht wie bei Beschäftigten innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens über ihre Arbeitskraft frei verfügen. Die Freelancer sind auch nicht wie Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert. Sie halten sich nicht in den Betriebsräumen der Chartergesellschaft auf. Deshalb seien sie selbständig (Urteil vom 28.05.2008, B 12 KR 13/07 R).Für die betroffenen Unternehmen bedeutet eine Fehlentscheidung jedoch immer eine langwierige Auseinandersetzung mit den Versicherungsträgern vor den Sozialgerichten.
Welche Prüfverfahren gibt es?Zu unterscheiden sind zunächst zwei Bereiche: Für die Kranken-, Renten-, Pflege-, und Arbeitslosenversicherung sieht das Gesetz drei Prüfverfahren vor, die gleichbedeutend nebeneinander stehen, nämlich das Verfahren der Einzugsstellen bei den Krankenkassen, die Betriebsprüfung der Rentenversicherungsträger als Prüfstellen sowie das sog. Anfrageverfahren bei der Deutschen Rentenversicherung Bund. Sie unterscheiden sich nach der Art ihrer Einleitung und nach ihrer Auswirkung für einzelne Versicherungszweige. Im übrigen haben sie die gleiche Zielsetzung. Eine inhaltliche Rangordnung gibt es nicht. Vorrang hat allein das zuerst eingeleitete Verfahren.Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung führen dagegen zur Zeit noch eigene Prüfungen durch. Ab 1.1.2010 prüfen die Träger der Rentenversicherung für die Unfallversicherung mit. Dies erfasst Prüfzeiträume ab 1.1.2009. Das Prüfverfahren der Einzugsstellen bei den KrankenkassenDie Einzugsstelle entscheidet über die Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung (§ 28h SGB IV). Für diese Prüfungen ist kein bestimmter zeitlicher Turnus vorgeschrieben. Die Prüfung kann bei Verdachtsmomenten von Amts wegen, aber auch auf Hinweise eines anderen Versicherungsträgers und auf Antrag von Arbeitgeber oder Arbeitnehmer eingeleitet werden. Die Betriebsprüfung der RentenversicherungsträgerDie Träger der Rentenversicherung sind verpflichtet, mindestens alle vier Jahre bei den Arbeitgebern eine Betriebsprüfung bezüglich der Melde-, Beitrags- und sonstigen Pflichten im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag durchzuführen. Sie entscheiden über die Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung. Geprüft wird ferner, ob die Arbeitgeber die Meldepflichten nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz ordnungsgemäß erfüllt und die Künstlersozialabgabe rechtzeitig und vollständig entrichtet. Die Prüfung soll in kürzeren Zeitabständen erfolgen, wenn der Arbeitgeber dies verlangt (§ 28p SGB IV). Das Anfrageverfahren bei der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung BundDie Clearingstelle entscheidet auf schriftlichen Antrag der "Beteiligten" (Arbeitgeber und Arbeitnehmer bzw. Auftraggeber und Auftragnehmer) ob eine Beschäftigung vorliegt, es sei denn, die Einzugsstelle oder ein anderer Versicherungsträger hatte im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Verfahren zur Feststellung einer Beschäftigung eingeleitet. Welche Rechtsmittel gibt es?Die Entscheidungen der Versicherungsträger sind für alle Beteiligten anfechtbar. Dh. auch die betroffenen Versicherungsträger dürfen Widerspruch und Klage vor den Sozialgerichten erheben, wenn sie z.B eine Tätigkeit für beitragspflichtig halten, die die Einzugsstelle als Selbständigkeit ansieht.
Haben Rechtsmittel aufschiebende Wirkung?Grundsätzlich gilt in allen Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben. Das bedeutet, dass die angefochtene Entscheidung zunächst nicht vollzogen werden darf. Die aufschiebende Wirkung entfällt jedoch bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten. Wenn also der Betriebsprüfer Versicherungspflicht im Rahmen einer abhängigen Beschäftigung feststellt und mit dem Prüfbescheid zugleich eine Beitragsforderung macht, muss die Beitragspflicht unabhängig von der Erhebung eines Widerspruches und einer Anfechtungsklage zunächst erfüllt werden. Sollte sich später im Prozess herausstellen, dass die Forderung rechtswidrig war, werden die Beiträge erstattet.Eine Ausnahme gilt jedoch für die sog. Statusentscheidungen im Anfrageverfahren der Clearingstelle. Hier bestimmt das Gesetz ausdrücklich, dass Widerspruch und Klage gegen Entscheidungen, dass eine Beschäftigung vorliegt, haben aufschiebende Wirkung haben. Wie lässt sich die aufschiebende Wirkung vorzeitig wiederherstellen?Die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder die über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen. dies soll geschehen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Entscheidung bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.Lehnt die Behörde den Antrag ab, kann das Sozialgericht in einem Eilverfahren die aufschiebende Wirkung anordnen. 

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