BGH: Vorgetäuschte Polizeikontrollen zur Gefahrenabwehr sind grundsätzlich zulässig. Umgehung des Richtervorbehaltes.

Strafrecht
05.05.2017594 Mal gelesen
Der Bundesgerichtshof (BGH, Urt. v. 26.04.2017, AZ: 2 StR 247/16) hat entschieden, dass die Durchsuchung eines Fahrzeugs nach Betäubungsmitteln zur Gefahrenabwehr ohne vorherige richterliche Anordnung zulässig ist (sog. legendierte Polizeikontrolle).

Nach den Feststellungen des vorinstanzlichen Landgerichtes Limburg (LG Limburg, Urt. v. 01.03. 2016, AZ: 5 KLs 4 Js 12755/15) war der Angeklagte Mitbeschuldigter in einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main wegen Verdachts von Straftaten nach BtmG. Aufgrund verdeckter Ermittlungsmaßnahmen hatte die Kriminalpolizei Frankfurt am Main laut Gericht konkrete Hinweise auf einen Betäubungsmitteltransport des Angeklagten erhalten, den der zu diesem Zeitpunkt vorübergehend in Marokko befindliche Anführer der Gruppe organisiert hatte. Tatsächlich hatte der Angeklagte von einer unbekannten Person in den Niederlanden Kokain übernommen und beabsichtigte, diese zum gewinnbringenden Weiterverkauf nach Deutschland einzuführen. Als die Kriminalpolizei Frankfurt am Main über einen am Fahrzeug des Angeklagten angebrachten Peilsender feststellte, daß sich der Angeklagte nach Grenzübertritt wieder auf der Autobahn in Deutschland befand, entschloss sie sich, das Fahrzeug von der Verkehrspolizei Wiesbaden im Rahmen einer vorgetäuschten Verkehrskontrolle anzuhalten und durchsuchen zu lassen, um die mitgeführten Betäubungsmittel sicherzustellen. Dabei wurden im Inneren des Fahrzeugs knapp 8 kg Kokain aufgefunden.

Ein richterlicher Beschluss für die Durchsuchung des Fahrzeugs, der die Offenbarung der im Hintergrund geführten verdeckten Ermittlungen zwangsläufig zur Folge gehabt hätte, wurde nicht eingeholt, um den vorübergehend in Marokko weilenden Hintermann nicht zu warnen.

Das Landgericht sei zutreffend davon ausgegangen, daß die mit einer geringfügigen Geschwindigkeitsüberschreitung begründete Verkehrskontrolle und die polizeilichen Maßnahmen nach § 36, Abs. 5 StVO rechtmäßig waren und daß die bei der Durchsuchung des Fahrzeugs sichergestellten Betäubungsmittel gemäß § 161, Abs. 2, Satz 1 StPO als Beweismittel im Strafprozess gegen den Angeklagten verwertbar seien.

Der Bundesgerichtshof hat die gegen dieses Urteil eingelegte Revision mit der insbesondere ein Verstoß gegen den Richtervorbehalt aus §§ 102, 105, Abs. 1 StPO und ein daraus resultierendes Beweisverwertungsverbot geltend gemacht wurde, verworfen.

Der BGH entschied, daß die Durchsuchung des Fahrzeugs des Angeklagten auf § 37, Abs. 1, Nr. 1 und Nr. 3 HSOG i.V.m. § 36, Abs. 1, Nr. 1 HSOG bzw. § 40 Nr. 1 und 4 HSOG (Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung) gestützt werden konnte, die eine vorherige richterliche Anordnung (im Gegensatz zur Durchsuchung von Wohnungen) nicht voraussetzen.

Der Anwendung präventivpolizeilicher Ermächtigungsgrundlagen stehe nicht entgegen, daß zum Zeitpunkt der Fahrzeugdurchsuchung bereits ein Anfangsverdacht einer Straftat gegen den Angeklagten vorlag, der auch ein Vorgehen nach §§ 102, 105 StPO ermöglicht hätte. Es bestehe weder ein allgemeiner Vorrang der StPO gegenüber dem Gefahrenabwehrrecht noch umgekehrt. Bei Gemengelagen, in denen sowohl repressives als auch präventives polizeiliches Handeln in Betracht kommt, blieben strafprozessuale und gefahrenabwehrrechtliche Ermächtigungsgrundlagen grundsätzlich nebeneinander anwendbar.

Der BGH schränkt die festgestellten Grundsätze allerdings sogleich wieder ein: Gehe die Polizei nach Gefahrenabwehrrecht vor und besteht gleichzeitig der Anfangsverdacht einer Straftat, sei zur Gewährleistung eines rechtsstaatlich fairen Verfahrens vor dem Hintergrund der Leitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens allerdings sicherzustellen, daß diese zeitnah, wahrheitsgemäß und vollständig über die Hintergründe der polizeilichen Maßnahmen informiert werde.

Nur so sei gewährleistet, daß die Staatsanwaltschaft auf einer vollständigen Tatsachengrundlage über ihr weiteres strafprozessuales Vorgehen (etwa Beantragung eines Haftbefehls) und über eine mögliche Beschränkung von Akteneinsicht entscheiden kann. Im Ermittlungsverfahren obliege es allein der Staatsanwaltschaft zu entscheiden, ob und ggf. welche Erkenntnisse gegen den Beschuldigten wegen einer Gefährdung des Untersuchungszwecks zunächst zurückgehalten werden. Spätestens mit Anklageerhebung müsse der für den Anklagevorwurf maßgebliche prozessuale Sachverhalt vollständig offengelegt werden, was hier geschehen sei.

Hier heiligt der BGH offensichtlich das Mittel zum Zweck, was gegen strafprozessual normiertes Bundesrecht verstößt: Denn der Nachweis der erforderlichen Beweise wurde unter bewußter Umgehung der StPO über das Polizeirecht erlangt. Der Richtervorbehalt dient dem Schutz des Beschuldigten und wird durch die "Konstruktion" des BGH auch nachträglich nicht wieder hergestellt. Auf den Richtervorbehalt kann nur bei Gefahr im Verzug verzichtet werden. § 105 StP0 normiert: "Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) angeordnet werden." Hier wird ersichtlich die Strafverfolgung mittels der polizeilichen Gefahrenabwehr "optimiert".  Dies entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers, der in § 161, Abs. 2, S. 1 StP0 normiert: "Ist eine Maßnahme nach diesem Gesetz nur bei Verdacht bestimmter Straftaten zulässig, so dürfen die auf Grund einer entsprechenden Maßnahme nach anderen Gesetzen erlangten personenbezogenen Daten ohne Einwilligung der von der Maßnahme betroffenen Personen zu Beweiszwecken im Strafverfahren nur zur Aufklärung solcher Straftaten verwendet werden, zu deren Aufklärung eine solche Maßnahme nach diesem Gesetz hätte angeordnet werden dürfen." Die StP0 ist "dieses Gesetz". Eine "Wahlfreiheit" der Ermittlungsbehörden läßt sich aus dieser Formulierung nicht herleiten.

Es besteht auch für die Strafverteidigung keine Waffengleichheit, da diese erst mit der Anklage überhaupt vom vollständigen Sachverhalt Kenntnis erlangt. Das Recht auf Einsicht in die Ermittlungsakte ist ebenfalls tangiert. Das Schweigerecht des Beschuldigten, das Recht auf Akteneinsicht und einen Verteidiger sind die wichtigsten Instrumente der Strafverteidigung.

 

Rechtsanwalt Holger Hesterberg

Bundesweite Tätigkeit. Mitgliedschaft im Deutschen Anwaltverein.

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