Bundesverwaltungsgericht
Urt. v. 30.03.1995, Az.: BVerwG 11 B 29.95
Anforderungen an eine Wiedereinsetzung in die Klagefrist; Beachtung der Grundsatzes der Rechtstaatlichkeit und des Anspruchs auf rechtliches Gehör
Bibliographie
- Gericht
- BVerwG
- Datum
- 30.03.1995
- Aktenzeichen
- BVerwG 11 B 29.95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 13849
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VGH Baden-Württemberg - 05.12.1994 - AZ: 7 S 2109/93
Rechtsgrundlagen
Fundstelle
- NVwZ-RR 1995, 613 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Begibt sich ein Geschäftsmann, der die Zustellung eines Widerspruchsbescheides erwartet und über die damit beginnende zweiwöchige Klagefrist des § 142 I FlurbG a. F. unterrichtet ist, für zwei Wochen ins Ausland, ohne dies dem im Widerspruchsverfahren von ihm bevollmächtigten Rechtsanwalt mitzuteilen und ihn ausreichend zu instruieren oder auf andere Weise für die Nachsendung des Bescheides zu sorgen, so ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen einer dadurch verursachten Versäumung der Klagefrist nicht zu gewähren.
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 11. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. März 1995
durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Diefenbach und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost und Kipp
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 5. Dezember 1994 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10.000 DM festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet. Der Beschwerdevortrag rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht.
1.
Die Voraussetzungen einer Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen entscheidungserheblicher Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts oder des Bundesverfassungsgerichts sind nicht erfüllt. Eine Abweichung im Sinne dieser Vorschrift liegt nur dann vor, wenn sich das Flurbereinigungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat; die Beschwerdebegründung muß darlegen, daß und inwiefern dies der Fall ist (ständige Rechtsprechung; vgl. z.B. BVerwG, Beschlüsse vom 21. Juli 1988 - BVerwG 1 B 44.88 - <Buchholz 130 § 8 RuStAG Nr. 32> undvom 12. Dezember 1991 - BVerwG 5 B 68.91 - <Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 302>). Daran fehlt es hier.
Die Beschwerde sieht eine Abweichung von den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichtsvom 9. Juni 1989 - BVerwG 6 C 49.87 - (Buchholz 316 § 32 VwVfG Nr. 3) sowie des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juni 1975 - 2 BvR 99/74 - (BVerfGE 40, 42 ff.) undvom 11. Februar 1976 - 2 BvR 849/75 - (BVerfGE 41, 332 ff.) darin, daß das Flurbereinigungsgericht die Versäumung der Klagefrist des § 142 Abs. 1 FlurbG a.F. dann als schuldhaft im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO angesehen habe, wenn ein Teilnehmer am Flurbereinigungsverfahren in Erwartung der alsbaldigen Zustellung eines Widerspruchsbescheides für zwei Wochen wegfahre, ohne entweder dafür zu sorgen, daß ihm ein in dieser Zeit eingehender Widerspruchsbescheid umgehend nachgesandt wird, oder einen im Widerspruchsverfahren bevollmächtigten Rechtsanwalt ausdrücklich zu ermächtigen, von sich aus fristwahrend Klage zu erheben. Abgesehen davon, daß sich dieser Rechtssatz dem angefochtenen Urteil so nicht entnehmen läßt, wird damit eine Abweichung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO schon deshalb nicht dargelegt, weil die Rechtssätze, die die Beschwerde aus den genannten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts anführt, nicht in Anwendung des § 60 Abs. 1 VwGO, sondern anderer Rechtsvorschriften, nämlich des § 32 Abs. 1 VwVfG und des § 44 StPO, aufgestellt wurden.
2.
Entgegen der Annahme der Beschwerde hat die Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Dies wäre nur der Fall, wenn für die Entscheidung des Flurbereinigungsgerichts eine grundsätzliche, bisher höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage von Bedeutung war, die auch für die Entscheidung im Revisionsverfahren erheblich wäre und deren höchstrichterliche Klärung zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint (vgl. BVerwGE 13, 90 <91 f.>). Auch daran fehlt es hier.
Die Beschwerde wirft insoweit die Frage auf, ob von einem Bürger, der die Zustellung eines Bescheides erwartet und sich dennoch für zwei bzw. wenige Wochen ins Ausland begibt, für die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangt werden kann, daß er für die Dauer seiner Abwesenheit entweder für die Nachsendung des Bescheides ins Ausland oder vorab durch die Beauftragung eines Bevollmächtigten für fristgerechte Rechtsmitteleinlegung ohne Kenntnis des Bescheides Sorge trägt. Diese Frage war für die Entscheidung des Flurbereinigungsgerichts so nicht von Bedeutung. Denn nach den darin getroffenen Feststellungen hatte im Widerspruchsverfahren der Vertreter der Kläger zu 1-3 bereits einen Rechtsanwalt als Verfahrensbevollmächtigten bestellt, diesem jedoch seine durch eine zweiwöchige Geschäftsreise veranlaßte Abwesenheit nicht mitgeteilt. Unter diesen besonderen Umständen hat das Flurbereinigungsgericht es dem Vertreter der Kläger zu 1-3 als ein die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließendes Verschulden an der Versäumung der zweiwöchigen Klagefrist zugerechnet, daß er trotz des zu erwartenden Widerspruchsbescheides für zwei Wochen ins Ausland fuhr, ohne entweder für die umgehende Nachsendung eines in dieser Zeit bei ihm eingehenden Widerspruchsbescheides zu sorgen oder dem bevollmächtigten Rechtsanwalt seine Abwesenheit mitzuteilen und ihm die Möglichkeit zu lassen, bei nicht rechtzeitiger ausdrücklicher Ermächtigung von sich aus fristwahrend Klage zu erheben. Daß dies im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 und des Art. 103 Abs. 1 GG steht, bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren.
Zwar dürfen bei Anwendung und Auslegung der die Wiedereinsetzung regelnden Vorschriften im Hinblick auf den durch Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsschutz und den in Art. 103 Abs. 1 GG enthaltenen Grundsatz des rechtlichen Gehörs die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung nicht überspannt werden. Eine solche Überspannung läge dann vor, wenn der Zugang zum Gericht in unzumutbarer, sachlich nicht gerechtfertigter Weise erschwert würde (vgl. BVerfGE 41, 332 <334>[BVerfG 11.02.1976 - 2 BvR 849/75]). Das ist jedoch nicht der Fall, wenn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts von demjenigen, der ein Verwaltungsverfahren betreibt, für die Gewährung der Wiedereinsetzung verlangt wird, die Sorgfalt walten zu lassen, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Beteiligten geboten und ihm nach den Umständen zumutbar ist. Das Maß an Achtsamkeit und Vorsorge, das die Einhaltung der der Rechtssicherheit dienenden Frist. orschriften erfordert, bestimmt sich dabei nach den Umständen des einzelnen Falles (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. April 1975 - BVerwG 6 C 231.73 - <Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 83>, vom 1. September 1988 - BVerwG 6 C 56.87 - <Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 54> undvom 9. Juni 1989 - BVerwG 6 C 49.87 - <Buchholz 316 § 32 VwVfG Nr. 3> sowieBeschluß vom 18. August 1987 - BVerwG 6 B 69.86 - <Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 152>).
Für die Fristversäumung im Bereich des Strafbefehls- und Bußgeldverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt ausgesprochen, wer eine ständige Wohnung habe und diese nur vorübergehend - z.B. während eines Urlaubs - nicht benutze, brauche für die Zeit seiner Abwesenheit grundsätzlich keine "besonderen" Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen (BVerfGE 25, 158 <166>[BVerfG 21.01.1969 - 2 BvR 724/67]; 26, 315 <319>[BVerfG 09.07.1969 - 2 BvR 753/68]; 34, 154 <156>; 35, 296 <298>; 37, 100 <102>[BVerfG 02.04.1974 - 2 BvR 784/73]; 40, 88 <91>; 182 <186>[BVerfG 29.01.1969 - 1 BvR 26/66]; 41, 332 <335>[BVerfG 11.02.1976 - 2 BvR 691/75]; BVerfG, Beschluß vom 6. Oktober 1992 - 2 BvR 805/91 - <NJW 1993, S. 847>). Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht aber betont, daß nicht mit Wiedereinsetzung rechnen könne, wem ein anderes Verschulden zur Last falle, etwa die Vernachlässigung der Abholung eines bei der Post niedergelegten Schriftstücks. Denn Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG schützten nicht denjenigen, der der Wahrnehmung seiner Rechte mit vermeidbarer Gleichgültigkeit gegenüberstehe. Auch bei Übertragung dieser Grundsätze auf das flurbereinigungsrechtliche Widerspruchsverfahren ist das angefochtene Urteil insoweit nicht zu beanstanden. Denn nachdem - wie das Flurbereinigungsgericht festgestellt hat - bereits ein Rechtsanwalt als Verfahrensbevollmächtigter bestellt war und mit der alsbaldigen Zustellung des Widerspruchsbescheides zu rechnen war, hätte sich dem Vertreter der Kläger zu 1-3, der eine Managementberatung für Unternehmensführung betrieb und dem die nur zweiwöchige Klagefrist zumindest aus der Widerspruchsbegründung seines Rechtsanwalts bekannt sein mußte, schon bei Anwendung der in eigenen Angelegenheiten mindestens zu beachtenden Sorgfalt die Notwendigkeit aufdrängen müssen, dem Verfahrensbevollmächtigten Mitteilung von seinen Reiseplänen zu machen und ihn ausreichend zu instruieren. Dabei wäre es nach dem eigenen Vorbringen der Kläger zu 1-3 sogar ohne weiteres möglich gewesen, ihren Vertreter über sein werktags von 8-17 Uhr durchgehend besetztes sowie mit Telefaxanschluß und Anrufbeantworter ausgerüstetes Büro während seiner Geschäftsreise täglich telefonisch zu erreichen und ihm den Widerspruchsbescheid per Telefax zu übermitteln. Gründe, die diese naheliegende Vorsorge als unzumutbar oder sachlich nicht gerechtfertigt erscheinen lassen könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 i.V.m. § 159 Satz 2 VwGO [...].
Streitwertbeschluss:
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10.000 DM festgesetzt.
[D]ie Streitwertfestsetzung [beruht] auf § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Dr. Storost
Kipp