Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit - Berufskraftfahrer - Facharbeiterschutz - Mehrstufenschema

Soziales und Sozialversicherung
01.09.20132922 Mal gelesen
Das LSG Nds.-Bremen hat entschieden, dass Berufskraftfahrer grundsätzlich auch dann Berufsschutz als Facharbeiter genießen, wenn sie die Ausbildung bereits vor Inkrafttreten der Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung (BKV) abgeschlossen, diesen Beruf danach aber noch mehrjährig ausgeübt haben.

Der Rentenversicherungsträger wurde verpflichtet, dem 1956 geborenen Kläger eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Entscheidungsgründe (in Auszügen):

Der Kläger hatte zunächst in den siebziger Jahren eine Ausbildung zum Verkäufer abgeschlossen und anschließend eine weitere Ausbildung zum Koch absolviert. Dann verpflichtete er sich für zwei Jahre als Soldat auf Zeit. Später war er bis April 1994 zeitweilig als Restaurantleiter bzw. stellvertretender Leiter eines (Schnell-)Restaurants und zeitweise als Filialleiter einer Einzelhandelskette beruflich tätig. Nach etwa einjähriger Arbeitslosigkeit wurde er zum Berufskraftfahrer in der Fachrichtung Personenverkehr umgeschult. Die IHK-Prüfung legte er im Dezember 1996 ab. Anschließend war er bis Herbst 2005 als Busfahrer beruflich tätig und wurde dann arbeitsunfähig.

Im August 2006 stellte er einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente. Diesen lehnt der Versicherungsträger nach Einholung eines chirurgischen Gutachtens mit der Begründung ab, seine letzte Tätigkeit sei als angelernte Tätigkeit anzusehen. Der Kläger könne noch auf Tätigkeiten als Pförtner oder im Bereich der Wach- und Sicherheitsunternehmen verwiesen werden. Das Sozialgericht wies die Klage ab, das Landessozialgericht gab ihr teilweise statt und stellte fest, dass der Kläger berufsunfähig sei.

Auch wenn nicht die nach aktuellem Recht vorgeschriebene dreijährige Ausbildung als Berufskraftfahrer absolviert habe, genieße er den Facharbeiterstatus. Berufsunfähig sind nach § 240 Abs. 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Ausgangspunkt ist bei der Prüfung dieser Anspruchsvoraussetzungen der bisherige Beruf des Versicherten. Darunter ist im allgemeinen diejenige der Versicherungspflicht unterliegende Tätigkeit zu verstehen, die zuletzt auf Dauer, d.h. mit dem Ziel verrichtet wurde, sie bis zum Eintritt der gesundheitlichen Unfähigkeit oder bis zum Erreichen der Altersgrenze auszuüben. In der Regel ist das die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, jedenfalls wenn sie die qualitativ höchste ist. (vgl. dazu und zum Folgenden: BSG, U.v. 9. Oktober 2007 - B 5b/8 KN 3/07 R - mwN). Eine frühere Tätigkeit kann insbesondere dann weiterhin maßgebend sein, wenn sie krankheitsbedingt aufgegeben wurde.

Auch wenn ein Versicherter seine bisherige Tätigkeit nicht mehr ausüben kann, ist er allein deshalb noch nicht berufsunfähig. Vielmehr ist dies erst dann der Fall, wenn es keine andere Tätigkeit gibt, die ihm sozial zuzumuten ist und die er sowohl gesundheitlich als auch fachlich zu bewältigen vermag.

Die soziale Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit richtet sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hat die Berufe der Versicherten nach ihrer Wertigkeit in Gruppen eingeteilt und, ausgehend von der Bedeutung, welche die Ausbildung für die Qualität eines Berufes hat, Leitberufen zugeordnet. Diese sind gekennzeichnet durch den Beruf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw. des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters.

Dieses Mehrstufenschema erleichtert die Beurteilung der Zumutbarkeit von Tätigkeiten, auf die ein gesundheitlich eingeschränkter Versicherter noch verwiesen werden kann. Zumutbar sind danach alle Tätigkeiten auf derselben qualitativen oder der nächstniedrigeren Stufe. Dabei darf grundsätzlich keine Verweisung auf Tätigkeiten erfolgen, die eine Ausbildung oder betriebliche Einweisung und Einarbeitung von mehr als drei Monaten erfordern, solange diese Einweisung und Einarbeitung noch nicht abgeschlossen ist. Ausschlaggebend für die Einordnung eines bestimmten Berufs in dieses Mehrstufenschema ist allerdings nicht allein die Dauer der absolvierten förmlichen Berufsausbildung; zu berücksichtigen ist vielmehr die Qualität der verrichteten Arbeit insgesamt, d.h. das aus einer Mehrzahl von Faktoren ermittelte "Gesamtbild" der Arbeit und seines Werts für den Betrieb auf der Grundlage der in § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI a.F. am Ende genannten Merkmale der Dauer und des Umfangs der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit. Außerdem kann eine Tätigkeit einer gelernten oder angelernten gleichstehen, weil die Tarifvertragsparteien ihr einen besonderen qualitativen Wert beimessen, obwohl sich eine entsprechende Einstufung nicht bereits aus der durchlaufenen Ausbildung ergibt und auch nicht festgestellt werden kann, dass die Tätigkeit theoretische Kenntnisse und praktische Fertigkeiten in einem entsprechenden Umfang voraussetzt.

Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Wertigkeit des bisherigen Berufes ist die Beendigung der versicherungspflichtigen Beschäftigung bzw. der davor liegende Eintritt des Versicherungsfalles.

Ob ungeachtet dauerhafter gesundheitlicher Beeinträchtigungen noch von der Einsetzbarkeit eines individuellen Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in bestimmten Berufsfeldern ausgegangen werden kann, beurteilt sich anhand einer Vielzahl in Betracht kommender Kriterien nach dem Gesamtbild der Verhältnisse durch einen wertenden Ähnlichkeitsvergleich. Eine solche Würdigung des Einzelfalls nach dem Gesamtbild der Verhältnisse vollzieht sich auf tatsächlichem Gebiet und obliegt im Wesentlichen dem Tatrichter; seine Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse ist revisionsrechtlich nur begrenzt überprüfbar. Bei derartigen richterlichen Wertungsakten gibt es keine logisch ableitbare einzig richtige Entscheidung, sondern einen Bereich, der sich letztlich der logischen Nachprüfbarkeit entzieht. Die Notwendigkeit einer typisierenden Wertung mit der sich daraus ergebenden Notwendigkeit einer typisierenden Betrachtung ergibt sich auch vor dem Hintergrund, dass die Mannigfaltigkeit des Wirtschaftslebens im Bundesgebiet in einem sozialgerichtlichen Verfahren nicht umfassend aufgeklärt werden kann. Erfahrungen der Gerichte machen deutlich, dass die fachlichen und gesundheitlichen Anforderungen an Berufstätige je nach Betrieb und dessen organisatorische und fachliche Ausrichtung vielfach auch dann erheblich variieren, wenn dieselbe Bezeichnung für eine berufliche Tätigkeit verwandt wird.

Im vorliegenden Fall hat der Kläger die Ausbildung zum Berufskraftfahrer erfolgreich abgeschlossen und diesen Beruf bis zum Eintritt der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit Im Herbst 2005 langjährig ausgeübt. Seit dem In-Kraft-Treten der Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung (BKV) vom 19. April 2001 (BGBl. I S. 642) und damit bereits mehrere Jahre vor dem Ausscheiden des Klägers aus dem Beruf, ist die Ausbildungsdauer für Berufskraftfahrer auf nunmehr 3 Jahre festgelegt worden.

Auch wenn der Kläger die Ausbildung zum Berufskraftfahrer noch vor Inkrafttreten der BKV mit der damals noch kürzeren (im Rahmen der herkömmlichen Ausbildung für Berufsanfänger zweijährigen) Dauer abgeschlossen hatte, so vermittelte diese ihm jedoch in Verbindung mit der nachfolgenden knapp zehnjährigen praktischen Ausübung dieser Tätigkeit ein der heute dreijährigen Ausbildung entsprechendes Qualifikationsniveau. Da die mit der Verlängerung der Ausbildungsdauer vom Verordnungsgeber zum Ausdruck gebrachte höhere Wertigkeit der Tätigkeit eines Berufskraftfahrers bereits (mehrere Jahre) vor Eintritt des Leistungsfalls zu verzeichnen war, ist sie auch im vorliegenden Fall zugunsten des Klägers (.....) zu berücksichtigen.

(wird ausgeführt ...)

Bei der Prüfung der "Wettbewerbsfähigkeit" kann deshalb selbst von einem Facharbeiten ausführenden Versicherten ohne oder mit nur teilweiser Ausbildung nicht mehr an theoretischen Kenntnissen verlangt werden, als von einem langjährig tätigen gelernten Versicherten in seiner Berufsgruppe im allgemeinen erwartet wird. Erst recht kann einem Versicherten mit förmlicher Ausbildung deren rechtliche Relevanz für den Facharbeiterstatus nicht allein im Hinblick darauf aberkannt werden, dass ihm ggfs. einzelne Teilpunkte des im aktuellen Ausbildungsgang vermittelten theoretischen Wissens nicht präsent sein mögen, zumal auch unabhängig von einer wie im vorliegenden Zusammenhang erfolgten Verlängerung der Ausbildungsdauer der konkrete Ausbildungsinhalt regelmäßig den aktuellen Erfordernissen und insbesondere auch wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen angepasst zu werden pflegt.

Im vorliegenden Zusammenhang ist jedenfalls nichts dafür ersichtlich, dass die theoretischen Kenntnisse des Klägers hinter den Kenntnissen zurückgeblieben sein könnten, wie sie bei einem langjährig tätigen gelernten Versicherten in der Gruppe der Berufskraftfahrer im Personenverkehr üblicherweise zu erwarten sind.

Dementsprechend ist die vom Kläger zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit der Ebene der Facharbeiter zuzuordnen. Dies hat zur Folge, dass er bezogen auf einen Rentenanspruch nach § 240 SGB VI nur auf Tätigkeiten im gelernten oder angelernten Bereich verwiesen werden kann, da eine weitere Ausübung der Tätigkeit eines Berufskraftfahrers ihm seit Eintritt der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit im Herbst 2005 gesundheitlich nicht mehr zumutbar ist, wobei diesbezüglich auch keine gesundheitliche Besserung mehr in Betracht zu ziehen ist.

Eine Verweisung auf angelernte Tätigkeiten kommt im Ausgangspunkt nur in Betracht, wenn diese im Regelfall eine Einarbeitungszeit von mehr als drei Monaten erfordern (da es sich anderenfalls um eine ungelernte Tätigkeit handeln würde), der Kläger aber aufgrund objektivierbarer (im Zeitpunkt des Leistungsfalls noch vorhandener) berufsspezifischer Vorkenntnisse nur eine Einarbeitungszeit von nicht mehr als drei Monaten benötigen würde.

Entsprechende Verweisungstätigkeiten sind weder von der Beklagten substantiiert aufgezeigt worden noch sind solche anderweitig für den Senat erkennbar.

(wird ausgeführt.....)

Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung stehe dem Kläger - so das LSG - dagegen nicht zu, weil er für körperlich leichte Tätigkeiten in geschlossenen Räumen unter Vermeidung von Zwangshaltungen in wechselnder Körperhaltung leistungsfähig sei.

LSG Nds.-Bremen- U.v. 17.04.2013 - L 2 R 557/12

 

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