Können Grundstückseigentümer von einer Gemeinde verlangen, dass diese ein Baugebiet erschließt?

Bauverordnung Immobilien
02.05.201019948 Mal gelesen
Im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans im Sinne des § 30 Abs. 1 BauGB ist ein Bauvorhaben nur zulässig, wenn das Vorhaben den Festsetzungen des Bebauungsplans entspricht und die Erschließung gesichert ist. Zur Erschließung gehören alle Maßnahmen, die erforderlich sind, um ein Grundstück baureif zu machen. Dies verlangt neben dem Anschluss an das öffentliche Wegenetz die Anbindung an die Versorgung mit Wasser und Energie sowie eine Entsorgung des Abwassers. Sofern eine Kommune jedoch entweder nicht willens oder aber - möglicherweise aus wirtschaftlichen Gründen - nicht in der Lage ist, das Baugebiet zu erschließen, besteht mangels einer "gesicherten Erschließung" kein Bauanspruch der Grundstückseigentümer. In dieser Situation stellt sich für die betroffenen Eigentümer die Frage, ob sie von der Gemeinde verlangen können, dass diese das Baugebiet erschließt, um so eine Bebaubarkeit der Grundstücke zu erreichen.
 
I. Gesetzliche Ausgangslage: Gemeinde als Träger der Erschließungslast
 
Nach § 123 Abs. 1 BauGB ist die Erschließung eine Aufgabe der Gemeinde, soweit sie nicht nach anderen gesetzlichen Vorschriften oder öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen einem anderen obliegt. Die Erschließung ist danach grundsätzlich eine in das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde (Art. 28 Abs. 2 GG) fallende kommunale Aufgabe. Die Gemeinde als Adressat der Erschließungslast entscheidet demgemäß prinzipiell über das "Ob" sowie über Art und Umfang der Erschließung. Der Erschließungslast der Gemeinde steht deshalb auch grundsätzlich kein einklagbarer Rechtsanspruch eines einzelnen oder mehrerer Bauwilliger gegenüber. In diesem Sinne regelt die Bestimmung des § 123 Abs. 3 BauGB, dass ein Rechtsanspruch auf Erschließung nicht besteht. Der Einzelne soll die Gemeinde nicht zwingen können, die Erschließung durchzuführen. Selbst wenn eine Erschließungsanlage im Bebauungsplan vorgesehen ist, können Eigentümer im Plangebiet nicht ohne Weiteres die Anlegung dieser Anlage von der Gemeinde verlangen.
 
II. Verdichtung der Erschließungsaufgabe zu einer Erschließungspflicht
 
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann sich die den Gemeinden nach § 123 Abs. 1 BauGB obliegende Erschließungsaufgabe unter bestimmten Voraussetzungen jedoch ausnahmsweise zu einer vom Bürger einklagbaren Pflicht zur Durchführung einer - in erster Linie wegemäßigen - Erschließung verdichten. Angesichts der verfassungsrechtlich garantierten Planungs-, Erschließungs- und Finanzierungshoheit der Gemeinde (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG) bedarf diese Ausnahme allerdings einer Rechtfertigung, die sich auf ein Verhalten der Gemeinde gründet. Alle Fallgestaltungen der Verdichtung des Erschließungsermessens lassen sich letztlich auf den auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz der Wahrung des Gebots von Treu und Glauben (§ 242 BGB) zurückführen, wobei insbesondere dem aus diesem Grundsatz folgenden Verbot widersprüchlichen Verhaltens entscheidende Bedeutung zukommt. Ein widersprüchliches Verhalten in diesem Sinne kann beispielsweise gegeben sein, wenn eine Gemeinde ein zumutbares Erschließungsangebot eines Grundstückseigentümers bzw. Investors ablehnt, der sich bereit erklärt, die Erschließung selbst vorzunehmen.
 
1. Erschließungspflicht im Falle der Ablehnung eines zumutbaren Erschließungsangebots
 
Hat eine Gemeinde einen Bebauungsplan im Sinne des § 30 Abs. 1 BauGB erlassen und lehnt sie das zumutbare Angebot eines Dritten ab, die im Bebauungsplan vorgesehene Erschließung vorzunehmen, ist sie nach § 124 Abs. 3 S. 2 BauGB verpflichtet, die Erschließung selbst durchzuführen. Nach dieser Regelung kann eine Gemeinde, die selbst zur Erschließung außerstande ist, ein "zumutbares" Erschließungsangebot des Betroffenen nicht ablehnen, ohne dadurch selbst erschließungspflichtig zu werden. Diese Erkenntnis leitet über zu der Frage, unter welchen Voraussetzung ein Angebot als "zumutbar" im Sinne des § 124 Abs. 3 S. 2 BauGB anzusehen ist, mit der Folge, dass sich im Falle der Nichtannahme eines solchen Angebots die allgemeine Erschließungsaufgabe der Gemeinde zu einer strikten Erschließungspflicht verdichtet.
 
2. Zumutbarkeit des Erschließungsangebots
 
Die Zumutbarkeit eines Erschließungsangebots im Sinne des § 124 Abs. 3 S. 2 BauGB hängt immer von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. In diesem Zusammenhang kommt beispielsweise zum Tragen, ob der Bauwillige von seiner Unternehmensstruktur und den personellen wie sachlichen Kapazitäten die Gewähr dafür bietet, dass er die Erschließung sach- und plangemäß durchführt.
 
Außerdem darf das Erschließungsangebot nicht auf eine mangelhafte bzw. unzureichende Erschließung gerichtet sein. Wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, braucht eine Gemeinde einen Erschließungsvertrag nicht anzunehmen, weil sie auch dann, wenn ein Dritter die Erschließung übernommen hat, latent erschließungspflichtig bleibt und die Erschließungsaufgaben fertig stellen muss, falls der Dritte - aus welchen Gründen auch immer - die Erschließung einstellt.
 
Weiterhin ist die Zumutbarkeit des Angebots im Sinne des § 124 Abs. 3 S. 2 BauGB unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu hinterfragen. Zumutbar ist in der Regel das Angebot eines Dritten, in dem dieser sich zur Übernahme der gesamten Erschließungskosten verpflichtet.
 
Schließlich ist die Zumutbarkeit eines Erschließungsangebots von der inhaltlichen Ausgestaltung des Vertrages abhängig, insbesondere im Hinblick auf die Regelungen betreffend die Leistungsbeschreibung, die Sicherheitsleistungen, die Ausführungs- und Durchführungsbedingungen, die gemeindlichen Mitwirkungsbefugnisse, die Haftung, die Verkehrssicherung, die Gewährleistung, die Abnahme und die Übergabe der Erschließungsanlage sowie die Regelung betreffend den Straßenlanderwerb durch die Gemeinde.
 
III. Zusammenfassung
 
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Erschließung grundsätzlich eine Aufgabe der Gemeinde ist. Die Gemeinde als Adressat der Erschließungslast entscheidet demgemäß prinzipiell über das "Ob" sowie über Art und Umfang der Erschließung. Beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen kann sich die den Gemeinden obliegende Erschließungsaufgabe jedoch ausnahmsweise zu einer einklagbaren Pflicht zur Durchführung in erster Linie der wegemäßigen Erschließung betreffender Maßnahmen verdichten. Eine solche Erschließungspflicht besteht beispielsweise dann, wenn die Gemeinde das zumutbare Angebot eines Dritten ablehnt, der bereit ist, die in einem qualifizierten Bebauungsplan vorgesehene Erschließung selbst vorzunehmen.
 
Rechtsanwalt Dr. Hanns-Christian Fricke
Kanzlei Dr. Fricke & Collegen
Hannover