Bundesgerichtshof
Urt. v. 04.10.1983, Az.: VI ZR 98/82
Deliktsrechtliche Ansprüche nach einem Sturz auf einem eisglatten Bürgersteig; Beweislast des Geschädigten hinsichtlich der Ursächlichkeit für seinen Unfall; Anscheinsbeweis bei Glatteisunfällen; Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Sachverständigen
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 04.10.1983
- Aktenzeichen
- VI ZR 98/82
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1983, 12186
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OLG Koblenz - 02.03.1982
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- JZ 1984, 100-101
- MDR 1984, 219-220 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1984, 432-434 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Zur Beweislast bei einem Glatteisunfall, der sich längere Zeit nach dem Ende der Streupflicht ereignet hat.
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
auf die mündliche Verhandlung vom 4. Oktober 1983
durch
den Vorsitzenden Richter Dr. Hiddemann und
die Richter Dr. Steffen, Dr. Ankermann, Dr. Lepa und Bischoff
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 2. März 1982 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Revision fallen der Klägerin zur Last.
Tatbestand
Die Klägerin stürzte am Abend des 17. Februar 1979 auf dem Bürgersteig vor dem Betriebsgrundstück des Beklagten in der F.-E.-Straße in W., und zwar im Bereich einer leicht abschüssigen, mit Kopfsteinpflaster versehenen Hofausfahrt. Am späten Nachmittag des Unfalltages war ein leichter Sprühregen gefallen, der auf dem unterkühlten Boden zur Bildung von Glatteis geführt hatte.
Durch Straßenreinigungssatzung der Stadt W. vom 3. November 1972 ist die Verpflichtung, die Bürgersteige bei Glätte mit abstumpfendem Material zu bestreuen, auf die Straßenanlieger übertragen. Sie erstreckt sich auf die Zeit von 7.00 bis 20.00 Uhr.
Mit der Behauptung, der Unfall, durch den sie erheblich verletzt worden sei, habe sich vor 20.00 Uhr zugetragen, hat die Klägerin den Beklagten wegen Verletzung der Streupflicht in Anspruch genommen und mit der Klage um Feststellung gebeten, daß der Beklagte verpflichtet sei, ihr alle durch den Unfall entstandenen und noch entstehenden Schäden zu ersetzen sowie ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen.
Das Landgericht hat den Feststellungsanträgen zu 2/3 stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihre Feststellungsansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht sieht als erwiesen an, daß der vom Beklagten mit dem Streuen beauftragte Zeuge P. am Unfalltage nicht gestreut hatte und die Hofausfahrt zur Unfallzeit mit Glatteis überzogen war, das zu dem Sturz der Klägerin führte. Es stellt jedoch fest, daß sich der Unfall erst lange nach 20.00 Uhr, wahrscheinlich gegen 21.00 Uhr, ereignet habe. Bei dieser Sachlage verneint das Berufungsgericht eine Haftung des Beklagten und führt dazu aus, die Klägerin habe den Beweis für die Ursächlichkeit der Verletzung der Streupflicht für ihren Sturz nicht erbracht. Das Gutachten des Wetteramtes T. ergebe nicht nur, daß es am Unfalltage zwischen 16.00 und 20.00 Uhr zu schnell gefrierendem Sprühregen mit Glatteisbildung gekommen sei, sondern es schließe aufgrund der Wetterlage auch nicht aus, daß zwischen 20.00 und 21.00 Uhr zeitweise Sprühregen gefallen sei, der zu Glatteisbildung geführt habe. Da die benachbarte Wetterstation M. das Ende des Niederschlages mit 20.45 Uhr angegeben habe und nach der Meinung des Zeugen H. im Zeitpunkt des Unfalls noch Niederschläge gefallen seien, bestehe die nicht fern liegende Möglichkeit, daß sich auch bei ordnungsgemäßem Streuen vor 20.00 Uhr im Zeitpunkt des Unfalls Glatteis gebildet hätte. Wenn es aber in der Zeit nach dem Ende der Streupflicht noch zu glatteisbildenden Niederschlägen gekommen sei, könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit davon ausgegangen werden, daß die Wirkung ordnungsgemäßen Streuens auf der Hofausfahrt bis zum Unfallzeitpunkt angehalten hätte.
II.
Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision stand.
1.
Die Verfahrensrügen, mit denen die Klägerin sich gegen die Feststellung des Unfallzeitpunktes wendet, greifen nicht durch. Das Berufungsgericht hat die Überzeugung, daß der Unfall sich erst gegen 21.00 Uhr ereignet habe, in eingehender Würdigung des Parteivorbringens und des Ergebnisses der Beweisaufnahme gewonnen und dabei weder wesentlichen Prozeßstoff unbeachtet gelassen noch gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen.
2.
Entgegen den Angriffen der Revision hat das Berufungsgericht bei der Beantwortung der Frage, ob ein ordnungsgemäßes Streuen bis 20.00 Uhr den Sturz der Klägerin gegen 21.00 Uhr verhindert hätte, verfahrensfehlerfrei von der Zuziehung eines Sachverständigen abgesehen. Es hat sich insoweit kein Fachwissen zugetraut, welches es ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht haben konnte; denn es hat nicht etwa festgestellt, daß ein vor 20.00 Uhr erfolgtes Streuen um 21.00 Uhr wirkungslos gewesen wäre, sondern lediglich ausgeführt, daß die Klägerin das Gegenteil nicht bewiesen habe. Dabei hat das Berufungsgericht auch nicht gegen die Pflicht zur Ausschöpfung der Beweismittel verstoßen. Die Klägerin hat im Berufungsrechtszug weder behauptet, noch durch den Antrag auf Hinzuziehung eines Sachverständigen unter Beweis gestellt, daß die Wirkung eines vor 20.00 Uhr durchgeführten Streuens im Bereich der Hofausfahrt des Beklagten bis 21.00 Uhr angehalten hätte. Sie hat vielmehr noch im zweiten Rechtszug vorgetragen, daß der Unfall sich "mit Sicherheit vor 20.00 Uhr" ereignet habe. Daß das Berufungsgericht bei dieser Sachlage davon abgesehen hat, nach § 144 Abs. 1 ZPO von Amts wegen ein Sachverständigengutachten einzuholen, kann von der Revision nicht mit Erfolg gerügt werden (vgl. BGHZ 5, 302, 307; 66, 62, 68).
3.
Das Berufungsgericht hat schließlich auch die Beweislast nicht verkannt. Es hat rechtsfehlerfrei ausgeführt, daß der Klägerin der Beweis der Ursächlichkeit des Verstoßes des Beklagten gegen die Streupflicht für ihren Sturz obliegt.
a)
Nach dem rechtlich zutreffenden Ausgangspunkt des Landgerichts und des Berufungsgerichts hat der Beklagte gegen § 3 Abs. 2 a und b der Straßenreinigungssatzung der Stadt W. vom 3. November 1972 und damit gegen ein Schutzgesetz i.S. des § 823 Abs. 2 BGB verstoßen. Er muß sich zurechnen lassen, daß der von ihm beauftragte Zeuge P. es unterlassen hat, am 17. Februar 1979 bis 20.00 Uhr die Hofausfahrt auf dem Bürgersteig vor seinem Betriebsgrundstück mit abstumpfendem Material zu bestreuen.
b)
Wenn ein Schadensersatzanspruch auf § 823 Abs. 2 BGB gestützt wird, so gelten dieselben Beweisgrundsätze wie im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB. Auch in diesem Fall hat also regelmäßig derjenige, der durch den Verstoß gegen ein Schutzgesetz verletzt zu sein behauptet, zu beweisen, daß zwischen dem Verstoß und dem bei ihm eingetretenen Schadensereignis ein ursächlicher Zusammenhang besteht; nicht etwa hat der Zuwiderhandelnde den Beweis dafür zu erbringen, daß es an einem solchen Zusammenhang fehlt. Das steht in der Rechtsprechung fest (vgl. Senatsurteile vom 28. Mai 1957 - VI ZR 272/56 - VersR 1957, 529, 530 f; vom 27. Januar 1959 - VI ZR 30/58 - LM § 823 (J) BGB Nr. 11; vom 26. November 1963 - VI ZR 245/62 - VersR 1964, 166, 167 und vom 24. September 1968 - VI ZR 160/67 - VersR 1968, 1144).
aa)
Der Bundesgerichtshof hat zwar in engen Grenzen für bestimmte Sachverhaltsgestaltungen eine Umkehr der Beweislast für die Ursächlichkeit angenommen, wenn und soweit Wesen und Inhalt der materiellen Schutznorm und der in ihr enthaltenen Verhaltensanweisung es gebieten, dem Schädiger aufgrund der von ihm geschaffenen unklaren Beweislage die Sachverhaltsaufklärung und ihre Risiken aufzuerlegen. So können bei groben Behandlungsfehlern von Ärzten oder ihnen vergleichbaren Berufsgruppen Beweiserleichterungen bis zur Beweislastumkehr in Betracht kommen (vgl. BGHZ 61, 118, 120 f; Senatsurteile vom 14. Juli 1981 - VI ZR 35/79 - VersR 1981, 1033, 1034 und vom 21. September 1982 - VI ZR 302/80 - NJW 1983, 333, 334). Aus dieser Rechtsprechung läßt sich aber für den vorliegenden Fall nichts herleiten; denn die Besonderheiten, die den Bundesgerichtshof bewogen haben, in den dargelegten Grenzen von der normalen Beweislastverteilung abzusehen, sind hier nicht gegeben. Eine allgemeine Regel, daß das Risiko des nicht voll aufklärbaren Sachverhalts stets dem zur Last fallen solle, der es durch sein pflichtwidriges Verhalten geschaffen habe, läßt sich nicht aufstellen (vgl. BGHZ 61, 118, 121 f).
bb)
Dem Geschädigten kann daher bei einem Verstoß gegen die Streupflicht nicht die Beweislast für die Ursächlichkeit des Nichtstreuens für seinen Unfall abgenommen, sondern es kann ihm lediglich unter bestimmten Voraussetzungen eine Beweiserleichterung in Form des Anscheinsbeweises zugebilligt werden. Ob ein solcher Beweis des ersten Anscheins für die Klägerin spricht, hat das Berufungsgericht nicht dargelegt. Dies zwingt jedoch nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Die Frage, ob ein Anscheinsbeweis eingreift, unterliegt der Prüfung durch das Revisionsgericht (vgl. Senatsurteil vom 28. Mai 1957 - VI ZR 272/56 - VersR 1957, 529, 531). Diese ergibt, daß die Voraussetzungen für eine derartige Beweiserleichterung hier nicht erfüllt sind.
Die Annahme, daß ein für den Anscheinsbeweis typischer Geschehensablauf vorliegt, erfordert zunächst die Feststellung eines allgemeinen Erfahrungssatzes als einer aus allgemeinen Umständen gezogenen tatsächlichen Schlußfolgerung, die dann auf den konkreten Sachverhalt angewendet werden kann (BGHZ 7, 198, 200 f). Das Schadensereignis muß also nach allgemeiner Lebenserfahrung eine typische Folge des (festgestellten) Haftungsgrundes darstellen. Dies ist allerdings bei Schutzgesetzverletzungen häufig der Fall. Wenn daher feststeht, daß der vom Verletzten auf Schadensersatz in Anspruch Genommene gegen ein Schutzgesetz verstoßen hat, das typischen Gefährdungsmöglichkeiten entgegenwirken will, und daß zeitlich nach diesem Verstoß gerade derjenige Schaden eingetreten ist, zu dessen Verhinderung das Schutzgesetz ergangen ist, so spricht grundsätzlich der Beweis des ersten Anscheins dafür, daß der Verstoß für den Schadenseintritt ursächlich gewesen ist (vgl. Senatsurteile vom 9. Mai 1961 - VI ZR 197/60 - VersR 1961, 828, 829; vom 5. Mai 1964 - VI ZR 72/63 - LM § 823 (Ef) BGB Nr. 11 b; vom 27. Mai 1975 - VI ZR 42/74 - VRS 49, 243, 247 und vom 25. Januar 1983 - VI ZR 92/81 - VersR 1983, 440).
Bei Glatteisunfällen sind die Regeln über den Anscheinsbeweis anwendbar, wenn der Verletzte innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht zu Fall gekommen ist (vgl. BGH, Urteil vom 22. November 1965 - III ZR 32/65 - VersR 1966, 90, 91 f; OLG Karlsruhe HRR 1939, 1023; OLG Frankfurt VersR 1980, 50, 51). In einem solchen Fall spricht (ähnlich wie bei einem Verstoß gegen konkret gefaßte Unfallverhütungsvorschriften) nach dem ersten Anschein eine Vermutung dafür, daß es bei Beachtung der Vorschriften über die Streupflicht nicht zu den Verletzungen gekommen wäre, daß sich also in dem Unfall gerade diejenige Gefahr verwirklicht hat, deren Eintritt die Schutzvorschriften verhindern wollten. Die Regeln über den Anscheinsbeweis können aber keine Anwendung finden, wenn der Sturz auf dem Glatteis erst längere Zeit nach dem Ende der Streupflicht eingetreten ist. Ein solcher Sachverhalt entspricht nicht mehr einem typischen Geschehensablauf, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist. Dem steht schon die Erfahrung entgegen, daß es nicht selten nach dem Ende der Streupflicht aufgrund weiterer Niederschläge oder infolge einer Änderung der Bodentemperatur zu (erneuter) Glatteisbildung kommt. Aus diesem Grunde können in einem solchen Fall nicht die Regeln über den Anscheinsbeweis, sondern nur die für Geschehensabläufe allgemein geltenden Grundsätze der freien Beweiswürdigung Platz greifen. Danach kann zwar einem auf Glatteis Gestürzten auch dann Schadensersatz zugesprochen werden, wenn der Sturz längere Zeit nach dem Ende der Streupflicht eingetreten ist (vgl. RG Recht 1919 Nr. 2112; BGH, Urteil vom 15. Februar 1979 - III ZR 172/77 - VersR 1979, 541, 542); denn grundsätzlich sind von den Schutzwirkungen einer zeitlich begrenzten Streupflicht auch diese Unfälle erfaßt. Das setzt jedoch stets den vom Geschädigten, ggf. mit Hilfe von Indizien, erbrachten Beweis voraus, daß ein Streuen vor dem Ende der Streupflicht dazu geführt hätte, daß auch nach deren Ende der Unfall sich nicht oder jedenfalls nicht in der geschehenen Weise ereignet hätte. Nach Auffassung des Senats veranlaßt auch der Zweck des Schutzgesetzes nicht zu einer anderen Verteilung der Darlegungs- und Beweislast; denn dieses legt dem Streupflichtigen die Kontrolle und Beherrschung der Glatteisgefahren, damit aber auch die Pflicht, sich über den Zustand des Gehweges und die Wetterverhältnisse zu vergewissern, nur zeitlich befristet (hier: bis 20.00 Uhr) auf. Die Feststellung, daß ein Streuen vor 20.00 Uhr den Sturz der Klägerin verhindert hätte, hat das Berufungsgericht nicht zu treffen vermocht. Es hat zwar, indem es die (als nicht fernliegend bezeichnete) Möglichkeit bejaht hat, daß nach dem Ende der Streupflicht einsetzender Niederschlag zu erneuter Glatteisbildung geführt hat, auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Unfall der Klägerin auf die schon vor 20.00 Uhr eingetretene Glatteisbildung zurückzuführen ist. Diese Möglichkeit reicht jedoch nicht aus, um eine Kausalität des Nichtstreuens vor dem Ende der Streupflicht für den Unfall zu bejahen. Eine Unterlassung ist nach feststehender Rechtsprechung nur dann für den Erfolg kausal, wenn pflichtgemäßes Handeln den Schaden mit Sicherheit verhindert hätte. Die bloße Möglichkeit genügt nicht (vgl. BGHZ 34, 206, 215; 61, 118, 120; Senatsurteile vom 2. April 1963 - VI ZR 159/62 - VersR 1963, 683, 684 und vom 3. Juni 1975 - VI ZR 199/73 - NJW 1975, 1827, 1829).
III.
Da die Revision erfolglos bleibt, hat die Klägerin nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.