HWS-Schleudertrauma
1 Allgemein
Verletzung im Hals-Wirbelsäulen-Bereich.
Zu den Personenschäden nach einem Verkehrsunfall zählt insbesondere bei Auffahrunfällen das HWS-Schleudertrauma. Die Verletzung wird vielfach missbraucht, da sie durch den Arzt nicht mit einfachen Behandlungsmethoden festgestellt werden kann und sich der Arzt insofern auf die Angaben des Patienten verlassen muss.
2 Beweisführung
Die Beweislast obliegt dem Geschädigten. Dabei sind zwei Beweismaßstäbe zu unterscheiden:
- a)
Die durch den Unfall bedingte Primärverletzung ist vom Geschädigten nach § 286 ZPO mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu beweisen:
- (1)
Der Verletzte muss den Eintritt eines HWS beweisen.
- (2)
Zudem muss bewiesen werden, dass der Unfall kausal für den Eintritt der Verletzung gewesen ist:
Das ärztliche Gutachten ist zur Bestimmung des Eintritts der Verletzung bzw. der Kausalität nicht ausreichend, weil es sich hierbei lediglich um eines unter mehreren Indizien für den Zustand des Geschädigten nach dem Unfall handelt (OLG Celle 20.01.2010 - 14 U 126/09).
In der Praxis wird zudem zur interdisziplinären Begutachtung ein biomechanisches Gutachten eingeholt, mit dem die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (Delta V) bestimmt wird.
Hinweis:
Dies erfordert u.a. folgende Unterlagen:
Fotos der Unfallstelle bzw. der beschädigten Fahrzeuge
Angaben zu den Beschädigungen der Fahrzeuge
Angaben zu den Fahrzeugen (Ausstattung, Fahrzeugtyp, Beladung etc.)
Angaben zu den Personendaten des Verletzten (Körpergröße, Alter, Gewicht etc.)
Angaben zu der Körper- und Kopfhaltung des Geschädigten im Zeitpunkt der Kollision
Vorerkrankungen des Verletzten im Bereich der Halswirbelsäule
Aber: Nach der Rechtsprechung (BGH 08.07.2008 - VI ZR 274/07, BGH 28.01.2003 VI ZR 139/02, OLG Schleswig 06.07.2006 - 7 U 148/01) schließt allein die Tatsache, dass sich der Unfall mit einer geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ereignet hat, die richterliche Überzeugungsbildung von seiner Ursächlichkeit für eine HWS-Verletzung nicht aus.
"Die von der Revision herangezogene Auffassung, wonach bei Heckunfällen mit einer bestimmten, im Niedriggeschwindigkeitsbereich liegenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, die im Bereich zwischen 4 und 10 km/h anzusetzen sei ("Harmlosigkeitsgrenze"), eine Verletzung der Halswirbelsäule generell auszuschließen sei [...] stößt in Rechtsprechung und Schrifttum zunehmend auf Kritik [...] und wird insbesondere aus orthopädischer Sicht in Zweifel gezogen [...]."
Ist der Körper des Unfallgeschädigten nur einer geringen biomechanischen Belastung ausgesetzt, so bedarf es zur Feststellung einer behaupteten HWS-Distorsion weiterer Indizien. Dies können z.B. sein Konstitution und Alter des Verletzten, überraschende oder erwartete Kollision sowie Sitzposition zur Zeit des Unfalls (OLG Düsseldorf 12.04.2011 - I-1 U 151/10).
- b)
Der Umfang der Verletzungen sowie sich aus der Verletzung ergebende Dauerschäden (d.h. der Sekundärschaden) sind nach der BGH-Rechtsprechung gemäß § 287 ZPO mit einer erheblichen bzw. einem hinreichenden Grad an Wahrscheinlichkeit zu beweisen. Der genau erforderliche Grad der Wahrscheinlichkeit soll der Einzelfallbeurteilung unterliegen.
Ggf. kann durch ein HWS-Schleudertrauma als Folgeschaden auch ein Tinnitus ausgelöst werden. Kennzeichnend für die Kausalität ist, dass die Ohrgeräusche zeitnah zu dem Unfall einsetzen. Der Nachweis der unfallbedingten Kausalität erfordert auch den Nachweis, dass vor dem Unfall ein Tinnitus nicht bestanden hat. Dies kann z.B. durch die Vorlage der Leistungskartei der entsprechenden Krankenkasse erfolgen.
3 Unfallkausalität von HWS-Syndrom und Tinnitus
Zur Unfallkausalität von HWS-Syndrom und Tinnitus bestehen folgende Grundsätze (LSG Berlin-Brandenburg 09.01.2014 - L 3 U 57/11):
Unter Berücksichtigung der in der unfallmedizinischen Literatur erarbeiteten Grundsätze zu möglichen Störungen bei HWS-Distorsionen ist ein Tinnitus als Folge eines HWS-Traumas nur dann wahrscheinlich, wenn gleichzeitig andere objektivierbare pathologische Befunde auftreten, etwa eine messbare Hörstörung, objektivierbare Gleichgewichtsstörungen, neurologische Ausfälle oder eine Schädelbasisfraktur. Ein Tinnitus als alleiniges Symptom lässt sich in der Regel nicht als Unfallfolge begründen.
Führen erlittene HWS-Distorsionen (Beschleunigungsverletzungen) zu Symptomen am Gehör, etwa in Form eines Tinnitus, treten diese entweder sofort nach dem Unfall oder mit einem Intervall von einigen Stunden auf. Für die häufigen leichten Distorsionen der HWS gilt: Je länger das beschwerdefreie Intervall nach dem Unfall und je protrahierter der Verlauf mit Ausweitung der Symptomatik später war, desto weniger wahrscheinlich ist, dass der Unfall die alleinige und wesentliche Ursache für das Beschwerdebild war.
4 Rechtsfolgen
Ist ein HWS-Schleudertrauma bewiesen, ist der Schädiger zur Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld verpflichtet.