Konsultative Demokratie und Demoskopie

EU Recht
23.12.20091559 Mal gelesen
Eine „Konsultative Demokratie" kann für die zusammenwachsende Welt - mit Bürgern aus diversen Klassen, Herkünften, Ideologien und Weltanschauungen, die meistens partikulare Interessen anstreben und von dem Gesamtkonzept der politischen Parteien nicht mehr zu überzeugen sind - einen Ansatz für die Beseitigung der Schwäche der repräsentativen parlamentarischen Demokratie darstellen. Charakteristikum dieser Demokratieform soll die „gelenkte Volksherrschaft" sein.

Keine repräsentative Demokratie kommt ohne Berücksichtigung der öffentlichen Meinung aus. Gleichzeitig ist auch kaum vorstellbar, dass die Massengesellschaft ohne Repräsentanten effektiv politisch gestaltet werden kann. Den Wählern müssen Problemlösungsorientierte Alternativen angeboten werden, aus denen sie, ihren Präferenzen nach, das beste politische Angebot wahrnehmen können. Daraus resultiert eine politische Mehrheit, die wiederum eine Regierung stellt.

Repräsentanten streben nach einer Wiederwahl und sind somit abhängig von den Wählerentscheidungen. Das parlamentarisch-repräsentative System hat für seine politischen Entscheidungen langfristig dafür zu sorgen, dass das Volk seine Entscheidungen akzeptiert. Verfassungsrechtlich muss dem Volk durch die Wahlen das Recht gewährt werden, politische Entscheidungen mitzugestalten. Die Parteien, die nach der Verfassung das Recht haben, im Willensbildungsprozess mitzuwirken, haben sich somit im Interesse des Volkes zu bemühen. Dieses reziproke Verhältnis von Repräsentation und Partizipation führt dazu, dass sich die Repräsentanten - selbst wenn sie unbeliebte Entscheidungen treffen müssen - darum zu bemühen haben, das Staatsvolk von ihren Entscheidungen zu überzeugen.

In der Summe entscheidet das Verhalten der Repräsentanten, ob ein Parlament Spiegelbild oder Zerrspiegel des Volksinteresses ist. Die Qualität der Demokratie hängt nicht nur davon ab, worüber Entscheidungen getroffen werden, sondern auch wie eine Entscheidung getroffen wird. Demokratie bedeutet in ihrem Kern „Regierung durch das Volk für das Volk".

Unter Berücksichtigung der Annahme, dass der Volkswille im öffentlichen Willensbildungsprozess gebildet wird, bietet die Öffentlichkeit eine integrative pluralistische Funktion an, um aus den einzelnen Meinungen eine kollektive Meinung zu bilden. Die Vernetzung aller Mitglieder der Gesellschaft zu einem Volkswillen bedarf der Steuerung und Organisation, welche sich an der Komplexität entwickelter, funktional differenzierter moderner Gesellschaften orientiert.

Die Gleichheit und Freiheit der Individuen bezüglich der Teilhabemöglichkeit am Willensbildungsprozess stellt ein wesentliches Element der Demokratie dar. Das demokratische Prinzip beruht auf der Pluralität verschiedener Interessen, Willensrichtungen und Meinungen, die Unterschiede und Konflikte erkennbar machen. Erst auf dieser Basis ist die Entstehung pluralistischer Initiativen und Alternativen denkbar. Diese setzen die Meinungsäußerung voraus, um Freiheit und Offenheit des politischen Prozesses für unterschiedliche politische Anschauungen zu gewährleisten.

Die Bedeutung des in Art. 5 Abs. 1 GG enthaltenen Grundrechts auf Meinungsfreiheit zeigt hinsichtlich der politischen Willensbildung, dass dieses Grundrecht selbst Ausdruck des Demokratieprinzips ist. Der Willensbildungsprozess bildet die Voraussetzung für eine Realisierung des politischen Willens des Volkes in demokratischen Wahlen und stellt den wichtigsten Vermittlungsmechanismus zwischen Staatsvolk und Staat dar. Er ist damit zugleich eine Grundvoraussetzung der in Art. 20 Abs. 2, S. 1 GG festgelegten demokratischen Herrschaftsstruktur.

Die in Art. 5 Abs. 1 GG enthaltenen Grundrechte wurden vom BVerfG als konstituierend für die demokratische Staatsordnung bezeichnet. Demnach ist die Förderung des Willensbildungsprozesses zugleich die Förderung des demokratischen Prinzips als Leitprinzip der Ordnung des politischen Prozesses.

Da die politische Willensbildung im (begrenzten) Kreise der Repräsentanten und deren Diskursen stattfindet und das Volk seine verfassungsrechtliche Funktion begrenzt ausübt, kann Demoskopie einen wichtigen Beitrag zur Beseitigung dieses Demokratiedefizits leisten. Die Demoskopie kann in ihrer horizontalen und vertikalen Funktion den beiderseitigen Interessen der Repräsentanten und dem Volk innerhalb der Demokratie dienen, ohne dass die Legitimität des repräsentativen Systems in Frage gestellt wird.

Die Demoskopie hat einen spürbaren Einfluss auf den politischen Willensbildungsprozess und dient somit der Vorformung, Veränderung und Verfestigung des politischen Willens in der modernen Demokratie. Weder das Volk noch die Repräsentanten dürfen in der heutigen Demokratie „allmächtige Alleinherrscher" sein. Erforderlich ist vielmehr ein einverständliches Zusammenwirken. Bewerkstelligt wird dies durch die Demoskopie als Element der „Konsultativen Demokratie".

Folgende Funktionen wurden bezüglich der Demoskopie und ihrer Rolle innerhalb der Demokratie festgestellt:

1. Die Demoskopie ist imstande, relativ schnell und günstig die Volksmeinung präzise abzubilden.

2. Die Demoskopie ermöglicht es dem Volk und seinen Repräsentanten zu überprüfen, ob eine bestimmte Verhaltensnorm die Chance hat, in der Rechtsgemeinschaft durchgesetzt und von ihr befolgt zu werden.

3. Durch die Demoskopie können bei der Vorbereitung von Gesetzesentwürfen die Meinungen und Erfahrungen der Bevölkerung berücksichtigt werden. Hierin ist ein Frühwarnsystem zur Sozialverträglichkeit von politischen Entscheidungen zu sehen.

4. Die Demoskopie ermöglicht in Erfahrung zu bringen, welche Resonanz die umgesetzten politischen Pläne in der Bevölkerung gefunden haben.

5. Die Demoskopie fördert den Föderalismus, weil der gelebte Föderalismus eine hohe Identifikation der Menschen mit ihren örtlichen und regionalen Rechtsgemeinschaften voraussetzt. Durch die Abbildung der Meinung der betreffenden Rechtsgemeinschaft wird die regionale und örtliche Integration gefördert.

6. Die Demoskopie fördert den verfassungsrechtlichen Grundsatz der streitbaren Demokratie. Durch die Früherkennung radikaler Entwicklungen in der Gesellschaft können undemokratische oder gewaltsame Widerstandsbewegungen erkannt werden, die die Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in der Gesellschaft gefährden könnten.

7. Die Demoskopie fördert den Grundsatz des Minderheitsschutzes in der Demokratie, indem sie die Meinung von Minderheiten abbilden kann und deren Meinung in der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringt. Hierdurch besteht die reelle Chance für Minderheiten von Presse, Parteien und Entscheidungsträgern wahrgenommen zu werden und ihre Themen im öffentlichen Diskurs zu platzieren.

8. Die Demoskopie bietet die Möglichkeit, der Oligarchie der wenigen Machthaber in den Medien entgegenzuwirken und die wirkliche Meinung des Volkes zu zeigen. Damit findet die Volksmeinung einen unmanipulierten Weg in den öffentlichen politischen Diskurs. Dies ist besonders wichtig, weil durch kommerzialisierte politische Talkshows und Berichterstattung nicht die Sachthemen im Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung stehen, sondern Persönlichkeit und Aussehen der Kandidaten.

9. Die Demoskopie ermöglicht es, der Macht der global players entgegen zu wirken, die Druck auf die Repräsentanten des Volkes ausüben, um staatliches Handeln für den Eigennutz zu beeinflussen, denn durch die Veröffentlichung der Volksmeinung erfährt das Volk ein Stück Handlungsmacht.

10. Die Demoskopie ermöglicht es, den Prozess der Toleranz und Zivilisierung durch gewaltfreie Konfliktslösung zu fördern, indem durch die Veröffentlichung der Volksmeinung neue Impulse für die politische Auseinandersetzung geschaffen werden. In diesem Prozess der Überzeugungsarbeit kann das Volk einen Lernprozess erfahren, in welchem zumindest andere Meinungen respektiert werden, wenn sie schon nicht akzeptiert werden. Dadurch werden kommunikative und zivilisierte Methoden zur Überzeugungsarbeit in politischen Auseinandersetzungen eine bedeutendere Rolle spielen.

11. Die Demoskopie ermöglicht Interesse und „Mit-Denken" bei öffentlichen Themen. Durch bessere Information vergrößert sich die Chance, dass sich die Öffentlichkeit mit entsprechenden Thematiken auseinandersetzt und Entscheidungen können folglich genauer getroffen werden. Die Tatsache, dass die eigene Meinung von der Meinung des Volkes abweicht, gibt dem Betroffenen die Möglichkeit, über seine Meinung zu reflektieren und sich entsprechend zu verhalten.

12. Demoskopie kann so ein Mittler zwischen den Gegnern der direkten und den Gegnern der repräsentativen Demokratie sein. Zwar kommt der Abbildung und Veröffentlichung der Volksmeinung im Rahmen der Demoskopie keine staatsrechtliche Bedeutung zu, sie kann jedoch nach der Veröffentlichung als Tatsache den Willensbildungsprozess beeinflussen. Auf diese Weise können die Vertreter der direkten und der repräsentativen Demokratie die jeweiligen Vorurteile gegenüber der Gegner-Theorie überprüfen und notfalls korrigieren.

13. Die Demoskopie dient dem Prozess der Meinungsbildung, indem die Volksmeinung abgebildet und Bürgern und Entscheidungsträgern die Möglichkeit gegeben wird, auf unterschiedliche Meinungen einzugehen. Der Ort dieser Kommunikation ist die Öffentlichkeit. Das Mittel, die Andersdenkenden für die eigene politische Überzeugung zu gewinnen, ist die Überzeugungsarbeit. Dadurch kann dem Trend der Politikverdrossenheit und dem Trend der schwindenden Akzeptanz parlamentarischer Entscheidungen entgegengewirkt werden.

14. Ein solches Verfahren dient sowohl den Interessen der Normadressaten als auch der Autorität des Parlaments und der des Staates. Gesetze ohne Anwendungschance in der Bevölkerung dienen nicht der Wahrung des Rechtsfriedens. In einem freiheitlichen Gemeinwesen, das mit einem Minimum an obrigkeitlicher Reglementierung und Zwang auskommen möchte, ist der freiwillige Gesetzesgehorsam wesentlich. Die Demoskopie kann einen Beitrag zum Rechtsfrieden und zur Wahrung und Stabilisierung der freiheitlich demokratischen Grundordnung leisten.

15. Je mehr der Bürger informiert ist und seine Meinung im öffentlichen Willensbildungsprozess einen Raum findet, desto mehr überzeugte Demokraten finden sich im Staat. Demokratie kann nur leben, wenn Demokraten am Leben sind.

Festzustellen ist, dass - beschränkt auf den verfassungstheoretischen Aspekt - die Demoskopie als Instrument demokratischer Partizipation dienen kann, dessen Einbau in eine Repräsentativverfassung wie dem Grundgesetz mit dazu beitragen könnte, im Sinne der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat", „einen weiteren Verlust an Glaubwürdigkeit des politischen Systems zu vermeiden".

Die Demoskopie dient dem politisch inaktiven, dem „schweigenden Volk" als Plattform, durch welche deren Meinung im Konzert der politischen Meinungen berücksichtigt werden könnten. Insbesondere ist die politische Meinung des Volkes bezüglich der Wahlen von besonderer Bedeutung. Daher ist die Veröffentlichung der Ergebnisse politischer Wahlforschung nicht nur vertikal von besonderem Interesse für die Politiker, sondern auch auf horizontaler Ebene, für die Wählenden. Dadurch kann ein wesentlicher Beitrag zur Vitalisierung der Demokratie geleistet werden.

In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass eine verfassungswidrige Beeinträchtigung der Wahlfreiheit und Wahlgleichheit durch die Veröffentlichung von Wahlprognosen nicht vorliegt und § 32 II BWG verfassungswidrig ist. Welche und wie viele Informationen der Wähler verkraften kann, kann er selbst entscheiden und benötigt hierfür keinen Vormund. Nach der Auffassung des damaligen Bundesverfassungsgerichtspräsidenten war für die deutschen Politiker die Demoskopie ein fremdes und unheimliches Verfahren (Dämoskopie), das jedoch in anderen Teilen der Welt bereits seit über hundert Jahren Bestand hatte. Ohne fundierte Informationen wurde in der damaligen Zeit dieses freiheitsberaubende Gesetz bloß aus der Furcht erlassen, dass sich Fremdes in der deutschen Gesellschaft schädigend etablieren könnte. Dies setzt sich bis heute fort. Die Abschaffung des § 32 II BWG dient daher dem Erhalt und der Förderung der Demokratie.

Das nationale Demokratieverständnis verabschiedet sich auf leisen Sohlen von dem, was die Demokratie wesentlich ausmacht. Obwohl die demokratischen Wahlen letztlich Personenwahl bedeuteten und die einzelne Stimme, sprich der einzelne Wahlbürger, de facto bedeutungslos ist, ist sie dennoch richtungweisend, da sie Personen und Parteien entweder wieder- oder abwählt, bspw. durch die Wahl einer anderen Partei. Sie zeigt somit tatsächlich plebiszitäre Ansätze. Dieser demokratische Ansatz ist in Zukunft unter der Berücksichtigung der konsultativen Funktion der Demoskopie auszubauen.

Dr. Dr. Iranbomy, Rechtsanwalt

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