Neue BGH-Rechtsprechung zum Kalkulationsfehler des Bieters: Darf Vergabestelle den Zuschlag erteilen?

15.01.2015 5243 Mal gelesen
Bei der Erstellung von Angeboten kommt es vor, dass Fehler unterlaufen, sodass Bauleistungen zu nicht auskömmlichen Preisen angeboten werden. Dies wird dann regelmäßig nach der Submission erkennbar, wenn das eigene Angebot deutlich unter denjenigen der Wettbewerber liegt. Darf der Auftraggeber auf ein solches Angebot den Zuschlag erteilen? Mit dieser Frage hatte sich kürzlich der Bundesgerichtshof zu befassen (BGH, Urt. v. 11.11.2014, X ZR 32/14).

Der Fall:

Die Vergabestelle hatte Straßenbauarbeiten ausgeschrieben. Ein Bieter gab mit einer Angebotssumme von ca. 455.000 Euro das weitaus günstigste Angebot ab. Nach dem Eröffnungstermin teilte der Bieter der Vergabestelle mit, er habe in einer LV-Position einen falschen Mengenansatz und eine falsche Abrechnungseinheit zugrunde gelegt. Dadurch wurde bei der betreffenden Position ein Sechstel des üblichen Preises angeboten. Der Endpreis des Angebots lag mit 27 % unter dem Preis des nächstgünstigen Bieters.

Der Bieter bat, sein Angebot wegen dieses Kalkulationsirrtums aus der Wertung zu nehmen. Die Vergabestelle entsprach diesem Wunsch nicht, sondern erteilte dem Bieter den Zuschlag. Der Bieter weigerte sich, den Auftrag auszuführen, worauf die Vergabestelle den Rücktritt vom Vertrag erklärte und einen anderen Bieter beauftragte. Die Mehrkosten beliefen sich auf ca. 175.000 Euro gegenüber dem fehlerhaft ermittelten Angebotspreis. Diesen Betrag verlangt die Vergabestelle von dem Bieter ersetzt.

Die Entscheidung des BGH (Urt. v. 11.11.2014, X ZR 32/14):

Ohne Erfolg.

Die Vergabestelle hat mit der Erteilung des Zuschlags gegen ihre Pflicht zur Rücksichtnahme aus § 241 Abs. 2 BGB verstoßen, als sie den Zuschlag auf das Angebot erteilte, obwohl ihr bekannt war, dass dieses Angebot von einem erheblichen Kalkulationsirrtum beeinflusst war. Daher kann die Vergabestelle die Mehrkosten aus der Ausführung des Auftrags nicht von dem Bieter ersetzt verlangen.

Der BGH weist allerdings auch darauf hin, dass die Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 BGB den Auftraggeber nicht verpflichtet, bei jeglichen Kalkulationsirrtümern von der Zuschlagserteilung abzusehen. Grundsätzlich sind Unternehmen für ihr geschäftliches Handeln selbst verantwortlich. Die Grenze zu einem Pflichtverstoß des Auftraggebers sei im Bereich der Vergabe öffentlicher Aufträge erst dann überschritten, wenn dem Bieter "aus Sicht eines verständigen öffentlichen Auftraggebers bei wirtschaftlicher Betrachtung schlechterdings nicht mehr angesonnen werden kann, sich mit dem irrig kalkulierten Preis als einer auch nur annähernd äquivalenten Gegenleistung für die zu erbringende Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zu begnügen". Erforderlich ist also ein hinreichend gravierendes Ausmaß des Kalkulationsfehlers.

Ein solches wurde hier bejaht. Während der Bieter einen Preis von ca. 455.000 Euro angeboten hatte, lag der zweitplatzierte Bieter bei ca. 621.000 Euro.

Eine Rücksichtnahmepflicht der Vergabestelle setze im Übrigen nicht erst dann ein, wenn dem betroffenen Bieter bei Durchführung des Auftrags zum Angebotspreis in absehbarer Zeit Insolvenz oder vergleichbare wirtschaftliche Schwierigkeiten drohen. Vielmehr sei darauf abzustellen, ob zwischen dem Wert der für den Auftraggeber erbrachten Leistung und dessen Gegenleistung eine unbillige Diskrepanz herrscht. Dies lasse sich nicht allgemeinverbindlich festlegen, sondern bedürfe einer Bewertung aller Umstände des Einzelfalls.

Vorliegend wurde auf die Massivität des Irrtums abgestellt (Positionspreis in Höhe von einem Sechstel des üblichen Preises und Angebotsendpreis mit 27 % unter dem Preis des nächstgünstigen Mitbewerbers). Der BGH weist aber darauf hin, dass der Abstand von 27 % zum nächstgünstigen Bieter nicht als allgemeinverbindliches Maß gelten kann, um die Unzumutbarkeit der Auftragsausführung zu begründen. Bei deutlich höheren oder niedrigeren Auftragsvolumina könne der erforderliche Abstand zum nächstgünstigen Bieter auch geringer bzw. höher anzusetzen sein.

Fazit:

Die Entscheidung betrifft unmittelbar das öffentliche Auftragswesen. Hier gilt der Grundsatz, dass öffentliche Aufträge zu angemessenen Preisen zu erteilen sind (vgl. z.B. § 2 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A). Daher ist es bei der Vergabe öffentlicher Aufträge im besonderen Maße gerechtfertigt, Bieter nicht unmäßig aufgrund erheblicher Kalkulationsirrtümer zu übervorteilen. Im Grunde gilt dies wegen des Gebots von Treu und Glauben aber auch bei privaten Auftragsvergaben.

Leider konnte der Bundesgerichtshof der Praxis keine allgemeinverbindliche Richtlinie vorgeben, welches Maß ein Kalkulationsirrtum erreichen muss, damit der Auftraggeber aus Gründen der Rücksichtnahme von einer Beauftragung abzusehen hat. Zumindest bei Auftragsvolumina im mittleren sechsstelligen Bereich dürfte ein irrtumsbedingter Abstand von ca. 27 % zum nächstgünstigen Bieter aber nun ein deutliches Indiz dafür sein, dass auf solche Angebote kein Zuschlag erteilt werden darf. Bei größeren Aufträgen mögen auch geringere Abstände ausreichen, was der BGH nur vorsichtig andeutet.

Bieter, die sich wegen eines erheblichen Kalkulationsfehlers von ihrem Angebot lösen wollen, sollten den Auftraggeber unverzüglich über den Irrtum aufklären und auf die neue BGH-Rechtsprechung hinweisen.

RA Dr. Andreas Schmidt, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht, Köln

SMNG Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Köln