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Bundessozialgericht
Beschl. v. 02.01.2023, Az.: B 9 SB 34/22 B
Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde im sozialgerichtlichen Verfahren; Bezeichnung des Verfahrensmangels einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht des LSG und des rechtlichen Gehörs
Gericht: BSG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 02.01.2023
Referenz: JurionRS 2023, 45039
Aktenzeichen: B 9 SB 34/22 B
ECLI: ECLI:DE:BSG:2023:020123BB9SB3422B0

Verfahrensgang:

vorgehend:

LSG Nordrhein-Westfalen - 10.03.2022 - AZ: L 6 SB 94/20

SG Aachen - 17.02.2020 - AZ: S 4 SB 1495/18

BSG, 02.01.2023 - B 9 SB 34/22 B

Redaktioneller Leitsatz:

1. Zur Bezeichnung des Verfahrensmangels einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht muss auch ein unvertretener Kläger dem Gericht deutlich machen, dass er noch Aufklärungsbedarf sieht. Erfolgt eine mündliche Verhandlung in Anwesenheit eines unvertretenen Klägers, hat er diese Verdeutlichung grundsätzlich in der mündlichen Verhandlung vorzunehmen.

2. Die Ausübung des Fragerechts an den Sachverständigen setzt einen rechtzeitigen Antrag auf Befragung und eine hinreichend konkrete Bezeichnung der noch erläuterungsbedürftigen Punkte voraus.

in dem Rechtsstreit
BSG Az.: B 9 SB 34/22 B
LSG Nordrhein-Westfalen 10.03.2022 - L 6 SB 94/20
SG Aachen 17.02.2020 - S 4 SB 1495/18
………………………………………,
Kläger und Beschwerdeführer,
Prozessbevollmächtigter: …………………………………….,
g e g e n
Landeshauptstadt Düsseldorf, Amt für soziale Sicherung und Integration, Willi-Becker-Allee 6 - 8, 40227 Düsseldorf,
Beklagte und Beschwerdegegnerin.
Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat am 2. Januar 2023 durch
den Vorsitzenden Richter Dr. K a l t e n s t e i n sowie die Richter Dr. M e c k e und O t h m e r
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. März 2022 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I

1

Der Kläger begehrt in der Hauptsache eine Höherbewertung des bei ihm festgestellten Grades der Behinderung (GdB) auf 60, hilfsweise von 50, anstatt des bisher zuerkannten GdB von 40. Diesen Anspruch hat das LSG mit Urteil vom 10.3.2022 - wie vor ihm die Beklagte und das SG verneint. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liege eine Beinverkürzung rechts um 1,5 cm mit einem Einzel-GdB von 10, eine Gesundheitsstörung in Form einer Gefühlsabschwächung außenseitig am rechten Oberschenkel mit einem Einzel-GdB von 10, eine Gesundheitsstörung der Hüften mit einem Einzel-GdB von 0, eine Gesundheitsstörung der Schultern mit einem Einzel-GdB von 0, eine Gesundheitsstörung der Kniegelenke mit einem Einzel-GdB von 20, eine Funktionseinschränkung der rechtsseitigen Sprunggelenke sowie der Füße einschließlich degenerativer Veränderungen der Großzehengrundgelenke mit einem Einzel-GdB von 20 und eine Gesundheitsstörung der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 20 vor, sodass der Kläger im Rahmen einer Gesamtschau keinen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von mehr als 40 habe. Seine diesbezüglichen Feststellungen hat das LSG dabei im Wesentlichen auf das von ihm eingeholte Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Rheumatologie S vom 19.4.2021 und dessen auf das Schreiben des Klägers vom 20.5.2021 abgegebene ergänzende Stellungnahme vom 2.6.2021 gestützt.

2

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum BSG eingelegt, mit der er eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht des LSG und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt.

II

3

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil sie einen Verfahrensmangel (Zulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht ordnungsgemäß bezeichnet hat (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

4

1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden.

5

In dieser Hinsicht fehlt es der Beschwerdebegründung des Klägers bereits an der zwingend erforderlichen zusammenhängenden, vollständigen, chronologisch geordneten und aus sich her- aus verständlichen Darstellung der Verfahrens- und Prozessgeschichte sowie des vom LSG festgestellten Sachverhalts (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 11.4.2022 - B 9 SB 59/21 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - juris RdNr 10). Es ist nicht Aufgabe des BSG, sich im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren die maßgeblichen Tatsachen aus dem angegriffenen Urteil und/oder den Gerichts- und Verwaltungsakten selbst herauszusuchen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 6.8.2019 - B 9 V 14/19 B - juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 14.2.2019 - B 9 SB 51/18 B - juris RdNr 23).

6

2. Unabhängig davon hat der Kläger aber auch die von ihm geltend gemachten Verfahrensmängel einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht des LSG (§ 103 SGG) und seines rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs1 GG, § 62 SGG) nicht hinreichend bezeichnet.

7

a) Soweit er rügt, das LSG habe die Amtsermittlung nicht zu Ende geführt, erfüllt sein Vortrag nicht die Anforderungen an eine Sachaufklärungsrüge. Die Geltendmachung eines Verfahrensmangels wegen Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG nur darauf gestützt werden, dass das LSG einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Dies erfordert ua die Darlegung, dass ein Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt und noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten worden ist (stRspr; zB BSG Beschluss vom 28.5.2020 - B 5 R 306/19 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Zwar sind an Form, Inhalt, Formulierung und Präzisierung eines Beweisantrags verminderte Anforderungen zu stellen, wenn der Kläger - wie hier - in der Berufungsinstanz durch keinen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten vertreten war (vgl BSG Beschluss vom 25.8.2022 - B 9 SB 4/22 B - juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 18.9.2003 - B 9 SB 11/03 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 1 RdNr 5). Auch ein unvertretener Kläger muss aber dem Gericht deutlich machen, dass er noch Aufklärungsbedarf sieht. Erfolgt eine mündliche Verhandlung in Anwesenheit eines unvertretenen Klägers, hat er diese Verdeutlichung grundsätzlich in der mündlichen Verhandlung vorzunehmen (BSG Beschluss vom 21.12.2021 - B 9 V 34/21 B - juris RdNr 11). Dass der in der mündlichen Verhandlung anwesende Kläger dies getan hat, zeigt die Beschwerdebegründung aber nicht auf. Allein der Vortrag, dass er "in der Urteilsverkündung" mehrmals darauf hingewiesen habe, dass er einige Inhalte des Urteils nicht verstehe und er völlig zermürbt und entnervt dem Urteil so zugestimmt habe, was er eigentlich gar nicht gewollt habe, reicht hierfür nicht aus.

8

Darüber hinaus legt der Kläger auch nicht substantiiert dar, dass und warum das LSG sich von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt fühlen müssen, im Anschluss an das Gutachten vom S vom 19.4.2021 sowie dessen ergänzenden Stellungnahme vom 2.6.2021 weiteren Beweis von Amts wegen zu erheben. Zu weiteren Beweiserhebungen ist das Tatsachengericht insoweit ohnehin nur dann verpflichtet, wenn das Gutachten grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthält, von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgeht oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters gibt (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 27.4.2021 - B 13 R 125/20 B - juris RdNr 7 mwN). Solche Ausführungen enthält die Beschwerdebegründung nicht. Soweit der Kläger behauptet, dass sein Schreiben vom 20.5.2021 mit ergänzenden Fragen zum Gutachten von S nicht an diesen weitergeleitet worden sei, setzt er sich weder mit dem Grund für die vom LSG eingeholte ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen vom 2.6.2021 noch mit deren Inhalt auseinander. Insbesondere legt er nicht dar, welche entscheidungserheblichen Tatsachen danach aus der insoweit allein maßgeblichen Sicht des LSG noch offengeblieben sein könnten, zu deren Ermittlung die Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens zwingend veranlasst gewesen wäre. Tatsächlich wendet sich der Kläger mit seinem diesbezüglichen Vorbringen im Kern gegen die Aus- und Bewertung des Sachverständigengutachtens und damit gegen die Beweiswürdigung des LSG. Diese ist jedoch gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG der Beurteilung durch das Revisionsgericht vollständig entzogen. Kraft der darin enthaltenen ausdrücklichen gesetzlichen Regelung kann die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen werden (stRspr; zB BSG Beschluss vom 1.7.2020 - B 9 SB 5/20 B - RdNr 10 mwN).

9

b) Die von dem Kläger gerügte Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) hat er ebenfalls nicht hinreichend bezeichnet. Sofern er geltend macht, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör schon dadurch verletzt, dass es die Amtsermittlung nicht zu Ende geführt habe, ist die vom ihm insoweit erhobene Gehörsrüge im Kern auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht des LSG gerichtet. Jedoch können die für die Geltendmachung eines Verfahrensmangels wegen Verletzung des § 103 SGG nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG geltenden Einschränkungen nicht durch die Berufung auf eine vermeintliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör umgangen werden (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 30.8.2022 - B 9 SB 17/22 B - juris RdNr 10 mwN).

10

Soweit der Kläger rügt, das LSG habe es versäumt, den Sachverständigen im Termin zur mündlichen Verhandlung zu laden und persönlich zu befragen, hat er auch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs in Form des gesetzlichen Fragerechts aus §§ 116 Satz 2, 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 3 und 4 ZPO hinreichend dargetan. Die Ausübung des Fragerechts an den Sachverständigen setzt einen rechtzeitigen Antrag auf (weitere) Befragung und eine hinreichend konkrete Bezeichnung der noch erläuterungsbedürftigen Punkte voraus (vgl stRspr; BSG Beschluss vom 27.9.2018 - B 9 V 14/18 B - juris RdNr 14 mwN). Zu beiden Voraussetzungen enthält die Beschwerdebegründung keine substantiierten Ausführungen. Insbesondere setzt sie sich insoweit schon nicht mit der vom LSG bereits eingeholten ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen S vom 2.6.2021 auseinander. Im Ãœbrigen bleibt es den Tatsachengerichten unbenommen, die Beteiligten vorrangig darauf zu verweisen, Fragen und Einwendungen schriftlich vorzutragen, um einen Sachverständigen damit zu konfrontieren. Die ggf anschließende mündliche Befragung kann aber dann geboten sein, wenn sie sich nicht absehbar in der Wiederholung schriftlicher Äußerungen erschöpft, sondern darüber hinaus einen Mehrwert hat. Auch in diesem Fall sind an die Beantragung einer mündlichen Sachverständigenbefragung nicht weniger Anforderungen zu stellen als an eine schriftliche Befragung, die die Benennung konkreter Fragen und Einwendungen voraussetzt (BVerfG <Kammer> Beschluss vom 2.5.2018 - 1 BvR 2420/15 - juris RdNr 5 mwN). Auch hierzu verhält sich die Beschwerdebegründung nicht.

11

Dass der Kläger die Entscheidung des LSG inhaltlich für unrichtig hält, kann als solches nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 30.8.2022 - B 9 SB 17/22 B juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 28.10.2020 - B 10 EG 1/20 BH - juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 25.7.2011 - B 12 KR 114/10 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 22 RdNr 4).

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3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

13

4. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

14

5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dr. Kaltenstein

Dr. Mecke

Othmer

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