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Bundessozialgericht
Beschl. v. 09.01.2017, Az.: B 9 SB 75/16 B
Feststellung eines Grades der Behinderung; Verfahrensrüge; Überraschungsentscheidung; Umfang der gerichtlichen Hinweispflicht
Gericht: BSG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 09.01.2017
Referenz: JurionRS 2017, 17491
Aktenzeichen: B 9 SB 75/16 B
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

LSG Baden-Württemberg - 28.09.2016 - AZ: L 3 SB 4073/13

SG Freiburg - AZ: S 1 SB 2019/10

BSG, 09.01.2017 - B 9 SB 75/16 B

Redaktioneller Leitsatz:

1. Ein Beteiligter kann mit einer Gehörsrüge nur durchdringen, wenn er vor dem LSG alle prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen.

2. Es besteht insbesondere gegenüber rechtskundig vertretenen Beteiligten weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen, denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen.

3. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern.

4. Art. 103 Abs. 1 GG gebietet vielmehr lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter nicht zu rechnen brauchte.

in dem Rechtsstreit

Az: B 9 SB 75/16 B

L 3 SB 4073/13 (LSG Baden-Württemberg)

S 1 SB 2019/10 (SG Freiburg)

...............................................,

Kläger und Beschwerdeführer,

Prozessbevollmächtigte: ...............................................,

gegen

Land Baden-Württemberg,

vertreten durch das Regierungspräsidium Stuttgart,

Landesversorgungsamt,

Ruppmannstraße 21, 70565 Stuttgart,

Beklagter und Beschwerdegegner.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat am 9. Januar 2017 durch die Vorsitzende Richterin Dr. R o o s sowie die Richter O t h m e r und Dr. R ö h l

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. September 2016 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I

1

Mit Urteil vom 28.9.2016 hat das LSG Baden-Württemberg einen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 anstelle eines seit dem 7.8.2009 festgestellten GdB von 40 verneint, weil unter Berücksichtigung der rechtlichen Grundsätze für die Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG) kein Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 40 seit dem 7.8.2009 bestehe.

2

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt und diese mit dem Vorliegen von Verfahrensfehlern (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) begründet. Das LSG sei von den Feststellungen des nach § 109 SGG gehörten Gutachters Dr. H. abgewichen und habe den GdB für die Kniegelenke auf 10 und für die Wirbelsäule lediglich auf 20 festgesetzt. Damit seit das LSG in wesentlichen Punkten von dem beantragten Gutachten abgewichen, ohne den Kläger zuvor oder im Termin darüber in Kenntnis zu setzen. Dies stelle einen Verstoß gegen die Hinweispflicht des Gerichts und eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar. Bei einem entsprechenden Hinweis hätte der Kläger die Ladung des Gutachters Dr. H. zur Erläuterung seines Gutachtens beantragt, sodass das LSG möglicherweise den GdB auf orthopädischem Fachgebiet für die Wirbelsäule auf 30, für das Kniegelenk auf 20 und insgesamt auf einen Einzel-GdB von 40 festgestellt hätte.

II

3

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Ihre Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ist ordnungsgemäß dargetan worden (§ 160a Abs 2 S 3 SGG).

4

1. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels zunächst die diesen (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 S 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

5

Den sich daraus ergebenden Anforderungen ist die Beschwerdebegründung nicht gerecht geworden.

6

Mit seiner Rüge, das LSG habe den sich aus § 139 Abs 2 ZPO iVm § 202 SGG ergebenden Hinweispflichten nicht genügend Rechnung getragen (Überraschungsentscheidung), weil es von der Bewertung im Gutachten des Dr. H. abgewichen sei, ohne zuvor darauf hinzuweisen, rügt der Kläger sinngemäß gleichfalls eine Verletzung der Hinwirkungspflicht nach § 112 Abs 2 SGG und die von ihm direkt behauptete Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 GG). Insoweit reichen jedoch die Darlegungen des Klägers in seiner Beschwerdebegründung nicht aus. Ein Beteiligter kann mit seiner Beschwerde diesbezüglich nur durchdringen, wenn er vor dem LSG alle prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 62 RdNr 11d mwN). Weshalb der Kläger hieran gehindert gewesen sein sollte, legt er nicht hinreichend dar. Zudem hat der im Berufungsverfahren bereits anwaltlich vertretene Kläger auch keine hinreichenden Tatsachen für die Annahme einer sog Überraschungsentscheidung vorgetragen. Hierzu hätte der Kläger vorbringen müssen, dass er unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Sachentscheidung habe rechnen können. Es besteht nämlich insbesondere gegenüber rechtskundig vertretenen Beteiligten weder eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage noch die Pflicht, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen, denn das Gericht kann und darf das Ergebnis der Entscheidung, die in seiner nachfolgenden Beratung erst gefunden werden soll, nicht vorwegnehmen. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl zB BSG Beschlüsse vom 31.8.1993 - 2 BU 61/93 - HVBG-Info 1994, 209; vom 13.10.1993 - 2 BU 79/93 - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 und vom 17.2.1999 - B 2 U 141/98 B - HVBG-Info 1999, 3700; BVerfGE 66, 116, 147; 74, 1, 5; 86, 133, 145). Art 103 Abs 1 GG gebietet vielmehr lediglich dann einen Hinweis, wenn das Gericht auf einen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter nicht zu rechnen brauchte (vgl BVerfGE 84, 188, 190 [BVerfG 29.05.1991 - 1 BvR 1383/90]). Ein derartiger Vortrag des Klägers, dass er unter keinen Umständen mit der vom LSG getroffenen Entscheidung habe rechnen können, wäre hier umso mehr erforderlich gewesen, als in einem tatsachengerichtlichen Verfahren, in dem aus den Beurteilungen von mehreren Sachverständigen unterschiedliche Bewertungen für die Gesamteinschätzung der Behinderungen abgeleitet werden und zwischen den Beteiligten streitig erörtert werden, jeder Beteiligte, also auch der Kläger, damit rechnen muss, dass das Gericht auch zu seinen Ungunsten entscheiden kann. Dies umso mehr, als erstinstanzlich bereits die Klage erfolglos geblieben war. Schließlich hat der Kläger auch nicht dargelegt, inwiefern er in der mündlichen Verhandlung des LSG alle prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 35). Auch fehlt es an Ausführungen dazu, weshalb bei einer höheren Einzelgrad-Bewertung im orthopädischen Bereich schließlich der Gesamt-GdB nach der Rechtsauffassung des LSG mindestens mit 50 einzuschätzen gewesen wäre. Art 103 Abs 1 GG schützt einen Kläger nicht davor, dass ein Gericht die Rechtsansicht eines Beteiligten nicht teilt (BVerfGE 64, 1, 12; 76, 93, 98).

7

Im Übrigen kritisiert der Kläger lediglich die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG), womit er gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein keine Revisionszulassung erreichen kann. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzutreffende Rechtsanwendung des LSG rügen wollte (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).

8

2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

9

3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).

10

4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

Dr. Roos
Othmer
Dr. Röhl

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