Wie in vielen Rechtsbereichen gehören auch im Sozial- und Sozialversicherungsrecht medizinische Begutachtungen zum Alltag. Ihr Aufgabengebiet ist vielfältig: Ob eine Erwerbsminderungsrente zu bewilligen oder der Grad der Behinderung (GdB) im Schwerbehindertenrecht festzusetzen ist: Ohne die fachkundige Hilfe medizinischer Gutachter lassen sich solche Entscheidungen nicht treffen. In der gesetzlichen Pflegeversicherung ermitteln Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) die Pflegestufe. Sie kontrollieren auch im Auftrag der Krankenkassen die Notwendigkeit und Dauer stationärer Krankenhausbehandlungen etc. Den Unfallversicherungsträgern helfen Sachverständige, eine Feststellung über die Schwere von Unfallfolgen und die Höhe der Unfallrente zu treffen. Entspricht jedoch das Ergebnis nicht den Erwartungen des Antragstellers, kommt es zu Klagen. Wer schlechte Erfahrungen gemacht hat, mag mitunter zu der Auffassung neigen, dass gegen Gutachten kein Kraut gewachsen sei. Diese Einschätzung ist jedoch nicht zutreffend. Gutachter erfüllen eine wichtige Aufgabe. Ihre Tätigkeit unterliegt zudem strengen rechtlichen Kontrollen. Entscheidend ist, ihnen wichtige Tatsachen vollständig mitzuteilen und vorhandene Kontrollmöglichkeiten wahrzunehmen. Diese Möglichkeiten sind durchaus vielfältig:
I. Allgemeine Anforderungen an Gutachten und Gutachter
1. Persönliche Begutachtung
Der beauftragte Sachverständige muss die Begutachtung grundsätzlich selbst durchführen. In gewissem Umfange dürfen zwar Hilfskräfte eingesetzt werden. Es ist aber nicht zulässig, die Kernaufgaben an Hilfskräfte zu delegieren, wenn nicht das Gericht den Gutachter hierzu ausdrücklich ermächtigt hat. Hin und wieder berichten Mandanten, der Gutachter habe sie nur begrüßt, die relevanten Gespräche, Untersuchungen und Auswertungen seien dagegen von Assistenten durchgeführt worden. Ein solches Gutachten dürfte kaum verwertbar sein.
2. Vollständigkeit
Berücksichtigt die Anamnese (= Angaben über die Vorgeschichte einer Krankheit) alle relevanten Aussagen des Betroffenen, seiner Ärzte und Krankenhäuser? Hat der Gutachter alle geschilderten Beschwerden vollständig erfaßt? Dieser Punkt kann z. B. im Rentenversicherungsrecht entscheidende Bedeutung erlangen. So ist zwar ein Versicherter, der noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten mit gewissen Einschränkungen verrichten kann, grundsätzlich nicht erwerbsgemindert. Von diesem Grundsatz hat das Bundessozialgerichts Ausnahmen u.a. dann zugelassen, wenn eine sogenannte "spezifische Leistungsbehinderung" vorliegt. Als solche kommen unter anderem die Gebrauchsunfähigkeit einer Hand oder auch regelmäßig einmal wöchentlich auftretende Fieberschübe in Betracht. Wenn dem Gutachter diese spezifischen Leistungseinschränkungen nicht oder nur mißverständlich mitgeteilt werden, können sie nicht berücksichtigt werden. Das Gutachten kommt dann zwangsläufig zu einem u
3. Fachliche Standards
Stimmen die Feststellungen des Gutachters mit der herrschenden Lehrmeinung seines Fachgebietes überein? Hat der Gutachter die nach dem Stand der herrschenden Lehrmeinung notwendigen Untersuchungen durchgeführt? Wurden die Grenzen des Fachgebiets eingehalten oder überschritten? Selbst der medizinische Laie kann die Einhaltung fachlicher Standards ohne großen Aufwand kontrollieren. Das Internet macht es möglich. Medizinische Fachgesellschaften publizieren regelmäßig Leitlinien zu Diagnosen und Behandlungen einzelner Erkrankungen. So lässt sich ohne großen Aufwand prüfen, ob die geltenden Standards eingehalten werden oder nicht.
Die Festsetzung eines GdB (Grad der Behinderung) im Schwerbehindertenrecht erfolgt auf der Grundlage der sogenannten "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit". Dies sind Begutachtungsrichtlinien, in denen bestimmte Funktionsbeeinträchtigungen prozentual gewichtet werden. Sie beschreiben die GdB/MdE-Bildung und Bewertung von Gesundheitsstörungen im sozialen Entschädigungsrecht und Schwerbehindertenrecht. Sie stellen zwar keine Rechtsnormen dar, sind aber als Ergebnis eines Abstimmungsverfahrens zwischen den zuständigen Ministerien, den Verbäden, Arbeitsgemeinschaften und Selbsthilfegruppen der Betroffenen und Medizinern herausgegeben und veröffentlicht. Das Bundessozialgericht bezeichnet sie als vorweggenommenes Sachverständigengutachten, dass den aktuellen Wissens- und Erkenntnisstand der herrschenden medizinischen Lehrmeinung, d. h. der sogenannten Schulmedizin wiedergibt. Jedes Gutachten im Schwerbehinderten- und Entschädigungsrecht muss einer Kontrolle anhand der AHP standhalten.
Im Unfallversicherungsrecht gelten ähnliche Tabellen. Es handelt sich um die sogenannten "MdE-Erfahrungswerte", die sich in der gesetzlichen Unfallversicherung im Laufe der Zeit bei einer Vielzahl von Unfallfolgen oder Berufskrankheiten für die Schätzung der MdE herausgebildet haben. Sie dienen als Anhaltspunkte für die MdE-Einschätzung für den Einzelfall und sind ebenfalls von der Rechtsprechung anerkannt (Bundessozialgericht, U. v. 18.03.2003, B 2 U 31/02 R). Sie bilden in der Regel die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet. Ein Sachverständigengutachten im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung muss somit auch einer Kontrolle anhand der Erfahrungswerte standhalten.