Bundesgerichtshof
Urt. v. 23.03.1995, Az.: 4 StR 746/94
Rauschgifthandel; Mehrere Fälle; Unvollständige Sachverhaltsaufklärung; In dubio pro reo; Tateinheit
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 23.03.1995
- Aktenzeichen
- 4 StR 746/94
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 12848
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- MDR 1995, 836 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1995, 2300-2301 (Volltext mit amtl. LS)
- StV 1995, 417-418
Amtlicher Leitsatz
Haben sich in der Hauptverhandlung keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß mehrere Fälle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln dieselbe Rauschgiftmenge betreffen, so gebietet es der Zweifelsgrundsatz nicht, eine einheitliche Tat anzunehmen
Gründe
Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen gemeinschaftlich begangenen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zehn Fällen verurteilt und gegen den Angeklagten K. auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren, gegen den Angeklagten C. auf eine solche von sieben Jahren erkannt. Hiergegen wenden sich die Angeklagten mit ihren Revisionen, mit denen sie die Verletzung sachlichen Rechts rügen und das Verfahren beanstanden.
Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigungen deckt keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf (§ 349 Abs. 2 StPO). Näherer Erörterung bedarf nur das Konkurrenzverhältnis der abgeurteilten Fälle des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge.
1. Nach den Feststellungen lieferten die Angeklagten Ende September/Anfang Oktober 1993 an drei junge Türken zunächst eine "Probe" von 50 g Heroin. Nachdem sich deren Abnehmer mit der Qualität zufrieden zeigten und die jungen Türken mit den Liefermodalitäten einverstanden waren, beschlossen die Angeklagten, sie dauerhaft mit Heroin zu beliefern. Die Bestellungen erfolgten je nach Bedarf. Es sollten Mengen von 100 g aufwärts geliefert werden. Der Preis betrug für 100 g Heroin 3.000 DM. Die Lieferungen erfolgten auf Kommissionsbasis, so daß der Preis für eine Lieferung erst vor Bestellung der nächsten gezahlt werden mußte. Die Strafkammer hat außer der Probelieferung "im Rahmen dieser Geschäftsbeziehung" weitere neun Einzellieferungen bis Ende Dezember 1993 festgestellt, und zwar im Oktober vier zu 100 g, im November zwei zu 500 g sowie im Dezember zwei zu 500 g und eine zu 250 g Heroin.
2. Auf der Grundlage dieser Feststellungen ist das Landgericht im Ergebnis zu Recht von zehn selbständigen Handlungen und nicht von einer Tat im Sinne einer Bewertungseinheit ausgegangen.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine einheitliche Tat des unerlaubten Handeltreibens anzunehmen, wenn ein und derselbe Güterumsatz Gegenstand der strafrechtlichen Bewertung ist (BGHSt 30, 28, 31; BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 27; BGH StV 1994, 658). Alle Betätigungen, die sich auf den Vertrieb desselben, in einem Akt erworbenen Betäubungsmittels richten, sind als eine Tat des unerlaubten Handeltreibens anzusehen, weil der Erwerb und der Besitz von Betäubungsmitteln, die zum Zwecke gewinnbringender Weiterveräußerung bereitgehalten werden, bereits den Tatbestand des Handeltreibens in bezug auf die Gesamtmenge erfüllen. Zu dieser Tat gehören als unselbständige Teilakte im Sinne einer Bewertungseinheit dann aber auch alle späteren Veräußerungsakte, soweit sie dasselbe Rauschgift betreffen (BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Konkurrenzen 4).
Daß die von den Angeklagten verkauften Mengen sämtlich oder auch nur mehrere von ihnen aus einer einheitlichen Vorratsmenge stammten, hat die Strafkammer hier aber nicht festgestellt. Ebensowenig ergeben die Feststellungen, daß die Angeklagten die zum Verkauf bereitgehaltene Rauschgiftmenge jeweils vor vollständiger Entleerung ihres Depots aufgefüllt haben. Der Senat braucht deshalb nicht zu entscheiden, ob auch in einem solchen Fall mehrere Akte des Handeltreibens zu einer Bewertungseinheit zusammengefaßt werden können, wie der 5. Strafsenat in einem Beschluß vom 12. Juli 1994 (NStZ 1994, 547, 548) eher beiläufig bemerkt hat (vgl. andererseits BGH, Urteil vom 28. September 1994 - 3 StR 261/94 - = NStZ 1995, 37, 38).
b) Auch die von den Angeklagten mit ihren Abnehmern ursprünglich getroffene "Liefervereinbarung" (UA 7/8) vermag die einzelnen Verkaufsgeschäfte nicht zu einer Tat zu verbinden. Allerdings kann auch die Absprache über eine sukzessive Lieferung von Teilmengen die aufeinanderfolgenden Teilakte der Veräußerung zu einer Tat zusammenfassen; dies gilt jedoch nur für den Fall der Absprache, eine konkret bestimmte Gesamtmenge in bestimmten Teilmengen zu liefern (BGH, Beschlüsse vom 13. Juli 1994 - 5 StR 358/94 - und vom 20. Dezember 1994 - 5 StR 696/94). Auf eine konkrete Gesamtmenge bezog sich die "ursprüngliche Liefervereinbarung" hier jedoch nicht; vielmehr erfolgten die Einzellieferungen "je nach Bedarf" aufgrund mündlicher Bestellungen (UA 7).
Aus der Feststellung, daß die ersten 50 g Heroin von den Angeklagten als "Probe" geliefert wurden, ergibt sich nichts anderes. Soweit der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs im Urteil vom 13. Dezember 1994 - 1 StR 720/94 = NJW 1995, 739 die Auffassung vertreten hat, "Probekäufe", die "der Vorbereitung eines viel größeren Geschäfts" dienten, beträfen schon deshalb "dieselbe Rauschgiftmenge" und bildeten daher mit dem weiteren Geschäft eine einheitliche Tat, bezog sich dies auf einen Fall, in dem auch Gegenstand des Geschäfts eine bestimmte Menge Rauschgift war; so lag es hier aber nicht.
3. Auch der Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" gebot es nicht, zugunsten der Angeklagten von der Verbindung mehrerer der Verkaufsgeschäfte zu einer Tat im Rechtssinne auszugehen.
a) Grundsätzlich sind mehrere natürliche Handlungen auch mehrere Taten im Rechtssinne. Davon darf nicht abgewichen werden, wenn die Zusammenfassung mehrerer Handlungsweisen zu einer Tat den Täter rechtlich benachteiligen würde. Daher darf nicht unterstellt werden, daß der Täter eine größere Menge von vornherein zum wiederholten Veräußern vorrätig gehalten hat, wenn er durch die Annahme des damit verwirklichten unerlaubten Besitzes einer nicht geringen Menge gemäß § 29 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 BtMG a.F. beziehungsweise § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG n.F. beschwert würde (BGHR BtMG § 29 a Abs. 1 Nr. 2 Menge 1). Auch eine Zusammenrechnung mehrerer Teilmengen zu einer Gesamtmenge, die erst ihrerseits die Grenze der nicht geringen Menge erreicht oder überschreitet, kommt nicht in Betracht, wenn sie auf der bloßen Annahme einer die Gesamtmenge betreffenden Liefervereinbarung beruht, die in bezug auf die Gesamtmenge die Voraussetzungen vollendeten Handeltreibens erfüllt (vgl. dazu oben 2.b); BGHR BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Handeltreiben 19, 31, 32).
b) Wenn sich in der Hauptverhandlung keine Anhaltspunkte dafür ergeben haben, daß an sich selbständige Rauschgiftgeschäfte dieselbe Rauschgiftmenge betreffen, vielmehr nur mehrere Verkäufe in selbständigen Handlungen festgestellt sind, stellt es keinen Rechtsfehler dar, wenn der Tatrichter im Urteil die Frage einer Tat im Rechtssinne nicht erörtert. Der Zweifelsgrundsatz bedeutet nämlich nicht, daß der Richter von der günstigsten Fallgestaltung auch dann ausgehen muß, wenn hierfür keine Anhaltspunkte bestehen (Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 41. Aufl. § 261 Rdn. 26 m. Rspr.-Nachw.). Es sind nicht alle nur denkbaren Gesichtspunkte, zu denen keine Feststellungen getroffen werden können, zugunsten des Angeklagten zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ 1983, 133 m.N.). Nur wenn Umstände bekannt geworden sind, nach denen die mehreren natürlichen Handlungen zu einer Tat im Rechtssinne zusammengefaßt werden könnten, gebietet der Zweifelsgrundsatz die Annahme von Tateinheit statt Tatmehrheit (BGHR StGB § 52 Abs. 1 in dubio pro reo 1 bis 5).
Diese Grundsätze erfahren auch dann keine Einschränkung, wenn der Angeklagte nur pauschal bestreitet oder zum Tatvorwurf schweigt. Läßt sich aus diesem Grund der Sachverhalt nicht weiter aufklären, so verlangt der Zweifelsgrundsatz gleichwohl nicht, allein deshalb die tatsächlichen Voraussetzungen nur einer Handlung zu Gunsten des Angeklagten anzunehmen (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 261 Rdn. 76 a.E.; Hanack in Löwe/Rosenberg aaO. § 337 Rdn. 163). Dem Angeklagten darf zwar kein Nachteil daraus erwachsen, daß er die Tat bestreitet oder zur Sache nicht aussagt und deshalb nicht in der Lage ist, Umstände vorzutragen, die sich zu seinen Gunsten auswirken können (vgl. BGHR StPO § 261 in dubio pro reo 7). Seine Aussagefreiheit und damit sein Recht, die zweckmäßigste Art seiner Verteidigung zu wählen (vgl. BGHSt 25, 325, 331 [BGH 14.05.1974 - 1 StR 366/73]/332; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO. § 136 Rdn. 7 m.w.N.), werden aber nicht dadurch verkürzt, daß das Gericht an sich mögliche günstige Schlüsse, für die es keine tatsächliche Grundlage gibt, nicht zieht. Aus dem erwähnten Urteil vom 13. Dezember 1994 - 1 StR 720/94 - (NJW 1995, 739) ergibt sich nichts anderes. Der 1. Strafsenat hat das vom Landgericht als vier Einzeltaten abgeurteilte Handeltreiben als einheitliche Tat bewertet, weil es das Landgericht für möglich hielt, daß die verkaufte Rauschgiftmenge aus einer einheitlichen Gesamtmenge stammte. Damit ist aber nichts darüber gesagt, wann der Tatrichter Zweifel haben müßte, die ihn zur Annahme einer rechtlichen Handlungseinheit zwingen.
c) Die Feststellungen des angefochtenen Urteils weisen hiernach auch unter Berücksichtigung des Zweifelsgrundsatzes keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf. Dem Urteil sind keine Umstände zu entnehmen, die "in dubio pro reo" die Annahme einer Zusammenfassung mehrerer der Veräußerungsgeschäfte zu einer Tat gebieten. Allein aus dem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang der Taten folgt noch nicht, daß die Angeklagten das weiterveräußerte Heroin schon zuvor in größerer Menge "gebunkert" hatten. Das wäre auch dann nicht anzunehmen, wenn die Angeklagten das zum Verkauf bestimmte Rauschgift jeweils am selben Ort deponiert hätten (vgl. UA 7). Auch wenn sie nur über ein Versteck verfügten, folgt daraus noch nicht, daß sie dort.auch größere Mengen als die jeweiligen Verkaufsmengen lagerten. Es besteht auch kein Erfahrungssatz, daß es sich bei mehrmaliger Veräußerung von Rauschgift an denselben Abnehmer jeweils um Teillieferungen aus einer gelagerten Gesamtmenge handelt, zumal sich der Lieferant im Regelfall das Rauschgift seinerseits besorgen muß. Auch entspricht es wegen der Gefahr des vollen Entdeckungsrisikos nicht ohne weiteres den üblichen Gepflogenheiten im Rauschgifthandel, daß der Zwischenhändler größere Mengen als nötig verwahrt (vgl. BGHR BtMG § 29 Beweiswürdigung 13; Körner BtMG 4. Aufl. § 29 Rdn. 366).
Haben die Angeklagten nur pauschal bestritten oder sich nicht zur Sache eingelassen und deshalb auch nichts zu ihrer Entlastung vorgetragen, so brauchte das Landgericht auch nicht von sich aus einen für sie günstigeren Sachverhalt anzunehmen, auf den sie sich nicht berufen haben und für den auch sonst keine Anhaltspunkte vorlagen.