Bundesgerichtshof
Urt. v. 03.07.1990, Az.: VI ZR 239/89
Anscheinsbeweis; Verkehrsunfall; Typische Verletzungen; Nichtbenutzung des Sicherheitsgurtes
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 03.07.1990
- Aktenzeichen
- VI ZR 239/89
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1990, 13756
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- Koblenz
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- DAR 1990, 379-381 (Volltext mit amtl. LS)
- DB 1990, 2117 (amtl. Leitsatz)
- MDR 1991, 235 (Volltext mit amtl. LS)
- NJ 1990, 561 (amtl. Leitsatz)
- NJW 1991, 230-231 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW-RR 1991, 413 (amtl. Leitsatz)
- NZV 1990, 386-387 (Volltext mit amtl. LS)
- VersR 1991, 195-196 (Volltext mit amtl. LS)
Redaktioneller Leitsatz
Erleidet ein Pkw-Insasse infolge eines Verkehrsunfalls bestimmte, typische Unfallverletzungen, kann ein Anscheinsbeweis für die Nichtbenutzung des Sicherheitsgurtes bejaht werden.
Hinweise:
Zum Anscheinsbeweis für die Ursächlichkeit des Nichtangeschnalltseins s. a. OLG Hamm, VRS 76, 112 = NZV 1989, 76. - bei Auffahrunfall mit 2 g (g = Erdbeschleunigung) verhindert Sicherheitsgurt Hyperextension der Wirbelsäule;
OLG Hamm (13 U 28/88) VersR 1990, 986 = VRS 1990, 284 = r+s 1990, 233.
Tatbestand:
Am 15. Januar 1984 geriet ein von dem Erstbeklagten gesteuertes Geländefahrzeug des Zweitbeklagten, das bei der Drittbeklagten gegen Haftpflicht versichert ist, auf der Bundesstraße 51 auf schnee- und eisglatter Fahrbahn ins Schleudern und stellte sich quer auf der für den Gegenverkehr vorgesehenen Fahrbahn. Dort stieß der aus entgegengesetzter Richtung kommende und von dem Sohn der Klägerin gesteuerte PKW Fiat Panda, in welchem die Klägerin auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, frontal gegen das fast zum Stehen gekommene Geländefahrzeug. Die Klägerin erlitt dabei eine mehrfache Fraktur des rechten Oberarms, eine Luxationsfraktur des rechten Hüftgelenks mit Schädigung des Hüftkopfes, eine leichte Schädelprellung rechts mit Gehirnerschütterung. Ferner behauptet sie einen Bruch der 6. Rippe rechts.
Die Beklagten räumen ein, daß der Erstbeklagte schuldhaft den Unfall herbeigeführt hat. Zwischen den Parteien besteht aber Streit, ob die Klägerin den Sicherheitsgurt angelegt hatte.
Zum Ausgleich der Schadensfolgen hat die Drittbeklagte an die Klägerin insgesamt 44.500 DM gezahlt, wovon 30.000 DM auf das geltend gemachte Schmerzensgeld und 8.836 DM auf den Erwerbsschaden verrechnet werden sollten. In Höhe des restlichen Vorschusses von 5.664 DM will die Drittbeklagte eine Verrechnung mit künftigen unfallbedingten Ansprüchen der Klägerin vornehmen.
Mit der Klage hat die Klägerin ein weiteres Schmerzensgeldkapital, eine Schmerzensgeldrente sowie die Feststellung begehrt, daß die Beklagten verpflichtet seien, ihr sämtliche materiellen Schäden aus dem Unfall zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen seien. Diesen Feststellungsanspruch haben die Beklagten zu zwei Drittel anerkannt.
Das Landgericht hat die Beklagten zu 1) und 3) zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes von 10.000 DM nebst Zinsen verurteilt und die Verpflichtung aller Beklagten ausgesprochen, der Klägerin sämtliche in Zukunft unfallbedingt entstehenden materiellen Schäden zu 2/3 zu ersetzen, soweit kein Rechtsübergang erfolgt ist. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen..
Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht den Schmerzensgeldanspruch gegen die Beklagten zu 1) und 3) dem Grunde nach voll für gerechtfertigt erklärt und auch dem Feststellungsanspruch gegen die Beklagten zu 1) bis 3) im wesentlichen voll stattgegeben; es hat die Klage nur abgewiesen, soweit die Klägerin die Feststellung der Verpflichtung der Zweitbeklagten zum Ersatz künftigen immateriellen Schadens verlangt hat. Die Anschlußberufung der Beklagten hatte keinen Erfolg.
Mit der Revision erstreben die Beklagten die Abweisung der Klage, soweit die Beklagten zu 1) und 3) zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes verurteilt worden sind und im übrigen die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht folgt im Grundsatz der Rechtsprechung des erkennenden Senats, daß die Ersatzansprüche eines Kraftfahrzeuginsassen, der gegen die Anschnallpflicht (§ 21 a StVO) verstößt, nach § 254 BGB gekürzt werden können, wenn er, hätte er sich angeschnallt, nicht oder nicht in dem Maße verletzt worden wäre, wie es tatsächlich geschehen ist (vgl. Senatsurteil vom 1. April 1980 - VI ZR 40/79 - VersR 1980, 824, 825 m.w.Nachw.). Es kann jedoch aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme nicht die Überzeugung gewinnen, daß die Klägerin bei dem Unfall nicht angeschnallt war. Dies beruht vor allem darauf, daß es ein Gurtversagen nicht ausschließen kann.
II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.
Die Revision rügt mit Erfolg, daß das Berufungsgericht zu Unrecht die Prüfung der Frage unterlassen hat, ob nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises hätte festgestellt werden können, daß die Klägerin bei dem Zusammenstoß der beiden Fahrzeuge nicht angeschnallt war.
1. Das Berufungsgericht geht an sich zutreffend davon aus, daß dem Schädiger jedenfalls dann die Beweisführung durch einen Anscheinsbeweis erleichtert werden kann, wenn nur zu beurteilen ist, ob ein Ursachenzusammenhang zwischen einem festgestellten oder unstreitigen Nichtanschnallen eines Fahrzeuginsassen und dessen Verletzungen besteht. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß der Unfall einer der hierfür typischen Gruppen von Unfallabläufen zuzuordnen ist (Senatsurteile vom 1. April 1980, aaO unter II. 3. a), aa) und vom 25. Januar 1983 - VI ZR 92/81 - VersR 1983, 440; Entschließung Nr. 2 des Arbeitskreises I des 16. Verkehrsgerichtstages 1978, VGT 1978, S. 7; Geigel/Haag, Der Haftpflichtprozeß, 20. Auflage, 1990, 27. Kapitel, Rdn. 549; Händel, NJW 1979, 2289, 2290; Hofmann, Haftpflichtrecht für die Praxis, 1989, 1.11.8.4., Rdn. 162 d; Weber, NJW 1986, 2667, 2675; OLG München, VersR 1979, 1157; OLG Hamm, VersR 1987, 205, 206 [OLG Hamm 26.06.1985 - 13 U 277/82]; kritisch Ludolph, NJW 1982, 2595; Landscheidt, NZV 1988, 7, 8).
2. In der Rechtsprechung ist nun aber auch seit langem anerkannt, daß mittels eines Anscheinsbeweises nicht nur von einem feststehenden Verhalten auf den Zusammenhang mit einem eingetretenen Erfolg, sondern auch umgekehrt von einem eingetretenen Erfolg auf ein bestimmtes Verhalten als Ursache geschlossen werden kann (so ausdrücklich Senatsurteile vom 10. Juli 1956 - VI ZR 199/55 - VersR 1956, 577 und vom 11. Juni 1965 - VI ZR 64/64 - VersR 1965, 772; auch E. Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 4. Aufl. 1987, Rdnr. 242). Auch für den Beweis, daß ein Fahrzeuginsasse nicht angeschnallt war, wird deshalb gelegentlich im Schrifttum (vgl. Geigel/Haag und Hofmann, aaO; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 30. Aufl., § 21 a StVO, Rdnr. 9; Schneider, aaO, Rdnr. 418) und in der Rechtsprechung (OLG Bamberg, VersR 1982, 1075; 1985, 786, 787) auf einen Anscheinsbeweis zurückgegriffen.
Der erkennende Senat folgt ebenfalls dieser Auffassung.
Voraussetzung für jede Anwendung des Anscheinsbeweises ist allerdings, daß ein typischer Geschehensablauf vorliegt (BGHZ 2, 1, 5 [BGH 17.04.1951 - I ZR 28/50]; 11, 227, 230; 31, 351, 357; 104, 323, 330; Senatsurteile vom 19. Dezember 1958 - VI ZR 264/57 - VersR 1959, 391 und vom 19. November 1985 - VI ZR 176/84 - VersR 1986, 343, 344; weitere Rechtsprechungsnachweise in RGRK-BGB 12. Aufl., § 823 Rdnr. 511 ff). Deshalb kann auch demjenigen, der einen Kraftfahrzeugunfall verursacht hat, für seine Behauptung, der verletzte Kraftfahrzeuginsasse sei nicht angeschnallt gewesen, nur dann ein Anscheinsbeweis zugute kommen, wenn sich aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze der Schluß aufdrängt, daß die erlittenen Verletzungen bei der Art und Weise des Zusammenstoßes nur darauf zurückgeführt werden können, daß der PKW-Insasse nicht angeschnallt war. Diese Voraussetzung kann auch im Streitfalle erfüllt sein. Bereits der vom Landgericht herangezogene Sachverständige Prof. Sch. hat nämlich dargelegt, nach Kollisionsart und -schwere wäre die Luxationsfraktur der Klägerin am rechten Hüftgelenk mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht entstanden, wenn die Klägerin zur Unfallzeit den Sicherheitsgurt getragen hätte, und der Sachverständige Prof. M. hat, wie das Berufungsgericht nicht verkennt, das Verletzungsmuster der Klägerin als atypisch für einen angegurteten PKW-Insassen bei Frontalkollision bezeichnet.
3. Der Anwendung des Anscheinsbeweises steht nicht entgegen, wie das Berufungsgericht offenbar meint, daß die Klägerin die gleichen Verletzungen erlitten haben könnte, wenn ein etwa angelegter Gurt versagt hat und daß ein Gurtversagen im Streitfalle auch möglich ist.
Allerdings greift der Anscheinsbeweis nicht ein, wenn das Schadensgeschehen Umstände aufweist, die es ernsthaft als möglich erscheinen lassen, daß der Unfall anders abgelaufen ist als nach dem "Muster" der der Anscheinsregel zugrundeliegenden Erfahrungstypik. Die häufig nicht auszuschließende reine Denkmöglichkeit, daß ein bestimmtes Schadensereignis auch durch eine andere Ursache ausgelöst worden ist als derjenigen, für die ein Anscheinsbeweis spricht, reicht jedoch noch nicht aus, um den Anscheinsbeweis zu erschüttern. Der Hinweis auf eine solche Möglichkeit eines anderen Verlaufs entkräftet deshalb den Anscheinsbeweis noch nicht. Es müssen vielmehr besondere Umstände hinzukommen, die wegen dieser Abweichungen des Sachverhalts von den typischen Sachverhalten einen solchen Geschehensablauf als ernsthafte, ebenfalls in Betracht kommende Möglichkeit nahelegen (BGH, Urteil vom 20. Juni 1978 - VIII ZR 15/77 - VersR 1978, 945). Diese Umstände, aus denen sich die ernste Möglichkeit einer anderen Ursache ergeben soll, müssen gegebenenfalls von den Beklagten zur Überzeugung des Tatrichters nachgewiesen werden (BGHZ 6, 169, 170 [BGH 23.05.1952 - I ZR 163/51]; Senatsurteile vom 1. April 1953 - VI ZR 77/52 - VersR 1953, 242; vom 12. Februar 1957 - VI ZR 303/56 - VersR 1957, 252; vom 20. Juni 1978 - aaO und vom 18. Oktober 1988 - VI ZR 223/87 - VersR 1989, 54, 55).
Nach den bisher vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, daß ein Gurtversagen in diesem Sinne ernsthaft in Betracht kommt. Das Berufungsgericht erwähnt in diesem Zusammenhang nur, daß nach den Bekundungen des Sachverständigen Prof. N. der Arretierungsmechanismus der Gurte nur "in seltenen Fällen" versagt und der Gurt in solchen Fällen vollkommen ausrollt, und daß dann Verletzungen wie bei einem nicht angelegten Gurt erklärlich sind. Ein Gurtversagen kommt auch nicht etwa deshalb ernsthaft in Betracht, weil das Berufungsgericht meint, die Bekundungen der Klägerin bei ihrer Vernehmung als Partei und der Zeugenvernehmung des Sohnes der Klägerin, wonach die Klägerin tatsächlich angeschnallt gewesen sein soll, könnten "nicht ohne weiteres als unzutreffend bezeichnet werden", und daß nach Auffassung des Berufungsgerichts weitere Erwägungen dafür sprechen, daß die Klägerin angegurtet war. Wenn sich das Berufungsgericht, wie geschehen, nicht davon überzeugen konnte, daß dies tatsächlich der Fall war, dann durfte es auch nicht davon ausgehen, daß die Verletzungen der Klägerin auf ein Gurtversagen zurückgeführt werden konnten.
III. Bei dieser Sachlage muß das Berufungsurteil aufgehoben werden, soweit darin auf die Berufung der Klägerin zum Nachteil der Beklagten erkannt und die Anschlußberufung der Beklagten zurückgewiesen worden ist.
Aufgrund der bis jetzt vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen kann der erkennende Senat nicht abschließend in der Sache entscheiden. Es fehlen vor allem Feststellungen dazu, ob der Unfall der Klägerin den typischen Gruppen von Unfallabläufen zuzuordnen ist, bei denen ein Anscheinsbeweis dafür bejaht werden kann, daß der verletzte PKW-Insasse den Sicherheitsgurt nicht benutzt hat. Es fehlen insbesondere Feststellungen zur Kollisionsgeschwindigkeit sowie dazu, ob und ggfls. welche Beschädigungen an der Fahrgastzelle entstanden sind. In den beigezogenen Strafakten findet sich nur der Hinweis, daß die gesamte Fahrzeugfront des PKW eingedrückt war, in dem sich die Klägerin befand. Von diesen noch nachzuholenden Feststellungen ist es abhängig, ob die erlittenen Verletzungen der Klägerin typischerweise dafür sprechen, daß sie nicht angeschnallt war (vgl. Danner, VGT 1978, S. 42, 47 f.). Außerdem ist offen, ob der Tatrichter bei abschließender Würdigung des Beweisergebnisses evtl. doch noch positiv feststellt, daß die Klägerin tatsächlich angegurtet war.