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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 29.11.2023, Az.: XII ZR 36/23
Zulassung der Revision in einem Mietrechtsverfahren aufgrund der Verletzung rechtlichen Gehörs durch unzulässige Bezugnahme auf den Vorprozess ohne Berücksichtigung später eingereichter Schriftstücke
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 29.11.2023
Referenz: JurionRS 2023, 47975
Aktenzeichen: XII ZR 36/23
ECLI: ECLI:DE:BGH:2023:291123BXIIZR36.23.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

LG Hamburg - 17.06.2022 - AZ: 307 O 124/21

OLG Hamburg - 15.03.2023 - AZ: 4 U 118/22

BGH, 29.11.2023 - XII ZR 36/23

Redaktioneller Leitsatz:

Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Parteien ein Recht darauf, dass sie Gelegenheit erhalten, im Verfahren zu Wort zu kommen und dass das Gericht nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse verwerten darf, zu denen die Parteien Stellung nehmen konnten. Das gilt selbst hinsichtlich "gerichtskundiger" Tatsachen, die das Gericht seiner Entscheidung nicht zugrunde legen darf, ohne den Parteien vorher Gelegenheit zu geben, sich zu ihnen zu äußern.

Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. November 2023 durch den Vorsitzenden Richter Guhling, die Richter Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger und die Richterinnen Dr. Pernice und Dr. Recknagel
beschlossen:

Tenor:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird die Revision gegen das Urteil des 4. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 15. März 2023 zugelassen.

Auf die Revision der Klägerin wird das vorgenannte Urteil aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Wert: 43.032 €

Gründe

I.

1

Die Klägerin macht gegen die Beklagten Zahlungsansprüche aus einem angefochtenen gewerblichen Mietvertrag geltend.

2

Die Beklagten mieteten von der Klägerin mit Vertrag vom 6. September 2018 Räumlichkeiten zum Betrieb eines Shisha-Cafés. Da beim Abschluss des Mietvertrags ein Zwangsversteigerungsverfahren über das streitgegenständliche Grundstück anhängig war, erklärten die Beklagten mit Anwaltsschreiben vom 10. September 2018 die Anfechtung des Mietvertrags mit der Begründung, ihnen sei dies nicht mitgeteilt worden. Durch ein rechtskräftig gewordenes Urteil des Landgerichts vom 20. April 2020 wurde festgestellt, dass die Anfechtung des Mietvertrags durch die Beklagten wegen arglistiger Täuschung wirksam ist. Mit anwaltlichem Schreiben vom 24. Oktober 2018 erklärte die Klägerin die fristlose Kündigung des Mietvertrags wegen Zahlungsverzugs und forderte die Beklagten zur Rückgabe der Schlüssel auf. Zu einer Schlüsselrückgabe kam es nicht.

3

Das Landgericht hat die auf Zahlung eines der Miete für den Zeitraum von Oktober 2018 bis Juni 2019 entsprechenden Betrags gerichtete Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat eine Beweisaufnahme zu den Vorgängen im Zusammenhang mit der von den Beklagten behaupteten versuchten Schlüsselrückgabe durchgeführt und schließlich die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Zurückweisung ihrer Berufung und die Nichtzulassung der Revision.

II.

4

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Zulassung der Revision und zur Aufhebung des angegriffenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

5

1. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:

6

Der Klägerin stehe kein Anspruch auf Ersatz eines Mietausfallschadens nach §§ 280, 286 BGB gegen die Beklagten zu. Diese seien zwar in Verzug mit ihrer Rückgabepflicht gekommen, weil sie die Schlüssel des Mietobjekts nicht zurückgegeben hätten. Es könne auch ein verzugsbedingter kausaler Schaden der Klägerin entstanden sein, weil sie als Zwischenmieterin verpflichtet gewesen sei, bis zur Rückgabe des Mietobjekts ihrerseits Miete an ihre Vermieterin zu zahlen. Allerdings habe die Klägerin die von den Beklagten angebotene Rückgabe der Schlüssel abgelehnt, wodurch der Verzug der Beklagten sofort wieder beendet worden sei. Die Beklagten hätten ihre Behauptung, der Zeuge F. habe bei einem Telefongespräch eine Rücknahme der Schlüssel endgültig abgelehnt, bewiesen. Die Beklagten hätten den Zeugen F. auch als vertretungsberechtigt für die Klägerin ansehen dürfen. Dieser sei zwar im Oktober 2018 nicht Geschäftsführer der Klägerin gewesen. Allerdings sei er - wie sich auch aus dem Vorprozess vor dem Landgericht ergebe - für die Beklagten der maßgebliche Ansprechpartner auf Seiten der Klägerin gewesen.

7

2. Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Zu Recht beanstandet die Klägerin, dass das Berufungsgericht entscheidungserhebliche Feststellungen unter Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) getroffen hat.

8

a) Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Parteien ein Recht darauf, dass sie Gelegenheit erhalten, im Verfahren zu Wort zu kommen und dass das Gericht nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse verwerten darf, zu denen die Parteien Stellung nehmen konnten (vgl. BGH Beschluss vom 23. Mai 2012 - IV ZB 224/10 - NJW 2012, 2354 Rn. 7; BVerfG NJW 1994, 1210 [BVerfG 29.12.1993 - 2 BvR 65/93]).

9

Dieses Recht hat das Berufungsgericht verletzt, indem es unter Bezugnahme auf den Vorprozess festgestellt hat, dass der Zeuge F. für die Beklagten der maßgebliche Ansprechpartner gewesen sei, ohne der Klägerin hierzu die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen. Die Nichtzulassungsbeschwerde weist insoweit zu Recht darauf hin, dass die Parteien im vorliegenden Rechtsstreit weder die in dem Vorprozess ergangenen Urteile noch andere Schriftstücke aus dem früheren Verfahren vorgelegt haben. Die Parteien haben auch nicht die Beiziehung der Akten des Vorprozesses angeregt oder beantragt. Ebenso wenig enthält die Gerichtsakte einen Vermerk, wonach das Berufungsgericht die Akten des Vorprozesses von Amts wegen beigezogen hat. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG läge selbst dann vor, wenn es eine "gerichtskundige" Tatsache wäre, dass der Zeuge F. für die Beklagten der maßgebliche Ansprechpartner auf Seiten der Klägerin gewesen ist. Denn auch "gerichtskundige" Tatsachen darf ein Gericht im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG seiner Entscheidung nicht zugrunde legen, ohne den Parteien vorher Gelegenheit zu geben, sich zu ihnen zu äußern (vgl. BVerfG NJW 2021, 50 [BVerfG 17.09.2020 - 2 BvR 1605/16] Rn. 15).

10

b) Der vorliegende Verstoß des Berufungsgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist auch entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass es bei Vermeidung dieses Verstoßes einen Schadensersatzanspruch der Klägerin wegen Verzugs gemäß §§ 280 Abs. 1 und 2, 286 BGB bejaht und somit der Klage stattgegeben hätte.

11

3. Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da er die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.

12

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird nach § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.

Guhling

Günter

Nedden-Boeger

Pernice

Recknagel

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