Bundesgerichtshof
Urt. v. 06.12.1994, Az.: VI ZR 80/94
Vererbung von Schmerzensgeldansprüchen; Erklärung des Verletzten zu Lebzeiten
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 06.12.1994
- Aktenzeichen
- VI ZR 80/94
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1994, 15110
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- AZRT 1995, 28-29
- BB 1995, 431 (Volltext mit amtl. LS)
- DAR 1995, 105-106 (Volltext mit amtl. LS)
- EWiR 1995, 137 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
- FamRZ 1995, 288-289 (Volltext mit amtl. LS)
- MDR 1995, 265 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1995, 783-784 (Volltext mit amtl. LS)
- NZV 1995, 144-145 (Volltext mit amtl. LS)
- VersR 1995, 353-354 (Volltext mit amtl. LS)
- ZIP 1995, A7 (Kurzinformation)
- zfs 1995, 88-89 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Nach der durch Gesetzesänderung zum 1.7.1990 erfolgten Streichung des S. 2 in § 847 Abs. 1 BGB setzt die Übertragbarkeit und Vererblichkeit des Schmerzensgeldanspruchs keine Willensbekundung des Verletzten zu Lebzeiten mehr voraus, Schmerzensgeld fordern zu wollen.
Tatbestand:
Die Kläger nehmen als Erben ihres verstorbenen Sohnes Andreas K. die Beklagten auf Zahlung von Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall in Anspruch.
Andreas K. wurde am 17. Juni 1992 bei einem Verkehrsunfall, der vom Beklagten zu 2) mit einem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Kraftfahrzeug schuldhaft verursacht wurde, schwer verletzt. Er verstarb am 7. August 1992 an den Folgen seiner Verletzungen; den weitaus größten Teil der Zeit zwischen Unfall und Tod war er ohne Bewußtsein. Zwischen den Parteien steht außer Streit, daß die Beklagten für die Unfallfolgen in vollem Umfang eintrittspflichtig sind.
Gegen den von den Klägern geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch in der Größenordnung von 10.000 DM haben die Beklagten eingewandt, trotz des durch Gesetzesänderung zum 1. Juli 1990 bewirkten Wegfalls der bisher die Vererblichkeit des Schmerzensgeldanspruchs beschränkenden Regelung des § 847 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F. sei im vorliegenden Fall kein derartiger Anspruch auf die Kläger übergegangen. Es fehle hier an der höchstpersönlichen Willensbekundung des Verletzten zu seinen Lebzeiten, Schmerzensgeld fordern zu wollen. Da es sich auch weiterhin um ein höchstpersönliches Recht des Verletzten handele, sei eine derartige Willensäußerung auch nach der Novellierung des § 847 Abs. 1 BGB erforderlich.
Das Landgericht hat die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 8.000 DM nebst Zinsen verurteilt. Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg. Mit der (zugelassenen) Revision verfolgen die Beklagten ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht ist der Ansicht, den Klägern stehe als Erben ihres verstorbenen Sohnes ein Schmerzensgeldanspruch gegen die Beklagten zu. Nach der im Wege der Gesetzesänderung erfolgten Streichung des § 847 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F. seien Schmerzensgeldansprüche nunmehr ohne Erfüllung weiterer Voraussetzungen frei vererblich, sofern nicht der Verletzte zu Lebzeiten ausdrücklich auf sie verzichtet habe; letzteres sei hier nicht festzustellen.
Soweit die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf der Grundlage der früheren Gesetzesfassung die Vererblichkeit von Schmerzensgeldansprüchen von einer auf ihre Geltendmachung gerichteten persönlichen Willensbekundung des Verletzten zu seinen Lebzeiten abhängig gemacht habe, sei dies durch die Gesetzesänderung überholt. Der Bundesgerichtshof habe dieses Erfordernis aus der nunmehr weggefallenen Vorschrift des § 847 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F. hergeleitet. Der Gesetzgeber habe durch die Streichung dieser Vorschrift den "Wettlauf mit dem Tod" beseitigen wollen und sich deshalb bewußt für die freie Übertragbarkeit und Vererblichkeit des Schmerzensgeldanspruchs ohne Einschränkungen entschieden.
II. Die hiergegen gerichteten Angriffe der Revision bleiben ohne Erfolg. Dem Berufungsgericht ist darin zuzustimmen, daß der Schmerzensgeldanspruch des Verletzten nach der seit dem 1. Juli 1990 gültigen Rechtslage auf seine Erben übergeht, ohne daß es einer vorherigen Willensbekundung des Verletzten zu seinen Lebzeiten bedarf, die Schmerzensgeldforderung geltend machen zu wollen. Durch die Streichung des § 847 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F. hat der Gesetzgeber sämtliche Einschränkungen, die bisher der freien Übertragbarkeit und Vererblichkeit des Schmerzensgeldanspruchs entgegenstanden, in vollem Umfang beseitigt.
1. Vor der durch das Gesetz zur Änderung des bürgerlichen Gesetzbuchs und anderer Gesetze vom 14. März 1990 (BGBl. 1990 I 478) herbeigeführten Änderung des § 847 Abs. 1 BGB war in dessen Satz 2 bestimmt:
"Der Anspruch ist nicht übertragbar und geht nicht auf die Erben über, es sei denn, daß er durch Vertrag anerkannt oder daß er rechtshängig geworden ist."
Diese Regelung sollte sicherstellen (vgl. Motive II S. 802) , daß nicht die Erben aus eigenem Willensentschluß einen Schmerzensgeldanspruch verfolgten, der vom Verletzten selbst nicht geltend gemacht worden war; des weiteren sollte aus Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten die Vererblichkeit nicht schon an eine nicht näher bestimmte außergerichtliche Geltendmachung, sondern an klar definierte äußere Anhaltspunkte (vertragsmäßige Anerkennung bzw. Rechtshängigkeit) geknüpft werden.
Entsprechend diesem Normzweck hat die Rechtsprechung den Eintritt der Rechtshängigkeit in diesem Sinne von der Erfüllung zweier Voraussetzungen abhängig gemacht: Zum einen mußten im streng verfahrensrechtlichen Sinne alle prozeßrechtlichen Erfordernisse der Rechtshängigkeit (etwa die Klagezustellung) gegeben sein (vgl. z.B. Senatsurteile vom 19. September 1967 - VI ZR 82/66 - VersR 1978, 1075, 1076; vom 11. Dezember 1973 - VI ZR 189/72 - VersR 1974, 489, 490; vom 22. Juni 1976 - VI ZR 167/75 - VersR 1976, 1045 und vom 8. März 1977 - VI ZR 111/76 - VersR 1977, 475, 476). Zum andern mußte diesem Eintritt der Rechtshängigkeit der vom Verletzten oder seinem gesetzlichen Vertreter erklärte Wille zugrunde liegen, den Schmerzensgeldanspruch zu verfolgen; dieser Wille konnte nicht durch denjenigen einer anderen Person, insbesondere nicht durch denjenigen des Erben des Verletzten, ersetzt werden (vgl. BGHZ 69, 323, 325 f. [BGH 04.10.1977 - VI ZR 5/77]; Senatsurteile vom 26. Juni 1984 - VI ZR 206/82 - VersR 1984, 866, 867 und vom 22. Oktober 1985 - VI ZR 206/84 - VersR 1986, 292, 293 m.w.N.).
Insoweit hatte das in § 847 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F. für die Vererblichkeit des Schmerzensgeldanspruchs aufgestellte Erfordernis der Rechtshängigkeit sowohl eine materiellrechtliche als auch eine verfahrensrechtliche Komponente (vgl. Senatsurteil vom 10. Oktober 1989 - VI ZR 78/89 - VersR 1990, 60, 61). Beide Komponenten, gerade auch das Erfordernis der persönlichen Willensbekundung des Verletzten, dienten gemeinsam dem Normzweck des § 847 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F., die Vererblichkeit und Übertragbarkeit des Schmerzensgeldanspruchs einzuschränken. Sie waren daher auch an den Fortbestand dieses Normzwecks gebunden.
2. Mit der vom Gesetzgeber vorgenommenen ersatzlosen Streichung des § 847 Abs. 1 Satz 2 BGB a.F. sind alle Erfordernisse für die Vererblichkeit und Übertragbarkeit des Schmerzensgeldanspruchs entfallen, die ihre Grundlage und Rechtfertigung in dieser Vorschrift hatten. Dies gilt in vollem Umfang für die Voraussetzungen, die für den Eintritt der Rechtshängigkeit in diesem Sinne sowohl als "verfahrensrechtliche Komponente" wie auch als "materiell-rechtliche Komponente" aufgestellt waren. Die Vererblichkeit des Schmerzensgeldanspruchs setzt nach der Neuregelung weder die Anerkennung durch Vertrag oder die Rechtshängigkeit noch die einer derartigen Manifestation der Geltendmachung nach außen zugrunde liegende und sie tragende höchstpersönliche Willensbekundung des Verletzten selbst voraus. Nur eine solche Beurteilung wird dem Anliegen gerecht, das der Gesetzgeber mit der Streichung des Satzes 2 in § 847 Abs. 1 BGB verfolgte.
a) Die Novellierung des § 847 Abs. 1 BGB sollte dazu führen, daß der Schmerzensgeldanspruch künftig "frei übertragen und vererbt werden" kann (vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf, BT-Drucks. 11/4415, S. 4). Damit sollte den Unzuträglichkeiten begegnet werden, die sich häufig gerade in Fällen schwerster Verletzungen ergeben hatten, in denen es zu einem "Wettrennen mit dem Tod" kam, auf das sich die Angehörigen einlassen mußten, um bei andauernder Bewußtlosigkeit des Verletzten etwa durch Pflegerbestellung etc. die Erfordernisse der bisherigen gesetzlichen Regelung noch rechtzeitig erfüllen zu können (vgl. hierzu Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 11/5423, S. 1). Der Absicht des Gesetzgebers, künftig die Übertragbarkeit und Vererblichkeit des Schmerzensgeldanspruchs gerade nicht mehr von den Zufälligkeiten der rechtzeitigen Erlangung einer Vollmacht des Verletzten abhängig zu machen, würde es zuwiderlaufen, wenn auch nach der Gesetzesänderung weiterhin eine Willensbekundung des Verletzten gefordert würde; diese wäre in Fällen schwerster Verletzung mit Bewußtlosigkeit des Opfers häufig (etwa über eine Betreuerbestellung) wiederum nur in einem Wettlauf mit der Zeit zu erlangen, den der Gesetzgeber nunmehr gerade verhindern wollte.
b) Daß der Schmerzensgeldanspruch in der Begründung zum Entwurf des Änderungsgesetzes (BT-Drucks. 11/4415 S. 4) weiterhin als ein solcher "höchstpersönlicher Natur" bezeichnet ist, führt nicht zu einer anderen Beurteilung; die Gesetzesbegründung läßt - wie bereits dargestellt - deutlich erkennen, daß hieraus künftig keinerlei Einschränkungen für die freie Übertragbarkeit und Vererbbarkeit des Anspruchs mehr folgen sollten.
Der Fassung des § 847 Abs. 1 Satz 1 BGB kann ein die freie Vererblichkeit einschränkendes Erfordernis der persönlichen Willensbekundung des Verletzten zu Lebzeiten nicht entnommen werden. Daß der Senat unter der Geltung der früheren Rechtslage das Erfordernis einer höchstpersönlichen Willensäußerung über die Beanspruchung von Schmerzensgeld auch mit den Zielvorstellungen des § 847 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verbindung gebracht hat (vgl. Senatsurteil vom 26. Juni 1984 - VI ZR 206/82 - aaO.), hatte in dem Einfluß des Satzes 2 auf den gesamten Inhalt des Absatzes 1 seinen Grund. Dieser ist nach der Streichung des Satzes 2, in der, wie dargelegt, der Wille des Gesetzgebers zur freien Übertragbarkeit und Vererblichkeit des Schmerzensgeldanspruchs zum Ausdruck gekommen ist, entfallen.
3. Der Schmerzensgeldanspruch ihres Sohnes Andreas K. ist daher auf die Kläger als Erben übergegangen, auch wenn sich der Verletzte zu diesem Anspruch zu Lebzeiten nicht mehr geäußert hat, unabhängig davon, ob er dies aus gesundheitlichen Gründen noch hätte tun können oder nicht. Es kann dahinstehen, wie zu entscheiden wäre, wenn Andreas K. vor seinem Tode noch den Willen bekundet hätte, kein Schmerzensgeld zu verlangen; für einen solchen Sachverhalt sind den getroffenen Feststellungen keinerlei Anhaltspunkte zu entnehmen.
4. Die Schmerzensgeldbemessung durch das Berufungsgericht, das sich insoweit auf die Überlegungen des Landgerichts bezogen hat, werden von der Revision nicht angegriffen; ein Rechtsfehler ist hier nicht zu erkennen.
III. Die Revision der Beklagten war daher mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.