Suche

Nutzen Sie die Schnellsuche, um nach den neuesten Urteilen in unserer Datenbank zu suchen!

Bundesgerichtshof
Urt. v. 05.02.1985, Az.: VI ZR 61/83

Fahrlässig verschuldete Nichtkenntnis der Person des Schädigers; Missbräuchliche Nichtkenntnis der Person des Schädigers; Hinreichend zuverlässige Kenntnis vom Schadenshergang; Kenntnis vom Schaden und von der Person des Schädigers als Kriterium für den Beginn der Verjährungsfrist nach § 852 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB); Kenntnis des Tathergangs durch Schadensanzeige; Nichtwahrnehmung einer auf der Hand liegenden Erkenntnismöglichkeit

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
05.02.1985
Aktenzeichen
VI ZR 61/83
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1985, 14494
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
KG - 10.12.1982
LG Berlin

Fundstellen

  • JZ 1985, 589
  • MDR 1985, 483 (Volltext mit amtl. LS)
  • NJW 1985, 2022-2023 (Volltext mit amtl. LS)
  • VersR 1985, 367-369 (Volltext mit amtl. LS)

Prozessführer

B. N. und G.,
vertreten durch den Hauptgeschäftsführer, S.straße 44/46, M.

Prozessgegner

Bautischler Bernhard Q., B.weg 11, B.

Amtlicher Leitsatz

Nicht die fahrlässig verschuldete, sondern nur die mißbräuchliche Nichtkenntnis der Person des Schädigers steht der in § 852 BGB für den Beginn der Verjährungsfrist verlangten Kenntnis gleich.

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs
hat auf die mündliche Verhandlung vom 5. Februar 1985
durch
den Vorsitzenden Richter Dr. Steffen und
die Richter Scheffen, Dr. Ankermann, Dr. Lepa und Dr. Schmitz
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Kammergerichts vom 10. Dezember 1982 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die klagende Berufsgenossenschaft verlangt von dem Beklagten aus übergegangenem Recht (§ 1542 RVO) Erstattung ihrer Leistungen, die sie aus Anlaß einer Verletzung ihres Versicherten D. erbracht hat. D., ein Gastwirt, war am 12. Dezember 1976 bei einer tätlichen Auseinandersetzung mit dem Beklagten, der sich in dem Lokal des D. als Gast aufgehalten hatte, am linken Auge verletzt worden. Es ist außer Streit, daß der Beklagte die Verletzung des D. schuldhaft verursacht hat.

2

Mit einem am 18. September 1980 eingereichten Mahnbescheid, der dem Beklagten am 20. September 1980 zugestellt worden ist, hat die Klägerin von dem Beklagten Erstattung ihrer verletzungsbedingten Leistungen an D. in Höhe von 50.598,17 DM nebst vorprozessualer Kosten und Zinsen verlangt. Der Beklagte hat Widerspruch erhoben und sich auf Verjährung berufen. Er hat behauptet, die Klägerin habe durch die Sachverhaltsschilderung des D. bereits im Februar 1977 von seiner Person und dem Hergang der Auseinandersetzung genaue Kenntnis erlangt.

3

Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe erstmals am 4. November 1977 Kenntnis von der Person des Schädigers, seiner Anschrift und der Art seiner Beteiligung an der Auseinandersetzung erhalten. Erst an diesem Tage habe sie durch ihre Berliner Bezirksverwaltung Einsicht in die polizeilichen Ermittlungsakten nehmen können. Vor diesem Zeitpunkt hätten ihr nur eine Unfallanzeige und ein Unfallbericht des Geschädigten vorgelegen, die keinen Hinweis auf die Person des Schädigers enthalten hätten. Antragen an die Polizei, den Geschädigten und dessen Interessenvertreter seien erfolglos geblieben.

4

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, das Kammergericht hat sie auf die Berufung des Beklagten abgewiesen.

5

Mit der Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

6

I.

Das Berufungsgericht führt aus, daß der Klägerin zwar der geltend gemachte Anspruch nach § 823 Abs. 1 BGB, § 1542 RVO zustehe, daß gegenüber diesem Anspruch jedoch die Verjährungseinrede des Beklagten durchgreife.

7

Die Verjährungsfrist bestimme sich nach § 852 BGB. Dabei komme es für die nach dieser Vorschrift erforderliche Kenntnis vom Schaden und von der Person des Schädigers nur auf die Kenntnis der Klägerin und nicht die des Geschädigten an. Die Klägerin habe durch die Schadensanzeige des Geschädigten vom 27. Dezember 1976 hinreichend zuverlässige Kenntnis vom Schadenshergang erlangt. Allerdings habe sie zunächst weder den Namen noch die Anschrift des Schädigers erfahren. Sie hätte beides aber schon vor Einsicht in die Strafakten durch eine einfache Antrage bei der Polizei oder der Staatsanwaltschaft feststellen können. Ihr sei spätestens seit Anfang April 1977 bekannt gewesen, daß und unter welchem Aktenzeichen wegen dieses Vorfalls ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sei. Da mithin die Verjährung spätestens im April 1977 zu laufen begonnen habe, sei die dreijährige Verjährungsfrist des § 852 BGB bei Einreichung des Mahnbescheides am 18. September 1980 bereits abgelaufen gewesen, so daß eine Verjährungsunterbrechnung nicht mehr habe eintreten können.

8

II.

Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.

9

1.

Allerdings sind die Überlegungen, von denen das Berufungsgericht zunächst ausgeht, rechtlich nicht zu beanstanden.

10

a)

Zutreffend ist das Berufungsgericht der Auffassung, daß die dreijährige Verjährungsfrist des § 852 Abs. 1 BGB durch die Einreichung des Mahnbescheides am 18. September 1980 nur dann noch nach §§ 209 Abs. 2 Nr. 1 BGB, 693 Abs. 2 ZPO unterbrochen werden konnte, wenn die Klägerin die in § 852 Abs. 1 BGB verlangte Kenntnis nicht schon vor dem 18. September 1977 erlangt hat. Auf die Kenntnis der Klägerin, nicht auf diejenige des Verletzten D., kommt es für die hier nach § 1542 RVOübergegangenen Forderungen an (BGHZ 48, 181, 192 [BGH 10.07.1967 - III ZR 78/66], st. Rspr.; wegen eines - hier nicht vorliegenden - Ausnahmetatbestandes vgl. Senatsurteil vom 2. März 1982 - VI ZR 245/79 - VersR 1982, 546 ff., insoweit in BGHZ 83, 162 [BGH 02.03.1982 - VI ZR 245/79] nicht abgedr.).

11

b)

Ohne Rechtsfehler ist das Berufungsgericht ferner zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin durch die Schadensanzeige des Versicherten D. vom 27. Dezember 1976 ausreichende Kenntnis i.S. von § 852 Abs. 1 BGBüber den Verletzungsvorgang erlangt hat. In der Schadensanzeige heißt es:

"Ich wurde zur Bar gerufen. Ein Gast wollte nicht bezahlen. Das Mädchen hinter der Bar weinte. Als ich den Gast am Arm von der Bar wegführen wollte, zerschlug er ein Sektglas und schlug mir den Scherben ins Gesicht."

12

Diese Angaben ließen noch ausreichend deutlich den Tathergang erkennen. Es trifft nicht zu, daß - wie die Revision in Übereinstimmung mit der Auffassung des Landgerichts geltend macht - diese Schilderung des Vorfalls durch nur einen Tatbeteiligten der Klägerin noch keine hinreichend zuverlässige Grundlage für die Beurteilung des Verletzungsvorgangs gegeben habe, so daß sie zusätzlich auf die Kenntnis der Einlassung des Beklagten angewiesen gewesen sei. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es für den Beginn des Laufs der Verjährungsfrist des § 852 Abs. 1 BGB nicht erforderlich, daß der Anspruchsträger alle Einzelheiten der schadenstiftenden Handlung weiß. Vielmehr genügt es, daß er sie in ihren Grundzügen kennt und daß gewichtige Anhaltspunkte für ein Verschulden des Verantwortlichen vorliegen, so daß er eine Schadensersatzklage - sei es auch nur eine Feststellungsklage - erheben kann, die so viel Erfolgsaussicht bietet, daß sie ihm zuzumuten ist. Dabei ist die sichere Erwartung des Obsiegens nicht erforderlich; der Beginn der Verjährung hängt nicht davon ab, ob der anzustrengende Prozeß mehr oder weniger risikolos erscheint (vgl. BGH, Urteil vom 13. Februar 1975 - VI ZR 175/72 - VersR 1975, 520, 521; st. Rspr.).

13

Danach besaß die Klägerin durch die Schadensanzeige die Kenntnis des Tathergangs, die § 852 Abs. 1 BGB verlangt. Die Angaben des D. ließen mit hinreichender Sicherheit erkennen, daß seiner Verletzung eine vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung zugrundelag. Überdies hatte D. in der Schadensanzeige für seine Schilderung des Tathergangs einen Zeugen benannt. Die Klägerin war mithin in der Lage, mit ausreichender Erfolgsaussicht eine Schadensersatzklage zu erheben.

14

2.

Die Erwägungen des Berufungsgerichts halten aber einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand, soweit es davon ausgeht, daß die Klägerin schon vor Einsicht in die ihr erst am 1. November 1977 übersandten Ermittlungsakten auch Kenntnis von der Person des Schädigers erlangt habe.

15

Die Schadensanzeige vom 27. Dezember 1976 läßt Namen und Anschrift des Schädigers nicht erkennen. Es ist dort nur von einem "Gast" die Rede. Dies hat das Berufungsgericht auch durchaus erkannt. Es meint indes, es komme hierauf nicht an, weil sich die Klägerin noch vor Einsicht in die ihr im November 1977 übersandten Ermittlungsakten leicht und ohne Mühe Kenntnis von Namen und Anschrift des Schädigers habe beschaffen können. Diese Auffassung teilt der Senat nicht.

16

Es trifft allerdings zu, daß nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die in der Literatur zum Teil auf Bedenken gestoßen ist (vgl. Larenz, Schuldrecht II, 12. Aufl. 1981, S. 685), die nach § 852 Abs. 1 BGB erforderliche Kenntnis von der Person des Schädigers schon dann anzunehmen ist, wenn der Geschädigte diese Kenntnis zwar tatsächlich noch nicht besitzt, sie sich aber in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe beschaffen kann. In diesem Fall gilt die Person des Ersatzpflichtigen in dem Augenblick als bekannt, in dem der Geschädigte auf die entsprechende Erkundigung hin die Kenntnis erhalten hätte (vgl. BGH, Urteile vom 3. November 1961 - VI ZR 254/60 - VersR 1962, 86, 87; vom 29. Mai 1973 - VI ZR 68/72 - VersR 1973, 841, 842; vom 23. September 1975 - VI ZR 62/73 - VersR 1976, 166, 167; vom 5. April 1976 - III ZR 69/74 - VersR 1976, 859, 860). Diese Rechtsprechung beruht auf der Erwägung, daß der Verletzte es nicht in der Hand haben darf, einseitig die Verjährungsfrist dadurch zu verlängern, daß er die Augen vor einer sich ihm aufdrängenden Kenntnis verschließt (so zutreffend HansOLG Hamburg, MDR 1968, 583, 584; vgl. auch Wussow, Unfallhaftpflichtrecht, 12. Aufl., Rdn. 1329). Sie geht damit letztlich auf den auf den auch § 162 BGB zugrundeliegenden allgemeinen Rechtsgedanken zurück. Daraus folgt aber zugleich, daß - wie der Senat wiederholt ausgeführt hat - diese Rechtsprechung nicht in dem Sinne mißverstanden werden darf, daß bereits eine - sei es auch grob fahrlässig - verschuldete Unkenntnis der vom Gesetz geforderten positiven Kenntnis gleichgestellt sei. Ein Kennenkönnen oder Kennenmüssen genügt nicht (vgl. Senatsurteile vom 30. Januar 1973 - VI ZR 4/72 - VersR 1973, 371, 372; vom 21. September 1976 - VI ZR 69/75 - VersR 1977, 249, 250; vom 24. Mai 1977 - VI ZR 75/76 - VersR 1977, 739, 740). Ein Anwendungsfall dieser Rechtsprechung liegt vielmehr erst dann vor, wenn der Geschädigte eine sich ihm ohne weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit, die weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursacht, nicht wahrnimmt. Das trifft etwa dann nicht mehr zu, wenn lange und zeitraubende Telefonate oder umfangreicher Schriftwechsel erforderlich werden; etwas anderes kann für eine Antrage gelten (vgl. Senatsurteile vom 29. Februar 1955 - VI ZR 40/54 - NJW 1955, 706 und vom 29. Mai 1973 - VI ZR 68/72 - aaO).

17

Dies bedeutet für den Entscheidungsfll, daß die fehlende Kenntnis der Klägerin von der Person des Schädigers, die nach ihrer Behauptung bis zur Einsicht in die Ermittlungsakten am 4. November 1977 fortgedauert hat, einer positiven Kenntnis nicht gleichsteht. Schon mit den - nach ihrer Behauptung erfolglos gebliebenen - Antragen an die Polizei, den Geschädigten und dessen Interessenvertreter hat die Klägerin die Mühe aufgewandt, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von ihr verlangt werden kann. Im übrigen ergibt sich aus den Strafakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, daß die Klägerin darüber hinaus die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 7. April 1977, 24. Mai 1977 und 27. September 1977 um Aktenübersendung gebeten und die Staatsanwaltschaft diesen Ersuchen erst am 1. November 1977 entsprochen hat. Die Klägerin war nicht etwa gehalten, die Staatsanwaltschaft um Mitteilung zunächst nur von Namen und Anschrift des Schädigers zu bitten, nachdem sich herausgestellt hatte, daß die Aktenübersendung zunächst auf Schwierigkeiten stieß. Vielmehr konnte sie sich damit beruhigen, sich bei der zuständigen Stelle um die (umfassendere) Information bemüht zu haben, die sie zur eigenen Sachbearbeitung für erforderlich hielt. Der Geschädigte ist nicht verpflichtet, allein im Interesse des Schädigers von mehreren in Betracht kommenden Wegen der Informationsbeschaffung den zu wählen, der zwar zu einer zügigen, jedoch nicht so vollständigen Aufklärung führt, wie er sie für erforderlich hält. Er ist an kein bestimmtes Verhaltensprogramm gebunden; nur das mißbräuchliche Sichverschließen vor der Kenntnis steht der Kenntnis gleich.

18

3.

Damit kommt es für die Entscheidung darüber, ob die Verjährungseinrede des Beklagten durchgreift, darauf an, ob die Klägerin - wie der Beklagte behauptet (GA 64, 96) und die Klägerin bestritten hat (GA 67, 109) - schon vor dem 18. September 1977 positiv Namen und Anschrift des Schädigers erfahren hat. Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um ihm die Möglichkeit zu geben, die geforderten Feststellungen zu treffen.

Dr. Steffen
Scheffen
Dr. Ankermann
Dr. Lepa
Dr. Schmitz