Bundesgerichtshof
Urt. v. 31.05.1979, Az.: VII ZR 290/78
Zeitpunkt der Bewirkung einer Zustellung eines Urteils an einen Rechtsanwalt; Erfordernis der Kenntnis des Rechtsanwaltes vom Gewahrsam an einem Urteil als Voraussetzung der Zustellung; Irrtümliche Annahme eines Rechtsanwaltes, eine Zustellung erfolge im Zeitpunkt des Eingangs des Urteils in der Kanzlei; Bedeutung eines Eingangsstempels auf einem Empfangsbekenntnis mit dem Datum des Einganges des Urteils in der Kanzlei, anstatt des Datums der Kenntnisnahme des Anwaltes
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 31.05.1979
- Aktenzeichen
- VII ZR 290/78
- Entscheidungsform
- Versäumnisurteil
- Referenz
- WKRS 1979, 11286
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OLG Stuttgart - 26.09.1978
- LG Stuttgart
Rechtsgrundlagen
- § 198 ZPO
- § 212 a ZPO
Fundstellen
- DB 1979, 2487 (amtl. Leitsatz)
- JZ 1979, 571-572
- MDR 1979, 928 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1979, 2566-2567 (Volltext mit amtl. LS)
Prozessführer
Firma B. & Bu. GmbH & Co KG, F., S.,
vertreten durch die GmbH als persönlich haftende Gesellschafterin,
diese vertreten durch ihren Geschäftsführer Winfried Ba., ebenda
Prozessgegner
Firma T. B.- und P.-GmbH & Co KG, R.straße ..., L.,
vertreten durch die GmbH als persönlich haftende Gesellschafterin,
diese vertreten durch ihren Geschäftsführer Bl., ebenda
Sonstige Beteiligte
Werner Fi., Peter Fr., Michael Rö., Manfred St., sämtlich G.straße ..., S.
Amtlicher Leitsatz
Die Zustellung eines Urteils an einen Rechtsanwalt ist auch dann erst zu dem Zeitpunkt bewirkt, in welchem der Rechtsanwalt persönlich Kenntnis von seinem Gewahrsam an dem ihm übersandten Urteil erhalten hat und den Willen äußert, das Urteil als ihm zugestellt anzunehmen, wenn das von ihm unterzeichnete Empfangsbekenntnis bereits am Tage des Eingangs des Urteils bei der Kanzlei von einer Angestellten mit dem damaligen Datum gestempelt worden ist, der Rechtsanwalt aber erst an einem späteren Tage Kenntnis erhält und das Empfangsbekenntnis unterzeichnet, wobei er - einer langjährigen Übung entsprechend - das Datum bewußt nicht berichtigt, weil er irrtümlich glaubt, der Tag des Eingangs des Urteils bei seiner Kanzlei sei der Tag der Zustellung.
In dem Rechtsstreit
hat der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs
auf die mündliche Verhandlung
vom 26. April 1979
durch
den Vorsitzenden Richter Dr. Vogt sowie
die Richter Dr. Girisch, Dr. Recken, Bliesener und Obenhaus
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 26. September 1978 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens fallen der Klägerin zur Last.
Tatbestand
Die Klägerin hat 34.048,70 DM Werklohn nebst Zinsen eingeklagt. Das Landgericht hat die Klage mangels Fälligkeit abgewiesen.
Das Urteil ist den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis (§ 212 a ZPO) zugestellt worden. Dieses trägt das gestempelte Datum des 16. Dezember 1977. Die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin haben mit Schriftsatz vom 13. Januar 1978 Berufung eingelegt. Die Berufungsschrift trägt die Eingangsstempel sowohl des Landgerichts als auch des Oberlandesgerichts vom 17. Januar 1978. Nach Hinweis auf den Fristablauf hat die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und geltend gemacht, Rechtsanwalt M. (Sozius des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin Rechtsanwalt Sch.) habe die Berufungsschrift am Morgen oder Mittag des 16. Januar 1978 in das Postfach des Oberlandesgerichts eingeworfen, wie sich aus seiner eidesstattlichen Versicherung ergebe.
Das Oberlandesgericht hat die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt und die Berufung als unzulässig verworfen. Mit ihrer Revision macht die Klägerin in erster Linie geltend, das Urteil des Landgerichts sei von ihrem Prozeßbevollmächtigten Rechtsanwalt Sch. nicht bereits am 16. Dezember, sondern erst am Montag, den 19. Dezember 1977 als zugestellt angenommen worden. Die Beklagte ist in der Revisionsinstanz nicht anwaltlich vertreten. Die Klägerin beantragt, im Wege des Versäumnisurteils das angefochtene Urteil aufzuheben.
Der Senat hat in der Revisionsverhandlung vom 26. April 1979 die Rechtsanwälte M. und Sch. sowie deren frühere Bürovorsteherin Br. als Zeugen vernommen. Es haben ausgesagt:
Rechtsanwalt M.: Er habe die Ausfertigung des landgerichtlichen Urteils nebst Empfangsbekenntnis-Formular am 16. Dezember 1977 nach einem Straftermin vor dem Amtsgericht, also erst am späteren Vormittag, zusammen mit anderer Gerichtspost dem Kanzleifach bei Gericht entnommen, ohne sich mit dem Inhalt zu befassen. Er habe die gesamte Post der Bürovorsteherin Br. übergeben, die sie mit dem Tagesstempel versehen habe. Mehr wisse er darüber nicht. Am 16. Januar 1978 habe er wiederum einen Termin vor Gericht wahrgenommen, nämlich eine Berufungsverhandlung vor dem Landgericht. Die ihm vom Büro für das Gericht mitgegebenen Schriftsätze habe er vor oder nach diesem Straftermin abgegeben oder eingeworfen (vor 9.15 Uhr oder nach 13.10 Uhr). Ob sich darunter die Berufungsschrift in dieser Sache (GA 135) befunden habe, könne er heute nicht mehr sagen.
Frau Br.: Das Empfangsbekenntnis (GA 129 a) sei von ihr mit dem Eingangsstempel des 16. Dezember 1977 versehen worden. Sie habe diesen Tag auch als Zustellungsdatum im Fristenbuch vermerkt. Dies sei in der Kanzlei bis dahin immer so üblich gewesen, auch wenn der die Sache bearbeitende Rechtsanwalt das Empfangsbekenntnis erst später unterzeichnet habe. Sie habe wie üblich das mit der Gerichtspost eingegangene Urteil samt Empfangsbekenntnis-Formular in das Fach des Rechtsanwalts Sch. gelegt. Dieser sei an jenem Freitag in Sachen Sü. verreist gewesen, wie auch die vorgelegte Terminskladde ausweise. Wann Rechtsanwalt Sch. das Empfangsbekenntnis unterzeichnet habe, wisse sie nicht. Sie sei aber überzeugt, daß er erst am folgenden Montag, den 19. Dezember 1977, wieder in das Büro gekommen sei. Sie glaube nicht, daß er noch am Freitagabend oder am Samstag gekommen sei; das sei nach derartigen Reisen nicht üblich gewesen. In der Folgezeit sei sie immer davon ausgegangen, daß das Urteil des Landgerichts am 16. Dezember 1977 zugestellt worden sei. Erst nachdem die "Panne" offenbar geworden sei, hätten die Rechtsanwälte angeordnet, den Eingangsstempel nicht mehr auf das Empfangsbekenntnis-Formular, sondern auf das zuzustellende Urteil zu setzen. Nunmehr versehe der unterzeichnende Rechtsanwalt selbst das Empfangsbekenntnis mit dem Datum des Tages, an dem er es unterzeichne.
Rechtsanwalt Sch.: Er sei am Freitag, den 16. Dezember 1977, zwar frühmorgens noch in der Kanzlei gewesen, jedoch zwischen 9 und 10 Uhr, jedenfalls vor Eingang der Gerichtspost, in die Nähe von Bad W. gefahren, um dort als Geschäftsführer des Verbandes der Sü. an einer ganztätigen Tagung teilzunehmen. Erst am Montag, den 19. Dezember 1977, sei er wieder in das Büro gekommen und müsse an diesem Tag das im Büro bereits mit dem Datum des 16. Dezember 1977 versehene Empfangsbekenntnis unterzeichnet haben. Eine Änderung dieses Datums habe er nicht versehentlich unterlassen. Vielmehr sei es in der Kanzlei steter Brauch gewesen, ein Empfangsbekenntnis unter dem Datum des Eingangs im Büro zu unterzeichnen. Bis zur späteren Belehrung sei er davon ausgegangen, daß der Tag des Eingangs in der Kanzlei auch der Tag der Zustellung sei. Nunmehr werde das Verfahren anders gehandhabt; er trage heute das Datum seiner Unterschrift selbst ein, und dieses werde dann auch im Fristenbuch vermerkt.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat aufgrund des neuen Vorbringens Erfolg.
1.
Das Revisionsgericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob ein Rechtsmittel zulässig ist. Es hat den Sachverhalt selbständig zu werten und auch selbst Beweis zu erheben, soweit dies geboten erscheint. Es hat auch neue Tatsachen zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1977 - VI ZR 198/76 = VersR 1978, 155 mit weiteren Nachweisen).
2.
Entgegen der Angabe auf dem Empfangsbekenntnis und in der Berufungsschrift ist das Urteil des Landgerichts den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin nicht bereits am 16. Dezember, sondern erst am 19. Dezember 1977 zugestellt worden. Die Klägerin hat nachgewiesen, daß das gestempelte Datum auf dem Empfangsbekenntnis falsch ist. Der Nachweis der Unrichtigkeit des Datums ist zulässig (vgl. BGH, Beschluß vom 7. Dezember 1978 - VII ZB 24/78 - VersR 1979, 258 mit weiteren Nachweisen). Die Zustellung ist am Tage der wirklichen Zustellung auch dann wirksam vorgenommen, wenn in der Zustellungsurkunde oder in dem Empfangsbekenntnis ein falsches Datum eingesetzt ist (BGHZ 35, 236, 238).
a)
Die wirksame Zustellung an einen Rechtsanwalt setzt voraus, daß dieser persönlich Kenntnis von seinem Gewahrsam an dem ihm zustellungshalber übersandten Schriftstück erhalten hat und durch Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses den Willen äußert, das Schriftstück als zugestellt anzunehmen (BGH, Beschluß vom 11. Juni 1953 - IV ZB 37/53 = LM ZPO § 233 Nr. 37; BGHZ 30, 335, 336[BGH 25.09.1959 - IV ZR 84/59]; Beschluß vom 16. Mai 1975 - I ZB 6/75 - VersR 1975, 906, vom 13. Oktober 1977 - VII ZR 9/77 = VersR 1977, 1130).
b)
Für den Zeitpunkt der Zustellung ist daher entscheidend, wann der Rechtsanwalt, dem zugestellt wird, das Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt anzusehen (BGH NJW 1974, 1469, 1470; VersR 1979, 258). Welches Datum das von ihm unterzeichnete Empfangsbekenntnis trägt, ist für den Zeitpunkt der Zustellung letztlich nicht entscheidend. Das Empfangsbekenntnis dient nur dem Nachweis der Entgegennahme des Schriftstücks. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des Datums ist zulässig (BGH NJW 1974, 1469, 1470 [BGH 04.06.1974 - VI ZB 5/74]).
c)
Unerheblich ist, wann das zuzustellende Urteil in das bei Gericht eingerichtete Postfach des Rechtsanwalts oder von dort in seine Kanzlei gelangt ist. Der Zustellungsempfänger muß persönlich Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück erlangen und den Willen äußern, es als zugestellt anzunehmen. Dies gilt auch dann, wenn wie hier einer der Prozeßbevollmächtigten - wie ein Kanzleibote - die Gerichtspost selbst dem Fach entnimmt und in die Kanzlei bringt, ohne sich mit dem Inhalt zu befassen und den Willen zu bekunden, ein mitgebrachtes Schriftstück als zugestellt zu behalten.
Aufgrund der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, daß das zuzustellende Urteil des Landgerichts am späteren Vormittag des Freitags, des 16. Dezember 1977, von Rechtsanwalt M. dem Postfach bei Gericht zusammen mit anderen Schriftsätzen entnommen und in der Kanzlei der Bürovorsteherin Br. übergeben wurde. Diese versah das Empfangsbekenntnis-Formular mit dem Tagesstempel vom 16. Dezember 1977 und legte den Vorgang in das Bürofach des Rechtsanwalts Sch., welcher den Prozeß bearbeitete. Dieser fand das Urteil erst am Montag, den 19. Dezember 1977 dort vor und unterzeichnete das Empfangsbekenntnis, ohne das aufgedruckte Datum zu ändern. Er wie auch die Bürovorsteherin Br. gingen davon aus, das Urteil sei mit dem Eingang in der Kanzlei am 16. Dezember 1977 zugestellt worden.
d)
Weder diese irrige Rechtsauffassung noch die damalige Übung in der Kanzlei der Prozeßbevollmächtigten der Klägerin, zustellungshalber eingehende Schriftstücke als am Tage des Zugangs in der Kanzlei zugestellt zu behandeln, können es rechtfertigen, das Urteil des Landgerichts als am 16. Dezember 1977 zugestellt anzusehen. Nimmt der Zustellungsempfänger das zur Zustellung bestimmte Schriftstück mit Annahmewillen entgegen, so kommt es für die Wirksamkeit und den Zeitpunkt der Zustellung weder auf seine Rechtsauffassung noch auf einen abweichenden Willen an. Die irrige Datierung der Zustellung im Fristenbuch der Kanzlei tritt nach außen nicht hervor und vermag einen Rechtsschein nicht zu erzeugen. Der die Zustellung annehmende Prozeßbevollmächtigte ist auch nicht befugt, die mit der Zustellung beginnende Rechtsmittelfrist durch Vor- oder Rückdatierung willkürlich zu verlängern oder zu verkürzen; allenfalls kann er die Zustellung zeitweilig ablehnen (BGH NJW 1974, 1469; VersR 1977, 1130). Das der Berichtigung zugängliche Datum auf dem Empfangsbekenntnis erzeugt lediglich den Anschein, das Schriftstück sei bereits am 16. Dezember 1977 zugestellt worden. Hiergegen ist jedoch der Nachweis der Unrichtigkeit erbracht worden.
e)
Da das Urteil des Landgerichts somit erst am 19. Dezember 1977 zugestellt worden ist, die am 17. Januar 1978 beim Oberlandesgericht eingegangene Berufung also rechtzeitig ist und nach Fristverlängerung auch rechtzeitig begründet worden ist, ist die Berufung zulässig.
3.
Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens fallen der Klägerin zur Last, weil sie die spätere Zustellung bereits in der Berufungsinstanz hätte geltend machen können (§ 97 Abs. 2 ZPO). Mit ihrem übrigen Revisionsvorbringen wäre sie erfolglos geblieben.
Girisch
Recken
Bliesener
Obenhaus