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Bundesgerichtshof
Urt. v. 30.06.1966, Az.: III ZR 3/64

Inbesitznahme eines Grundstückes zum Zwecke der Errichtung eines festen Luftschutzbunkers; Bestimmung des "Zustandes" eines Grundstückes im Sinne von § 22 Abs. 2 Nr. 1 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) durch die Gesamtheit aller wertbildenden Faktoren; Begriff der "Qualität" im Sinne der enteignungsrechtlichen Rechtsprechung; Ausschluss eines Grundstückes von der konjunkturellen Entwicklung infolge einer früheren Inanspruchnahme

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
30.06.1966
Aktenzeichen
III ZR 3/64
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1966, 11654
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
OLG Bremen - 12.07.1963
LG Bremen

Fundstellen

  • MDR 1966, 916-917 (Volltext mit amtl. LS)
  • NJW 1966, 2211-2213 (Volltext mit amtl. LS) "Bewertung eines Grundstücks"

Prozessführer

Bundesrepublik Deutschland,
vertreten durch den Bundesminister der Finanzen,
dieser vertreten durch den Oberfinanzpräsidenten in B.,

Prozessgegner

Erbengemeinschaft K., nämlich:

1. Alleinerbin des Landwirts Carlo K., W., Frau Witwe Grete K. in W. b. V.,

2. Erben der Witwe Bertha M. geb. K., nämlich:

a) Zahnarzt Bertel M. V., W.str. ...,

a) Frau Mariechen A., geb. B. verw. K., in K.,

b) Frau Gerda L., geb. K., in K.,

c) Frau Hanna W., geb. K., in B., M. Str. ...,

d) Hausgehilfin Christa K. in B., In der V.,

6. Landwirt Wilhelm K. in B., V. Str. ...,

Amtlicher Leitsatz

Der "Zustand" eines Grundstücks im Sinne von § 22 Abs. 2 Nr. 1 AKG wird nicht nur durch dessen natürliche Eigenschaften, sondern durch die Gesamtheit aller wertbildenden Faktoren bestimmt und entspricht jedenfalls dann, wenn das Grundstück infolge der früheren Inanspruchnahme von der konjunkturellen Entwicklung ausgeschlossen war, der "Qualität" im Sinne der enteignungsrechtlichen Rechtsprechung (BGHZ 28, 160).

Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
auf die mündliche Verhandlung vom 30. Juni 1966
unter Mitwirkung
des Senatspräsidenten Dr. Pagendarm und
der Bundesrichter Dr. Kreft, Gähtgens, Keßler und Dr. Reinhardt
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revisionen beider Parteien wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom 12. Juli 1963 aufgehoben, soweit die Berufungen der Parteien zurückgewiesen worden sind.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Kläger waren in ungeteilter Erbengemeinschaft Eigentümer eines 2.939 qm großen unbebauten Grundstücks in B. in der Nähe des Eisenbahngeländes im Osten der Stadt. Das Grundstück liegt mit einer Frontlänge von 70,50 m an der Südseite der S. H.straße (Bundesstraße 75 in Richtung Hamburg) unmittelbar neben der Unterführung für Fußgänger zum S. Bahnhof; mit seiner Rückseite grenzt es an das Bahngelände. Das Vorstadtgebiet S., im Osten der Stadt B., gehört heute zum Stadtteil H.. Diese Gegend wies bereits vor dem Krieg ausgedehnte industrielle Ansiedlungen auf, die sich nach dem Kriege noch ausgeweitet haben. Die Wohnsiedlung trägt unterschiedlichen Charakter (teils offene, teils geschlossene Bauweise, mit ein-, zwei- und dreigeschossigen Wohn- und Geschäftshäusern). Die moderne Bebauung mit höherer Geschoßzahl fällt in die Nachkriegszeit. Für das Grundstück der Kläger war bis zum Jahre 1960 eine Gewerbeklasse oder Baustaffel nicht festgesetzt. Aufgrund der Beschlüsse des Senats und der Bürgerschaft vom 26. Juli und 5. Oktober 1960 gelten jetzt die Gewerbeklasse II und die Baustaffel 3. Die Parteien gehen übereinstimmend davon aus, daß diese baurechtliche Ordnung der Verkehrsauffassung entspricht, die bereits vor dem Kriege galt.

2

Am 6. Dezember 1940 nahm das Deutsche Reich das Grundstück nach den Vorschriften des Reichsleistungsgesetzes für Zwecke des Luftschutzes in Anspruch und errichtete darauf in der Folgezeit einen Luftschutzbunker, Nach dem Kriege wurde dieser Bunker, in den Fensteröffnungen und ein Luftschacht eingesprengt wurden, von der Beklagten als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches an einen Schlachtermeister verpachtet, der darin eine Hotelgaststätte betrieb. Die Beklagte zahlte für die Inanspruchnahme des Grundstücks an die Kläger eine Nutzungsentschädigung. Nunmehr plant die Beklagte, den Bunker für Luftschutzzwecke wiederherzustellen. Auf ihren Antrag hat der Senator für das Bauwesen in Bremen als Enteignungsbehörde gemäß § 22 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) i.V. mit § 47 des Landbeschaffungsgesetzes (LBG) durch Enteignungsbeschluß (Teil A) vom 8. Juli 1960 das Grundstück zugunsten der Beklagten enteignet und die Entschädigung in Geld angeordnet; dieser Beschluß ist rechtskräftig geworden.

3

Mit Beschluß vom 12. Juli 1960 (Teil B) hat die Enteignungsbehörde nach sachverständiger Begutachtung die Enteignungsentschädigung für das Grundstück auf 48,56 DM je qm, insgesamt 142.718,00 DM, verzinslich mit 7 1/2 % seit dem 8. Juli 1960, festgesetzt. Die Enteignungsbehörde ist davon ausgegangen, daß die Kläger nach dem Zustand des Grundstücks am 6. Dezember 1940 und den Preisverhältnissen zur Zeit der Enteignung zu entschädigen seien; deshalb komme die konjunkturelle Entwicklung auf dem Grundstücksmarkt bis zur Enteignung den Klägern zugute, hingegen nicht die seit 1940 eingetretene Änderung in der Struktur der Umgebung, die sich wertsteigernd ausgewirkt habe.

4

Die Kläger begehren mit der Klage eine höhere angemessene Entschädigung, deren Betrag sie zunächst in das Ermessen des Gerichts gestellt haben. Die Klageschrift, die am 17. Oktober 1960 bei dem Landgericht eingegangen ist, ist der Beklagten am 1. Dezember 1960 zugestellt worden, nachdem die Kläger den Kostenvorschuß von 473,00 DM am 22. November 1960 eingezahlt hatten.

5

Die Beklagte, die den festgesetzten Entschädigungsbetrag für angemessen hält, hat die Abweisung der Klage beantragt und mit ihrem Antrag vom 27. Dezember 1960 gebeten, den Beschluß dahin zu ändern, daß der festgesetzte Betrag vom 8. Juli 1960 an nur mit 6 % jährlich zu verzinsen sei.

6

Das Landgericht hat die Entschädigung auf 264.510,00 DM erhöht, wovon der administrativ festgesetzte Betrag von 142.718,00 DM mit 7 1/2 %, die weitergehenden Beträge mit 6 % jährlich zu verzinsen seien. Das Berufungsgericht hat - unter Zurückweisung der weitergehenden Berufungen beider Parteien - erkannt:

"Auf Klage und Widerklage wird der Beschluß der Enteignungsbehörde Bremen vom 12. Juli 1960 (Teil B) abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Kläger als Entschädigung für das enteignete Flurstück ... DM 264.510,- nebst 6 % Zinsen auf 226.303,00 DM seit dem 8. Juli 1960, und auf weitere DM 38.207,- seit dem 10. November 1961 zu zahlen."

7

Beide Parteien haben Revision eingelegt. Die Beklagte erbittet weiterhin die Abweisung der Klage. Die Kläger beantragen, ihnen über die vom Berufungsgericht zuerkannte Entschädigung hinaus weitere 88.170,00 DM nebst 6 % Zinsen seit dem 25. Juni 1963 zuzusprechen. Jede Partei bittet ferner, das Rechtsmittel der anderen zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

I.

1.

Das Enteignungsverfahren wurde gemäß § 22 AKG nach den Bestimmungen des Landbeschaffungsgesetzes vom 23. Februar 1957 (BGBl I 134) durchgeführt. Gemäß § 59 LBG kann der Enteignungsbeschluß Teil B, der die Festsetzung der Entschädigung enthält, mit der Klage zum Landgericht, in dessen Bezirk das Grundstück liegt, angefochten werden.

9

Die Klage ist innerhalb von zwei Monaten zu erheben; diese Frist beginnt - in einem Fall wie dem vorliegenden - mit dem Tage, an dem die Mitteilung über die Unanfechtbarkeit des Teils A des Enteignungsbeschlusses (§ 49 LBG) den Beteiligten zugestellt worden ist (§ 61 LBG). Als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klage ist die Währung der Klagefrist auch im Revisionsrechtszug von Amts wegen zu prüfen, unabhängig von der Rüge der Revision der Beklagten, das Berufungsgericht habe die Klagefrist nur deshalb als gewahrt ansehen können, weil es rechtsfehlerhaft angenommen habe, die Klage sei "demnächst" (§ 261 b Abs. 3 ZPO) zugestellt worden.

10

Insoweit steht fest: Die Mitteilung, der Teil A des Enteignungsbeschlusses sei unanfechtbar geworden, wurde dem Bevollmächtigten der Kläger am 20. August 1960 zugestellt. Am 17. Oktober 1960, also drei Tage vor Ablauf der Klagefrist, ging die Klageschrift, mit der die Kläger nicht einen bezifferten Betrag, sondern zulässigerweise (vgl. BGHZ 4, 138) eine "angemessene Entschädigung" forderten, ohne Angabe des Streitwerts bei dem Landgericht Bremen ein. Mit Beschluß vom 20. Oktober 1960, der am 28. Oktober 1960 an den Anwalt der Kläger abgesandt wurde, setzte das Landgericht den Streitwert vorläufig auf 60.000,00 DM fest. Am 3. November 1960 erhielt der Prozeßbevollmächtigte der Kläger die Aufforderung des Gerichts, die Prozeßgebühr nach einem Streitwert von 60.000,00 DM mit 473,00 DM einzuzahlen. Der Kostenvorschuß wurde am 22. November 1960 bei der Gerichtskasse eingezahlt. Die Klageschrift nebst Ladung zum Termin wurde der Beklagten erst am 1. Dezember 1960, also 42 Tage nach dem Ablauf der Klagefrist, zugestellt.

11

Gleichwohl kann der erkennende Senat nach eigener Prüfung aufgrund der Verhandlung am 10. März 1966 dem Berufungsgericht in dem Ergebnis zustimmen, daß die Zustellung der Klageschrift noch "demnächst" im Sinne von § 261 b Abs. 3 ZPO erfolgte und die Klagefrist daher durch die rechtzeitige Einreichung der Klageschrift am 17. Oktober 1960 als gewahrt gilt.

12

Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Kläger mit der Einreichung der Klageschrift bis kurz vor Ablauf der Frist warten und daß sie eine Aufforderung des Gerichts, die Prozeßgebühr einzuzahlen, abwarten durften, ohne dadurch Nachteile zu erfahren (LM zu GKG § 74 Nr. 1). Mit Recht hat daher das Berufungsgericht entscheidend auf die Zeitspanne vom Eingang der Zahlungsaufforderung bis zur Einzahlung des Kostenvorschusses bei der Gerichtskasse - also vom 3. bis zum 22. November 1960 - abgestellt. Diese Zeitspanne hat das Berufungsgericht - angesichts der nicht geringen Höhe des erforderten Kostenvorschusses und der Tatsache, daß die Zahlung über den Prozeßbevollmächtigten der Kläger erfolgt sei, - nicht als "unangemessen lang" gewertet. Dazu ist zu sagen:

13

Der erkennende Senat hat seinem Urteil vom 5. Juni 1961 - III ZR 73/60 - (LM zu Finanzvertrag Nr. 11 = NJW 1961, 1627), auf das auch das Berufungsgericht sich bezieht, den Leitsatz vorangestellt:

"Hat der Kläger die angeforderte Prozeßgebühr aus Nachlässigkeit nicht in angemessener Frist eingezahlt und ist dadurch die Klagezustellung verzögert worden, so ist die Klage nicht mehr als "demnächst" zugestellt zu behandeln. Schon die Einzahlung der Prozeßgebühr nach dem Ablauf von 18 Tagen nach Zustellung der Gebührenanforderung und 16 Tagen nach Ablauf der Klagefrist kann verspätet sein."

14

Der Gesetzgeber hat es - so führen die Entscheidungsgründe aus - der nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffenden Entscheidung des Prozeßrichters überlassen, ob im Einzelfall die Zustellung noch "demnächst" erfolgt ist. Nach dem Zweck der Vorschrift muß aber dieses Ermessen seine Grenze in der Erwägung finden, daß für die Fristerstreckung insoweit kein Raum ist, als die Verzögerung durch das Verhalten der klagenden Partei beeinflußt ist. Eine Zustellung ist daher dann nicht mehr "demnächst" bewirkt, wenn die Zeitspanne zwischen der Einreichung und der Zustellung der Klageschrift durch ein schuldhaftes Verhalten der Klagepartei in nennenswertem Ausmaß mitverursacht worden ist. Dabei hat der Kläger sich das Verhalten seines Prozeßbevollmächtigten anrechnen zu lassen.

15

In dem Urteil vom 31. Januar 1963 - III ZR 142/61 - (LM zu ZPO § 261 b Nr. 9) hat der erkennende Senat wiederholt und betont, daß der Kläger nicht nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, sondern jede Nachlässigkeit zu vertreten habe. Dem Kläger könne die Rechtswohltat des § 261 b Abs. 3 ZPO nicht zugute kommen, wenn er selbst oder sein Prozeßbevollmächtigter durch ein nachlässiges, auch leichtfahrlässiges Verhalten zu einer - nicht nur ganz geringfügigen Verlängerung der Zeitspanne zwischen Einreichung und Zustellung der Klageschrift beigetragen habe.

16

Mit der Erwägung allein, ein Zeitraum von 19 oder 20 Tagen sei nicht unangemessen lang, läßt sich hiernach die Anwendung des § 261 b Abs. 3 ZPO nicht rechtfertigen. Eine Spanne von 19 Tagen oder auch weniger, kann als Verzögerung "in nennenswertem Ausmaß" (so LM zu Finanzvertrag Nr. 11) oder als eine "nicht nur ganz geringfügige" Verlängerung (so LM zu ZPO § 261 b Nr. 9; vgl. auch BGH Urteil vom 11. Juni 1964 - III ZR 148/63 -) erscheinen; denn die gesetzlichen Fristen sind genau, nicht annähernd einzuhalten.

17

Auch die Umstände, die das Berufungsgericht zugunsten der Kläger gewürdigt hat, nämlich die Höhe des Kostenvorschusses und die Vielzahl der Kläger, können hier nach der Sachlage nicht ins Gewicht fallen. Denn der Senat hat in der Verhandlung am 10. März 1966 nach Anhörung der Beteiligten und Durchsicht der Unterlagen festgestellt, daß der Prozeßbevollmächtigte der Kläger einen Scheck über den angeforderten Kostenbetrag bereits am Donnerstag, dem 10. November 1960, erhielt; die Erbengemeinschaft hatte eine Bankguthaben, über das ein Bevollmächtigter verfugte, so daß es nicht erforderlich war, wegen des Vorschusses mit allen Miterben in Verbindung zu treten. Es wäre - das hat die Verhandlung mit aller Deutlichkeit ergeben - möglich gewesen, den Kostenvorschuß wesentlich vor dem 22. November 1960 bei der Gerichtskasse einzuzahlen, mit der wahrscheinlichen Folge, daß dann die Klageschrift auch entsprechend früher zugestellt worden wäre.

18

Daß dies nicht geschah, sondern zunächst der Eingang der Bankgutschrift (Sonnabend, der 19. November) abgewartet wurde, beruhte - wie der Senat der glaubwürdigen Darstellung des Prozeßbevollmächtigten der Kläger, Rechtsanwalt Dr. R., entnehmen kann - darauf, daß dieser aufgrund der Gesetzestexte und einschlägiger Entscheidungen die Auffassung gewonnen hatte, nachdem die Klageschrift rechtzeitig eingereicht war, sei es nicht mehr die Aufgabe der Kläger, auf eine Beschleunigung hinzuwirken, sie hätten vielmehr nur Verzögerungen zu vermeiden; deshalb brauche die Sache in der Kanzlei nicht mehr als Eilsache bevorzugt behandelt zu werden, es genüge die Behandlung im ordnungsmäßigen Geschäftsgang.

19

Der Senat teilt diese Auffassung nicht; er hat schon in den beiden genannten Entscheidungen vom 5. Juni 1961 und 31. Januar 1963 ausgesprochen, auch nach rechtzeitiger Einreichung der Klageschrift bleibe es Sache der klagenden Partei, alles ihr Zumutbare zu tun, um die Voraussetzungen für eine alsbaldige Zustellung der Klage zu schaffen. Ein Kläger hat also, wenn er der Rechtswohltat des § 261 b Abs. 3 ZPO teilhaftig werden will, nach heutiger Auffassung nicht nur Verzögerungen zu vermeiden, er ist vielmehr gehalten, seinerseits im Sinne der möglichsten Beschleunigung zu wirken. Das ist im Interesse des Beklagten und im Blick auf die Notwendigkeit, die Unsicherheit der Rechtslage alsbald zu beseitigen, geboten. Die Kläger können sich jedoch im vorliegenden Fall darauf berufen, daß die beiden genannten Entscheidungen des Senats zeitlich erst nach den hier fraglichen Vorgängen ergangen sind, daß die Anschauungen im Jahre 1960 noch in Fluß waren und daß ein Rechtsanwalt, der die Rechtsfrage im Herbst 1960 anhand der veröffentlichten Rechtsprechung prüfte, ohne Verletzung seiner Sorgfaltspflicht zu dem Ergebnis kommen konnte, nachdem die Klage rechtzeitig eingereicht war, genüge er den gesetzlichen Erfordernissen, wenn er seinerseits Verzögerungen vermeide, ohne zu besonderer Beschleunigung verpflichtet zu sein.

20

Aus dem Sinn der Bestimmung in § 261 b Abs. 3 ZPO, einerseits die Klagepartei vor der schädlichen Wirkung verzögernder Umstände, auf die sie keinen Einfluß hat, zu schützen, andererseits die Unsicherheit der Rechtslage im Interesse der beklagten Partei baldigst zu beseitigen (LM zu DBG § 143 Nr. 4), hat der Senat in seinem Urteil vom 15. Dezember 1955 (LM zu ZPO § 261 b Nr. 2) entwickelt, eine Zustellung könne immer als "demnächst" erfolgt angesehen werden, wenn sie in einer den Umständen nach angemessenen Frist, d.h. ohne besondere Verzögerung bewirkt worden ist, und insbesondere die Prozeßpartei, die die Frist zu wahren hat, nicht zu einer Verzögerung der Zustellung schuldhaft beigetragen hat. Die Entscheidung des V. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 30. Mai 1956 (LM zu GKG § 74 Nr. 1) hat den Leitsatz b:

"Auch wer die Klageschrift erst unmittelbar vor Ablauf der Verjährungsfrist einreicht, verhält sich nicht nachlässig, wenn er nichts unternimmt, um die "demnächst" erfolgende Zustellung besonders zu beschleunigen, insbesondere von dem in § 74 Abs. 4 Satz 2 GKG geregelten Behelf keinen Gebrauch macht."

21

In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, eine Zustellung sei "demnächst" erfolgt, wenn sie innerhalb einer nach den Umständen angemessenen Frist oder selbst noch nach längerer Zeit bewirkt werde, sofern nur die Verzögerung der Zustellung von der Partei weder absichtlich noch grobfahrlässig herbeigeführt sei. Sieht man von der inzwischen allgemein aufgegebenen Beschränkung der Haftung auf ein grobes Verschulden ab (vgl. BGHZ 25, 66, 77[BGH 29.06.1957 - IV ZR 88/57];  31, 342, 346), [BGH 16.12.1959 - IV ZR 103/59]so bleibt für die vorliegende Sache bemerkenswert, daß der V. Zivilsenat eine Pflicht der Klagepartei zur Beschleunigung der Zustellung ausdrücklich verneint, vielmehr nur eine Pflicht, Verzögerungen zu vermeiden, angenommen hat. In dem gleichen Sinne sprechen die Entscheidungen des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 25. Juni 1956 (LM zu ZPO § 261 b Nr. 4), des IV. Zivilsenats vom 29. Juni 1957 und 16. Dezember 1959 (BGHZ 25, 66, 77[BGH 29.06.1957 - IV ZR 88/57] und 31, 342, 346) und des VI. Zivilsenats vom 19. Januar 1960 (LM zu ZPO § 261 b Nr. 8) davon, der die Zustellung betreibenden Partei dürfe nicht eine schuldhafte "Verzögerung" oder "Verschleppung" zur Last fallen, wobei die Entscheidung des V. Zivilsenats vom 30. Mai 1956 angeführt und darauf hingewiesen wird, die Bestimmung in § 261 b ZPO dürfe nicht engherzig ausgelegt werden. Aus der letztgenannten Entscheidung des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs erscheint hier noch wesentlich, daß der Prozeßbevollmächtigte nicht für verpflichtet gehalten wurde, sich durch eine Anfrage über die Durchführung der Zustellung zu vergewissern oder Erinnerungen in dieser Richtung anzustellen, solange er keinen Anlaß habe, am ordnungsmäßigen Lauf der Dinge zu zweifeln.

22

Es bedarf nicht der Erörterung, wieweit diese frühere Rechtsprechung durch die Entwicklung überholt ist. Den Klägern ist jedenfalls zugute zu holten, daß Rechtsanwalt Dr. Rohmeyer, wenn er die vorliegenden Entscheidungen gewissenhaft prüfte, damals ohne Verletzung der Pflichten eines sorgfältigen Rechtsanwalts zu dem Ergebnis kommen konnte, nachdem die Klage rechtzeitig eingereicht war, beschränke sich die Aufgabe der Kläger darauf, Verzögerungen zu vermeiden, die außerhalb des ordnungsgemäßen Laufes der Dinge lägen. Dieser Obliegenheit kam er - davon hat der Senat sich in der mündlichen Verhandlung am 10. März 1966 überzeugt - nach, indem er nach dem Eingang der Streitwertfestsetzung, noch vor der gerichtlichen Zahlungsaufforderung, den Bevollmächtigten der Kläger um Einzahlung eines Kostenvorschusses von 473,00 DM ersuchte und seine Kanzlei, deren Zuverlässigkeit er kannte, anwies, den Kostenvorschuß alsbald nach Eingang einzuzahlen. Es ist nicht ersichtlich, daß er Anlaß zu der Annahme hätte haben können, die Sache werde nicht ihren ordnungsmäßigen Lauf gehen, und es läßt sich nicht sagen, daß die Angelegenheit hier nicht ordnungsmäßig gelaufen sei; sie wurde vielmehr im gewohnten Geschäftsbetrieb- zwar ohne besondere Beschleunigung, aber auch ohne Verzögerung - behandelt und diese Art der Behandlung konnten die Beteiligten nach dem damaligen Stand der Rechtsprechung als die ihnen pflichtgemäß obliegende ansehen. Entfällt hiernach ein Verschulden der Kläger und ihres Prozeßbevollmächtigten an der Verzögerung der Zustellung, so kann den Klägern die Wohltat des § 261 b Abs. 3 ZPO nicht versagt werden. Die Klage gilt daher als rechtzeitig erhoben.

23

II.

1.

Nach den §§ 17 Abs. 1 und 2, 18 LBG, die sinngemäß anwendbar sind (§ 22 AKG), können die Kläger als Entschädigungsberechtigte Entschädigung für den durch die Enteignung eintretenden Rechtsverlust nach dem gemeinen Wert des enteigneten Grundstücks beanspruchen. Jedoch ist für die Bemessung der Entschädigung - abweichend von § 17 Abs. 3 LBG - der Zustand des Grundstücks in dem Zeitpunkt maßgebend, in dem das Deutsche Reich es in Besitz genommen hatte (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 AKG); das ist der 6. Dezember 1940. Insoweit sind die Parteien einig; jedoch geht der Streit im wesentlichen darum, was unter dem "Zustand" des Grundstücks zu verstehen ist.

24

Als "Zustand" des Grundstücks im Sinne von § 22 Abs. 2 Nr. 1 AKG hat das Berufungsgericht - abweichend von den Kommentaren von Féaux de la Croix (AKG zu § 22 Anm. C 2 c S. 263) und Döll (AKG zu § 22 Anm. 10) - nicht nur die physischen oder körperlichen Merkmale (wie Grenzen, natürliche Bebaubarkeit, Mängel oder Alter eines Gebäudes), sondern auch die durch seine Beschaffenheit und läge bedingte Nutzungsfähigkeit im Rahmen der baurechtlichen Ordnung gewertet. Zutreffend hat das Berufungsgericht darauf hingewiesen, daß der Begriff "Zustand" in Gesetzen enteignungsrechtlichen Inhalts wiederholt, gerade im Zusammenhang mit der Rückbeziehung der Bewertung auf einen früheren Zeitpunkt, verwendet wird (vgl. § 93 Abs. 4 BBauG, §§ 17 Abs. 3, 64 Abs. 4 LBG). Das spricht in der Tat dafür, den Begriff "Zustand" in § 22 AKG in dem gleichen Sinne zu verstehen, wie er in anderen Gesetzen des gleichen Rechtsgebiets gebraucht und verstanden wird, zumal die Entstehungsgeschichte des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes nichts dafür hergibt, daß dem Begriff hier ein anderer Sinn hätte beigelegt werden sollen.

25

Soweit im Enteignungsrecht die Bewertung auf den Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt abgestellt werden soll, rechnet das Schrifttum Einflüsse der Umwelt, die sich im Verkehr wertbestimmend auswirken, - wie z.B. die rechtliche Situation und die Verkehrslage - zum Zustand des Grundstücks (vgl. Danckelmann, Landbeschaffungsgesetz, zu § 17 Anm. 5; Brügelmann-Pohl, Bundesbaugesetz, zu § 93 Anm. 6). In dem gleichen Sinne hat der erkennende Senat (Urteil v. 6. Dezember 1962 - III ZR 113/61 = VM 1963, 308) zu § 64 Abs. 4 LBG, der die Bemessung der Entschädigung nach dem "Zustand des Grundstücks in dem Zeitpunkt der Inanspruchnahme" vorsieht, bereits ausgesprochen, die Entschädigung sei nach der durch Beschaffenheit und Lage bedingten Nutzungsfähigkeit, nicht allein nach der ausgeübten Nutzung, des Grundstücks am Tage der Inanspruchnahme zu bemessen; Nutzungsmöglichkeiten, deren Verwirklichung nicht in greifbarer Nähe liegen und die deshalb den Verkehrswert nicht beeinflussen könnten, dürften nicht berücksichtigt werden. Hieraus und aus dem Hinweis auf das Urteil des erkennenden Senats vom 8. November 1962 - III ZR 86/61 - (BGHZ 39, 198) ergibt sich mit aller Deutlichkeit, daß der erkennende Senat unter dem "Zustand" die Gesamtheit der wertbildenden Faktoren, mit anderen Worten, die "Qualität" des Grundstücks im Sinne der enteignungsrechtlichen Rechtsprechung verstanden hat (vgl. BGHZ 28, 160; Kröner, Die Eigentumsgarantie in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, Seite 71 ff und Rechtsprechungsübersicht WM Sonderbeilage Nr. 5/1965 S. 8 mit weiteren Nachweisen). Es besteht kein Anlaß, von dieser Auslegung für den im Gesetz entsprechend geregelten Fall des § 22 Abs. 2 Nr. 1 AKG, jedenfalls bei der vorliegenden Fallgestaltung, abzuweichen. Denn die Inbesitznahme (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 AKG) zum Zwecke der Errichtung eines festen Luftschutzbunkers mußte sich - ebenso wie die Inanspruchnahme für Bauten der Besatzungsmacht (§ 64 Abs. 4 LBG) dahin auswirken, daß das Grundstück von jeder weiteren Entwicklung ausgeschlossen wurde; sie erweist sich nun als der Beginn eines einheitlichen Enteignungsprozesses, der folgerichtig auf die Enteignung zuführte. Diese Gleichheit der Rechtslage, die dem Regelfall entspricht, rechtfertigt es - jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden -, den Begriff "Zustand" in dem gleichen Sinne zu verstehen. Die Kläger erhalten hiernach die ihnen nach dem Gesetz gebührende Entschädigung mit dem Betrag, der im Verkehr nach den Preis- und Währungsverhältnissen zur Zeit der Entscheidung für ein Grundstück der Qualität gezahlt wird, die das enteignete Grundstück am 6. Dezember 1940 hatte. Der Zustand, d.h. die Qualität des Grundstücks zur Zeit der Inanspruchnahme, bleibt unverrückbar für die Bewertung maßgebend, denn dieser Zustand umreißt und bestimmt, was den Klägern damals genommen wurde und wofür sie zu entschädigen sind; die Verschiebung des Bewertungszeitpunkts in die Gegenwart soll lediglich die Berücksichtigung der inzwischen veränderten Wert- und Preismaßstäbe ermöglichen (BGH NJW 1962, 1441, 1443 [BGH 04.06.1962 - III ZR 207/60]) [BGH 04.06.1962 - III ZR 207/60]. Diese Auslegung des Gesetzes ist für Fälle der vorliegenden Art, in denen die Inbesitznahme als Beginn eines einheitlichen Enteignungsvorgangs erscheint, weil nach der Sachlage die künftige endgültige Entziehung sicher zu erwarten ist, mit dem Grundgesetz vereinbar (vgl. BGH Urteil vom 22. Februar 1965 - III ZR 126/63 = WM 1965, 503).

26

2.

Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, daß der Zustand des Grundstücks sich - abgesehen von der Bebauung mit einem Bunker - seit seiner Inanspruchnahme im Jahre 1940 nicht geändert habe, insbesondere die Nutzungsmöglichkeiten im Rahmen der baurechtlichen Ordnung, worüber die Parteien einig sind, die gleichen geblieben seien. Letzteres stellt auch die Revision nicht in Zweifel, sie hält aber die baurechtliche Nutzungsmöglichkeit nach der Sachlage für eine Frage von untergeordneter Bedeutung angesichts der Tatsache, daß die Änderung der Struktur des Stadtteils - hervorgerufen durch Umschichtung und Anwachsen der Bevölkerung, Erhöhung der Kaufkraft und die Veränderung der damit zusammenhängenden Umstände - den Klägern heute eine wesentlich wertvollere Ausnutzung des Grundstücks ermögliche als früher. Das Berufungsgericht ist dieser - schon im Beschluß der Enteignungsbehörde und von der Beklagten im Rechtsstreit vertretenen - Auffassung nicht gefolgt; es hat ausgeführt: Strukturveränderungen der Umgebung seit 1940 könnten nur insoweit von Bedeutung sein, als sie die Nutzungsfähigkeit des Grundstücks beeinflußten. Gesteigerte Nutzungsmöglichkeiten (Entwicklung von Ackerland zu Bauland, Heraufsetzung der Gewerbeklasse oder Baustaffel, Änderung der Fluchtlinien), die sich als Folge von Strukturänderungen der Umgebung ergäben, sollten dem Eigentümer nicht zugute kommen. Dagegen wüchsen Wertsteigerungen, die mit Strukturveränderungen einhergingen, ohne die "Qualität" des Grundstücks zu verbessern, dem Eigentümer zu; denn solche Wertsteigerungen ließen sich von preissteigernden Tendenzen anderer Art, insbesondere von rein konjunkturellen Einflüssen, nicht hinreichend sicher abgrenzen, da die verschiedenen Einflüsse auf die Wertverhältnisse einander wechselseitig bedingten.

27

Der Zusammenhang der Entscheidungsgründe des Berufungsurteils ergibt, daß das Berufungsgericht eine Verbesserung der "Qualität" des Grundstücks durch die Änderung der Struktur des Stadtteils, die es offenbar unterstellt, verneinen will, weil sich an der baurechtlichen Bebauungsfähigkeit des Grundstücks nichts geändert habe. Das Berufungsgericht hat die Qualität anhand der für 1940 maßgebenden Verkehrsauffassung und der für 1960 geltenden Bauordnung gleichen Inhalts abstrakt gesehen und gewertet, indem es den Schluß gezogen hat, wenn das Grundstück 1940 in der gleichen Weise habe bebaut werden dürfen wie heute, dann habe sich an der Nutzungsfähigkeit nichts geändert. Die Revision der Beklagten geht dagegen auf eine konkretere Wertung aus, indem sie aus Änderungen der Struktur des Stadtteils oder der Umgebung (erhöhte Kaufkraft bei wachsender Bevölkerung, Ansiedlung und Ausweitung industrieller Betriebe, Bildung neuer und Verschiebung alter Geschäftszentren) folgert, erst diese Änderungen in der Zwischenzeit hätten - bei gleichgebliebener baurechtlicher Ordnung - die praktische Möglichkeit gegeben, auf dem Grundstück etwa (um bei einem Beispiel des Gutachterausschusses zu bleiben) ein mehrgeschossiges Geschäftshaus mit 110 Meter Ladenfront oder (nach dem von den Klägern eingereichten Privatgutachten) einen vier- bis fünfstöckigen Block mit Läden und Restaurant zu errichten, was nach den vorstädtischen Verhältnissen von 1940 ganz ausgeschlossen gewesen sei; die Änderung der Struktur der Umgebung habe zwar nicht die rechtliche, wohl aber die praktische Nutzungsfähigkeit des Grundstücks verbessert, und eine solche Verbesserung sei abgrenzbar (§ 267 ZPO), hätte festgestellt werden müssen und dürfe nach der gesetzlichen Regelung den Klägern nicht zugute kommen, weil diese nur entsprechend dem Wert dessen zu entschädigen seien, was ihnen seinerzeit genommen wurde.

28

3.

Es läßt sich nicht ausschließen, daß das Berufungsgericht die gleichbedeutenden Begriffe Zustand und Qualität verkannt und den Klägern demzufolge eine höhere Entschädigung zugesprochen hat, als ihnen zukommt.

29

Bei der Prüfung der in dem enteigneten Gegenstand selbst liegenden Bewertungsumstände kann - da in Enteignungssachen stets eine wirtschaftliche Betrachtungsweise geboten ist - ein Grundstück niemals isoliert, sondern stets nur im Zusammenhang mit seiner Umgebung gesehen werden. Das Berufungsgericht selbst hebt zutreffend aus dem bereits genannten Urteil des erkennenden Senats vom 6. Dezember 1962 - III ZR 113/61 - hervor, entscheidend sei die durch "Beschaffenheit und Lage bedingte Nutzungsfähigkeit" am Tage der Inanspruchnahme, wobei Nutzungsmöglichkeiten, deren Verwirklichung nicht in greifbarer Nähe lägen und die deshalb den Verkehrswert nicht beeinflussen könnten, unberücksichtigt zu bleiben hätten. In dem Urteil vom 25. September 1958 - III ZR 82/57 - (BGHZ 28, 160, 163) ist die Bewertung darauf abgestellt, welchen Wert Grundstücke wie das enteignete Grundstück "in einer entsprechenden örtlichen Lage (Weichbild einer Stadt von der damaligen Größe und Bedeutung und mit entsprechenden Entwicklungstendenzen)" hatten. Das Urteil vom 8. November 1962 - III ZR 86/61 - (BGHZ 39, 198) führt aus, daß Bebauungserwartungen erfahrungsgemäß den Wert beeinflussen, sofern die Bebauung bereits für eine absehbare Zeit, wenn auch nicht unumstößlich sicher feststeht, doch mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten oder zu erhoffen ist (a.a.O. 203), und behandelt sodann (a.a.O. 210) die Umstände, die nach der Lage des Grundstücks und der Entwicklung seiner Umgebung für eine solche Erwartung sprechen können, wie eine günstige Lage innerhalb des Stadtgebiets oder in unmittelbarer Stadtnähe, günstige Verkehrsverhältnisse, die Nähe bereits erschlossener Gebiete, die allgemeine Entwicklung der Umgebung, Wachstum der Bevölkerung, Umschichtungen struktureller Natur, das Streben nach einer Auflockerung der Stadtkerne und nach Eigenheimen und ähnliches.

30

Allerdings ging es bei den angeführten Entscheidungen darum, ob das enteignete Grundstück noch als Ackerland oder mit Rücksicht auf eine Bebauungserwartung schon höher zu klassifizieren sei, eine Frage, die in der vorliegenden Sache nicht entsteht, weil die Baulandqualität feststeht und gleiche rechtliche Bebaubarkeit für 1940 und 1960 unstreitig ist. Für die hier zu entscheidende Frage, in welchem Umfange die Kläger die gegebene rechtliche Bebaubarkeit praktisch hätten ausnutzen können und wie der Verkehr deshalb das Grundstück bewertete, ergeben die Grundsätze der angeführten Entscheidungen jedenfalls, daß das enteignete Grundstück nicht für sich isoliert betrachtet werden darf, es muß gerade in seiner Lage und Nutzungsfähigkeit im Stadtteil Hemelingen gesehen werden. Es ist nicht richtig, wenn die Kläger dem entgegenhalten wollen, die wirtschaftliche Bedeutung des Grundstücks, das an der Hauptstraße von Bremen nach Hamburg und am Ausgangspunkt der Hauptstraße am rechten Weserufer nach Hannover liege, habe sich überhaupt nicht mehr verbessern können. Wenn - wovon revisionsmäßig auszugehen ist - für 1940 nur die Bebauung mit kleineren Wohnhäusern praktisch durchführbar gewesen wäre, während sich heute die Errichtung eines mehrgeschossigen Wohn- oder Geschäftshauses mit längerer Ladenfront anbieten könnte, so ist die Möglichkeit, daß der Verkehr das Grundstück - trotz gleichgebliebener baurechtlicher Ordnung - heute qualitativ höher einschätzt als früher, nicht auszuschließen, weil eben eine günstigere Ausnutzung des zulässigen rechtlichen Rahmens in greifbare Nähe gerückt und damit die wirkliche Nutzungsfähigkeit gesteigert wäre.

31

Das Berufungsurteil läßt nicht erkennen, daß das Berufungsgericht derartige Erwägungen angestellt hat. Es spricht zwar - bei seiner Kritik des Beschlusses der Enteignungsbehörde - von Wertsteigerungen, die mit Strukturveränderungen einhergehen, ohne die Qualität des Grundstücks zu verbessern, schließt letzteres aber daraus, daß die jetzige baurechtliche Regelung bereits der für die Ausnutzung des Grundstücks maßgeblichen Verkehrsauffassung des Jahres 1940 entspreche, und wiederholt in späterem Zusammenhang, daß sich die Nutzungsfähigkeit im Rahmen der baurechtlichen Ordnung seit der Inanspruchnahme nicht geändert habe. Das genügt dem Bedürfnis nach genauer Klassifizierung nicht und schließt nicht aus, daß die Kläger mit der Bewertung nach heutigem Maßstab mehr erhalten, als ihnen gebührt, dann nämlich, wenn der Verkehr das Grundstück in seiner Umgebung nach seiner wirtschaftlichen Nutzbarkeit 1940 geringer einschätzte als heute. Den Klägern ist - mit anderen Worten - ein Grundstück im Stadtteil H. nach dessen Entwicklungsstand im Jahre 1940 genommen worden; dafür sind sie zu entschädigen, nicht für den Verlust des Grundstücks in dem Zustand, in dem es sich heute befinden würde.

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Dem Berufungsurteil und den verwendeten Unterlagen ist Sicheres über den Zustand im Jahre 1940, soweit er durch die Entwicklung der Umgebung beeinflußt wird, nicht zu entnehmen. Von einer Zustandsänderung bis zum Jahre 1960, die sich wertmäßig ausgewirkt haben kann, muß der Senat jedoch ausgehen. So hat unstreitig die schon vor dem Kriege vorhandene industrielle Ansiedlung sich nach dem Kriege ausgeweitet; im Blick auf die Wohnsiedlung fällt die moderne Bebauung mit höherer Geschoßzahl erst in die Nachkriegszeit. Der Sachverständige Dr. R. den Erschließungszustand wie die Kaufkraft dieses Gebietes heute als wesentlich verändert gegenüber den gleichartigen Verhältnissen des Jahres 1936 bezeichnet. Der Gutachterausschuß spricht in bezug auf die S.-H.straße von einem "Spiegelbild unterschiedlicher Bauperioden" und von "einem Gebiet mit aufsteigender Entwicklung"; seine Schilderung der Umgebung läßt ebenfalls erkennen, daß die Bebauung mit höhere Häusern in die Nachkriegszeit fällt. Schließlich spricht das Berufungsurteil selbst von "Wertsteigerungen, die mit Strukturänderungen einhergehen", und im Zusammenhang damit auch von einer "unverdienten Bodenrente", allerdings ohne diesen Gedanken folgerichtig fortzuführen. Das alles deutet darauf hin, daß sich in dem fraglichen Zeitraum Qualitätsmerkmale verschoben haben können und nicht nur - wie das Berufungsgericht meint - preissteigernde Tendenzen am Werke waren.

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Dann aber bedarf, um eine sichere Grundlage für die Entscheidung zu gewinnen, der Zustand von 1940 der Feststellung, gerade unter dem Gesichtspunkt, ob der Verkehr die Nutzungsfähigkeit des Grundstücks damals ebenso wertete wie heute. Darüber ist dem Berufungsurteil nichts zu entnehmen ebensowenig wie dem Gutachten des Gutachterausschusses, dem das Berufungsgericht gefolgt ist; denn die Gutachter sind entsprechend der Beweisfrage davon ausgegangen, daß das enteignete Grundstück jetzt in gleicher Weise genutzt werden könne wie am 8. Juli 1960 unmittelbar benachbarte Grundstücke.

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4.

Dem Bedenken des Berufungsgerichts, die Einflüsse von Strukturänderungen ließen sich von preissteigernden Tendenzen anderer Art, insbesondere von rein konkunkturellen Einflüssen, nicht hinreichend sicher abgrenzen, begegnet die Revision der Beklagten, mit dem Hinweis darauf, daß es hier nicht um die Preisentwicklung gehe. Das ist im Grundsatz richtig, denn die hier zu entscheidende Frage, ob der Verkehr die Nutzungsfähigkeit des Grundstücks im Jahre 1940 ebenso wertete wie im Jahre 1960, gehört noch in den Rahmen der Feststellung der Qualität. Sicher gilt dies, soweit davon die Rede ist, daß echte Veränderungen der Struktur des Stadtteils - wie das Anwachsen der Bevölkerung, das Näherrücken des Stadtkerns, die Bildung neuer Geschäfts- oder Verkehrszentren - heute eine erhöhte Nutzungsfähigkeit begründeten. Zweifelhaft und besonderer Prüfung bedürftig muß es jedoch sein, ob Umstände, die die Revision ebenfalls zu den "Strukturänderungen" zählt - wie die Steigerung der Kaufkraft der Bevölkerung und die Flucht in die Sachwerte -, noch bei der Feststellung der Qualität oder nur bei der Preisermittlung berücksichtigt werden können. Wesentlich werden auch insoweit die tatsächlichen Verhältnisse sein, die dem Berufungsurteil nicht in hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen sind. Die Revision weist in diesem Zusammenhang richtig auf die Möglichkeiten hin, die § 287 ZPO bei richtiger Handhabung gibt. Allerdings darf der Richter bei Anwendung dieser Bestimmung nicht "ins Blaue hinein" schätzen (BGH Urteil vom 2. Oktober 1961 - III ZU 131/60 -), jedoch läßt sich gegenwärtig nicht sagen, ob weitere Erörterung und Prüfung unter den richtigen Gesichtspunkten nicht doch zu greifbaren Anhaltspunkten für eine Schätzung führen wird. Deshalb wäre es verfrüht, diese Fragen jetzt schon abschließend behandeln zu wollen. Ergibt sich, daß der Verkehr die praktische Nutzungsfähigkeit für 1940 bereits wie die heutige einschätzte, so wären die Bedenken der Revision hinfällig. Ergeben sich jedoch Unterschiede, so kann es möglicherweise angebracht sein, die Bemessung der Entschädigung an die Bewertung der Grundstücke in einem Gebiet anzulehnen, das heute ähnliche Verhältnisse aufweist, also im gleichen Maße erschlossen ist, wie der Stadtteil H. im Jahre 1940. Mehr läßt sich beim gegenwärtigen Erörterungsstand hierzu nicht sagen.

35

Das Berufungsurteil muß daher auf die Revision der Beklagten, soweit deren Berufung zurückgewiesen worden ist, aufgehoben werden, um dem Berufungsgericht weitere tatsächlich Erörterung in dem vorgezeichneten Rahmen zu ermöglichen.

36

IV.

Die gleiche Erwägung, daß ein für die Entscheidung wesentlicher Umstand in tatsächlicher Hinsicht nicht festgestellt ist, führt auch die Revision der Kläger zum Erfolg. Dies wäre nur dann zu vermeiden, wenn die gebotene weitere Erörterung auf die Revision der Beklagten ausschließlich eine Ermäßigung, niemals eine Erhöhung der Entschädigung zur Folge haben könnte. Doch läßt sich dies nach dem gegenwärtigen Sachstand nicht mit einiger Sicherheit sagen. Allerdings haben die Kläger ersichtlich nicht - wie die Revision es jetzt darstellen möchte - Berufung nur zu dem Zweck eingelegt, weitere Preissteigerungen im Zuge der (ihrer Auffassung nach unbegründeten) Berufung der Beklagten aufzufangen. Vielmehr haben die Kläger mit der Berufung um weitere angemessene Erhöhung der Entschädigung gebeten mit der Begründung, das Gutachten vom 16. Oktober 1961 müsse einer Nachprüfung unterzogen werden, weil einerseits gerade in der jüngsten Zeit erhebliche Preisänderungen, zum anderen in der östlichen Vorstadt grundsätzliche Veränderungen (Zusammendrängung des Verkehrs vor dem Grundstück) eingetreten seien (Berufungsbegründung der Kläger - dort Bl. 4 -). Der Hinweis des Berufungsgerichts auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats, zwischenzeitliche Preissteigerungen dürften einer Partei nicht zugute kommen, die zu Unrecht ein Rechtsmittel eingelegt habe, ist daher nicht abwegig. Jedoch läßt sich hierzu gegenwärtig nichts Abschließendes sagen, weil dem Parteivortrag nicht entnommen werden kann, ob Zahlungen auf die Entschädigung geleistet worden sind (vgl. BGHZ 44, 53, 57) [BGH 21.06.1965 - III ZR 8/64].

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Ob - wie die Revision der Kläger weiter rügt - das Berufungsgericht Mitglieder des Gutachterausschusses zur mündlichen Verhandlung hätte laden müssen, nachdem die Kläger im Schriftsatz vom 31. Mai 1963 deren Ladung beantragt hatten, kann offen bleiben. Denn die Revision wendet sich mit guten Gründen gegen das Ergänzungsgutachten vom 3. Mai 1963. Allerdings hat das Berufungsgericht - entgegen der Auffassung der Revision - die im Schriftsatz vom 31. Mai 1963 vorgebrachten Bedenken der Kläger gegen das Ergänzungsgutachten zwar beachtet, denn das Berufungsurteil sagt in bezug hierauf ausdrücklich, daß die sachverständigen Feststellungen des Gutachterausschusses durch die von den Klägern angeführten Verkaufsfälle nicht entkräftet würden; der Revision ist jedoch in dem Bedenken zuzustimmen, daß das Berufungsurteil insoweit nicht erkennen läßt, ob eine sachgerechte Würdigung des Vertrages der Kläger stattgefunden hat. Die Kläger wollten mit ihrem Schriftsatz vom 31. Mai 1963 nicht nur darlegen, daß der Gutachterausschuß Verkaufsfälle, die die Kläger für wesentlich hielten, unberücksichtigt gelassen habe, sondern darüber hinaus, daß dem Gutachterausschuß wesentliche Verkaufsfälle aus jüngster Zeit noch unbekannt gewesen seien. Diesem letzten Vortrag werden die Ausführungen des Berufungsurteils, welche Verkaufsfälle vergleichbar seien, müsse der sachverständigen Beurteilung überlassen bleiben, und aus vereinzelten Ausnahmefällen ließen allgemeine Tendenzen sich nicht bestätigen, nicht gerecht. Denn das Ergänzungsgutachten läßt in der Tat nicht erkennen, welche Verkaufsfalle der Gutachterausschuß verglichen hat und ob darunter die von den Klägern genannten sind, oder ob diese wohl bedacht, aber nicht für vergleichbar befunden worden sind; die Möglichkeit, daß wenigstens der letzte von den Klägern genannte Verkaufsfall aus dem Mai 1963 unbekannt war, ist nicht auszuschließen Dem Ausschuß war dieser Vortrag der Kläger bei Abgabe des Ergänzungsgutachtens unbekannt. Unter diesen Umständen ermöglicht das Berufungsurteil auch in Verbindung mit dem Gutachten dem Revisionsgericht nicht die ihm obliegende Nachprüfung (BGH Urteil vom 8. November 1965 - III ZR 114/64 = VersR 1966, 162 -). Da sich nach dem gegenwärtigen Sachstand nicht ausschließen läßt, daß der Gutachterausschuß möglicherweise zu einem anderen Urteil hatte gelangen können, wenn er die Liste der Kläger gekannt hätte, jedenfalls nicht erkennbar ist, ob und aus welchen Gründen er die von den Klägern mitgeteilten letzten Vergleichsfälle für nicht vergleichbar gehalten haben würde, und da schließlich nicht ausgeschlossen werden kann, daß das Berufungsurteil auf diesem Fehler beruht, ist es auch auf die Revision der Kläger aufzuheben, soweit deren Berufung zurückgewiesen worden ist.

38

Die Kostenentscheidung wird dem Berufungsgericht übertragen, weil erst dessen künftige Entscheidung ergeben wird, inwieweit das Begehren der Parteien erfolgreich sein kann.

Dr. Pagendarm
Dr. Kreft
Gähtgens
Keßler
Dr. Reinhardt