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Bundesverwaltungsgericht
Beschl. v. 29.06.2023, Az.: BVerwG 8 B 56.22
Feststellung der Entschädigungsberechtigung hinsichtlich von Aktienbeteiligungen an der Metallwarenfabrik; Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
Gericht: BVerwG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 29.06.2023
Referenz: JurionRS 2023, 38383
Aktenzeichen: BVerwG 8 B 56.22
ECLI: ECLI:DE:BVerwG:2023:290623B8B56.22.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

VG Berlin - 25.08.2022 - AZ: 29 K 219.16

BVerwG, 29.06.2023 - BVerwG 8 B 56.22

Redaktioneller Leitsatz:

Es ist geklärt, dass § 75 Satz 1 VwGO auch Fälleerfasst, in denen die Behörde - bewusst oder unbewusst - nur über einen Teil des Antrags entschieden hat. Schon nach dem Wortlaut der Vorschrift ist der gegebenenfalls durch Auslegung zu ermittelnde objektive Erklärungsgehalt des gestellten Antrags maßgeblich und nicht, wie die Behörde ihn verstanden hat. Wegen des unbeschiedenen Teils kann der Antragsteller gemäß § 75 VwGO Klage erheben; bei späterem Erlass eines Ablehnungsbescheides findet die Fristbestimmung des § 74 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 VwGO keine Anwendung.

In der Verwaltungsstreitsache
hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Juni 2023
durch
die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seegmüller und Dr. Naumann
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 25. August 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf die Wertstufe bis 500 000 € festgesetzt.

Gründe

1

Die Klägerin begehrt, soweit noch verfahrensgegenständlich, die Feststellung ihrer Entschädigungsberechtigung bezüglich Aktienanteilen der Herren Dr. W. U. und R. U. an der Metallwarenfabrik vorm. W. AG. Mit Schreiben vom 25. Juni 1993 präzisierte sie ihre Globalanmeldung ANM-3 auf den Vermögenswert "Betriebsvermögen, Ort: Z., Straße: Hauptstr. 1, ehem. Eigent.: K. + U., FA. (K. & CO), F. + W.". Sie nahm auf näher bezeichnete Akten zu nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geführten Entschädigungsverfahren im Lande Thüringen Bezug, die die W. AG betrafen. In diesen befand sich unter anderem ein Schreiben der Präsidialabteilung, Ref. Wiedergutmachung, an die Hauptverwaltung landeseigener Betriebe, in dem ausgeführt wurde: "Das Aktienkapital der Metallwarenfabrik W. A.G. betrug bis zum Jahre 1936 3 Mill. RM. Davon waren 224.900,- RM noch im Jahre 1936 im Besitze der Herren R. und W. U., die beide ihre Beteiligung unter dem Druck des Naziregimes abzustoßen gezwungen waren, ohne den Gegenwert für sich retten zu können." Mit Bescheid vom 27. Juni 2016 lehnte das Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (Bundesamt) den Antrag auf "Rückübertragung von Betriebsvermögen in Z., Hauptstraße 1, mit den ehemaligen Eigentümern Firma K. + U. (K. & Co.), F. + W. ..." ab. Es liege zwar eine fristgerechte Anmeldung vor; diese führe jedoch nicht auf die Firma mit den ehemaligen Eigentümern K. + U. Die Schädigung der Beteiligungen an der W. AG sei nicht Antragsziel gewesen.

2

Die Klägerin erhob hiergegen fristgerecht Klage gerichtet auf Feststellung der Entschädigungsberechtigung hinsichtlich von Aktienbeteiligungen des Dr. W. U. und R. U., die sie später auf Beteiligungen des Dr. F. U. erweiterte. Mit Bescheid vom 31. März 2022 lehnte das Bundesamt eine Entschädigung für Aktienbeteiligungen von R. U. ab, da für diesen keine wirksame Antragstellung vorliege. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin nicht gesondert Klage. Mit Bescheid vom 22. Juli 2022 stellte das Bundesamt betreffend Dr. W. U. die Berechtigung einer Entschädigung wegen des Verlusts von Aktienbeteiligungen in Höhe von 15 000 RM fest. Bezüglich Dr. W. U. sei die Anmeldung ausreichend präzise gewesen und der Verlust in dieser Höhe nachgewiesen. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin ausdrücklich Klage. Das Verwaltungsgericht hat der Klage hinsichtlich der Entschädigungsberechtigung des R. U. und des Dr. W. U. stattgegeben, sie im Übrigen abgewiesen und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.

3

Die hiergegen gerichtete, allein auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde der Beklagten hat keinen Erfolg.

4

Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung gem. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt voraus, dass die Rechtssache eine Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die der - gegebenenfalls erneuten oder weitergehenden - höchstrichterlichen Klärung bedarf, sofern diese Klärung in dem angestrebten Revisionsverfahren zu erwarten steht und dies zu einer Fortentwicklung der Rechtsprechung über den Einzelfall hinausführen wird. Der Rechtsmittelführer hat darzulegen, dass diese Voraussetzungen vorliegen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Dem wird die Beschwerde nicht gerecht.

5

Die von der Beklagten aufgeworfene Frage,

ob bei einer gegen einen ablehnenden Verwaltungsakt erhobenen Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage der Anwendungsbereich des § 75 VwGO eröffnet ist, wenn sich der Klageantrag hinsichtlich des beantragten Verfahrensgegenstandes von dem des angegriffenen Bescheids unterscheidet und der beantragte Verfahrensgegenstand erstmals im Klageantrag benannt wurde,

würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen, weil das Verwaltungsgericht nicht angenommen hat, der im Klageantrag als Verfahrensgegenstand bezeichnete Vermögenswert sei erst mit Klageerhebung benannt worden. Das Verwaltungsgericht ist vielmehr davon ausgegangen, die Klägerin habe schon mit Schreiben vom 25. Juni 1993 Angaben gemacht, die auf den Verfahrensgegenstand, die Aktienbeteiligungen des Dr. W. U. und des R. U. hinführten. Seine darauf gestützte Annahme, diese Vermögensgegenstände seien durch den Verweis auf die in ANM-3 in Bezug genommene Archivakte MdF Nr. ... schon im Verwaltungsverfahren gemäß § 30 VermG als Restitutionsobjekte bezeichnet worden, hat die Beklagte nicht mit wirksamen Rügen angegriffen.

6

Soweit die Frage darauf zielt, ob § 75 VwGO bei unvollständiger Bescheidung des so verstandenen Restitutionsantrags anzuwenden ist, bedarf sie keiner Klärung in einem Revisionsverfahren; ihre Beantwortung ergibt sich ohne Weiteres aus dem Gesetz. § 75 Satz 1 VwGO erfasst auch Fälle, in denen die Behörde - bewusst oder unbewusst - nur über einen Teil des Antrags entschieden hat. Schon nach dem Wortlaut der Vorschrift ist der gegebenenfalls durch Auslegung zu ermittelnde objektive Erklärungsgehalt des gestellten Antrags maßgeblich und nicht, wie die Behörde ihn verstanden hat. Wegen des unbeschiedenen Teils kann der Antragsteller gemäß § 75 VwGO Klage erheben; bei späterem Erlass eines Ablehnungsbescheides findet die Fristbestimmung des § 74 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 VwGO keine Anwendung (vgl. Porsch, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand August 2022, § 75 Rn. 25 m. w. N.).

7

Die weiter aufgeworfene Frage,

ob sich verfolgungsbedingte Anteilsschädigungen mehrerer Inhaber von Beteiligungen am selben Unternehmen als eine Schädigung behandeln lassen, wenn weder der individuelle Umfang der Beteiligungen noch die konkreten Umstände der jeweiligen Vermögensverluste festgestellt werden können, soweit beide Geschädigte denselben Rechtsnachfolger als vermögensrechtlich Berechtigten haben,

würde sich in dieser Allgemeinheit in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Zum individuellen Umfang der Beteiligungen findet sich in dem Urteil zumindest die Feststellung, dass sowohl Dr. W. U. als auch R. U. jeweils Beteiligungen besaßen, ersterer im Wert von mindestens 15 000 RM. Der individuelle Umfang der Beteiligungen ist danach insoweit bestimmbar, als Dr. W. U. 1936 eine Aktienbeteiligung im Wert von mindestens 15 000 RM und höchstens 224 900 RM abzüglich dem Wert einer Aktie besaß und R. U. eine Aktienbeteiligung, deren Wert 224 900 RM abzüglich des Anteils von Dr. W. U. betrug. Hinsichtlich der Umstände des Verlusts beider Beteiligungen hat das Verwaltungsgericht - ungerügt - festgestellt, dass beide Geschädigte gezwungen gewesen seien, ihre jeweiligen Beteiligungen unter dem Druck des Nazi-Regimes abzustoßen, ohne den Gegenwert für sich retten zu können. Damit ist es von einem Verlust der Beteiligungen durch Zwangsveräußerungen ausgegangen.

8

Die danach verbleibende Frage,

ob der gemeinsame Rechtsnachfolger beider Geschädigter in solchen Fällen einen Gesamtverlust ohne weitere Differenzierungen geltend machen kann,

wäre im angestrebten Revisionsverfahren nur entscheidungserheblich, soweit sie die nach § 2 Abs. 1 Satz 3 VermG fingierte Rechtsnachfolge der Klägerin in Ansprüche jüdischer Berechtigter nach § 1 Abs. 6 VermG betrifft. Insoweit hat die Beklagte die einzelfallübergreifende Bedeutung nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügend substantiiert. Allerdings war die Beklagte nicht gehalten, eine Substantiierung nach den strengen Anforderungen vorzunehmen, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für Rechtsfragen zu auslaufendem, ausgelaufenem oder nur übergangsweise geltendem Recht gelten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Juni 2014 - 5 B 11.14 - NVwZ-RR 2014, 740 Rn. 5 m. w. N.). Das Vermögensgesetz und das NSVerfolgtenentschädigungsgesetz sind kein auslaufendes Recht in diesem Sinne, weil ihre Fortgeltung nicht zeitlich begrenzt ist. Wohl aber verlieren sie durch die Zeitgebundenheit der geregelten Sachverhalte und die in ihren normierten, weit in der Vergangenheit liegenden Antrags- und Ausschlussfristen (vgl. § 30a VermG und § 1 Abs. 1a Satz 1 und 2 NS-VEntschG) nach und nach ihren Anwendungsbereich (vgl. zum Bundesentschädigungsgesetz BGH, Urteil vom 19. April 2007 - IX ZB 269/05 - NJW-RR 2008, 220 <220 f.>). Deshalb abnehmende Fallzahlen schließen nicht aus, dass revisible Rechtsfragen zur Anwendung solcher Vorschriften einzelfallübergreifende Bedeutung haben, weil ihre Klärung noch für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft von Bedeutung ist. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erfordert jedoch eine substantiierte Darlegung dieser Voraussetzungen. Wenn der Revisionsführer, wie vorliegend, einen umfassenden Überblick über die anhängigen Verfahren hat und der Revisionsgegner die einzelfallübergreifende Bedeutung der Rechtssache substantiiert bestreitet, erfordert dies die Nennung konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die aufgeworfene Rechtsfrage auch zukünftig in einer erheblichen Zahl von Fällen entscheidungsrelevant sein wird. Daran fehlt es hier.

9

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 3 GKG.

Dr. Held-Daab

Dr. Seegmüller

Dr. Naumann

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