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Bundesverwaltungsgericht
Beschl. v. 08.03.2012, Az.: BVerwG 2 WD 30.11
Verletzung der Amtsermittlungspflicht durch das Gericht bei Entscheid "im Zweifel für den beschuldigten Soldaten" ohne Ausschöpfung zuvor aller ihm zur Verfügung stehenden entscheidungserheblichen Beweismittel
Gericht: BVerwG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 08.03.2012
Referenz: JurionRS 2012, 13928
Aktenzeichen: BVerwG 2 WD 30.11
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

TDiG Süd - 14.09.2011 - AZ: TDiG S 5 VL 39/10

Rechtsgrundlagen:

§ 261 StPO

§ 91 Abs. 1 WDO

§ 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO

BVerwG, 08.03.2012 - BVerwG 2 WD 30.11

Redaktioneller Leitsatz:

1.

Weitere Aufklärungen sind im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO erforderlich, wenn es in dem angefochtenen Urteil ganz oder teilweise an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen fehlt, die für die Entscheidung erheblich sind.

2.

Ein schwerer Mangel des Verfahrens im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO liegt vor, wenn gegen eine Verfahrensvorschrift verstoßen worden ist, deren Verletzung schwerwiegend und für den Ausgang des Verfahrens (noch) von Bedeutung ist. Ein schwerwiegender Verstoß gegen eine Verfahrensvorschrift ist regelmäßig dann gegeben, wenn die Rechte eines Verfahrensbeteiligten wesentlich beeinträchtigt worden sind oder wenn der Verfahrensverstoß den Zweck einer Formvorschrift wesentlich vereitelt.

3.

Als schwerwiegender Mangel des Verfahrens ist u.a. das Fehlen von ausreichenden und widerspruchsfreien Feststellungen zur Tat- und Schuldfrage anerkannt.

4.

§ 261 StPO i.V.m. § 91 Abs. 1 WDO verpflichtet, alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zu würdigen und dem Urteil zugrunde zu legen, sofern nicht im Einzelfall ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht. Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zugunsten oder zuungunsten des Angeschuldigten zu beeinflussen.

5.

Das Gericht verletzt seine Amtsermittlungspflicht namentlich dann, wenn es "im Zweifel für den beschuldigten Soldaten" entschieden hat, ohne zuvor alle ihm zur Verfügung stehenden entscheidungserheblichen Beweismittel ausgeschöpft zu haben.

6.

Das Gericht, das nicht über eigene Sachkunde verfügt, ist in aller Regel für die Diagnose einer psychischen Störung, ihren Schweregrad und ihre innere Beziehung zur Tat auf die Unterstützung eines Sachverständigen angewiesen.

7.

Wurde eine Sachverhaltsaufklärung erstinstanzlich gar nicht erst begonnen oder war sie weitgehend unzulänglich, ist in aller Regel trotz des Beschleunigungsgebotes eine Zurückverweisung durch das Berufungsgericht geboten.

8.

Es ist nach den Regelungen der Wehrdisziplinarordnung nicht Aufgabe des Rechtsmittelgerichts, anstelle der dazu berufenen Truppendienstkammer notwendige gerichtliche Feststellungen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt erstmals zu treffen.

In dem gerichtlichen Disziplinarverfahren
...
hat der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Golze, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Burmeister und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Eppelt
am 8. März 2012
beschlossen:

Tenor:

Auf die Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft wird das Urteil der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 14. September 2011 aufgehoben.

Die Sache wird zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des Truppendienstgerichts Süd zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens und die Erstattung der dem Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I

1

Der 34 Jahre alte frühere Soldat wurde im Mai 1998 in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen. Er wurde regelmäßig befördert, zuletzt im Mai 2005 zum Oberfeldwebel. Seine Dienstzeit wurde mehrfach verlängert, zuletzt im Januar 2004 auf fünfzehn Jahre. Vor Erreichen des regulären Dienstzeitendes am 30. April 2013 wurde der frühere Soldat zum 30. Juni 2009 gemäß § 55 Abs. 2 SG aus der Bundeswehr entlassen. Bis Ende März 2011 hat er Übergangsgebührnisse in Höhe von zuletzt monatlich 1.641, 37 € brutto erhalten. Tatsächlich ausgezahlt wurden ihm 1.180, 20 €. Die Übergangsbeihilfe wurde ihm in voller Höhe ausgezahlt.

2

Der Auszug aus dem Disziplinarbuch vom 18. September 2007 verweist auf eine förmliche Anerkennung vom 17. Juni 2004 wegen einer hervorragenden Einzeltat und einen strengen Verweis vom 10. Februar 2005 wegen "unzureichender Ausübung der Materialbewirtschaftung". Die Auskunft aus dem Zentralregister und dem Erziehungsregister vom 10. November 2011 enthält folgende Eintragungen:

  1. 1.

    " 19.11.2007 Amtsgericht ...

    (R2407) - 247 Js 1540/07 101 Cs 163/07 -

    Rechtskräftig seit 07.12.2007

    Datum der (letzten) Tag: 03.09.2007

    Tatbezeichnung: Betrug

    Angewendete Vorschriften: StGB § 263 Abs. 1, 248 a

    25 Tagessätze zu je 30,00 EUR Geldstrafe

  2. 2.

    08.12.2008 AG ...

    (D2601) - 824 Cs 250 Js 224198/07 -

    Rechtskräftig seit 10.02.2009

    Datum der (letzten) Tat: 11.03.2007

    Tatbezeichnung: Vortäuschen einer Straftat

    Angewendete Vorschriften: StGB § 145d Abs. 1 Nr. 1

    90 Tagessätze zu je 40,00 EUR Geldstrafe

  3. 3.

    26.10.2010 AG ...

    (D4303) - 3 Cs 240 Js 3215/10 -

    Rechtskräftig seit 17.11.2010

    Datum der (letzten) Tat: 14.01.2010

    Tatbezeichnung: Betrug

    Angewendete Vorschriften: StGB § 263 Abs. 1

    75 Tagessätze zu je 40,00 € EUR Geldstrafe"

II

3

1. Nach Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens durch Verfügung des Leiters der Stammdienststelle der Bundeswehr vom 11. Juni 2010, dem früheren Soldaten zugestellt am 15. Juni 2010, legte die Wehrdisziplinaranwaltschaft für den Bereich der Stammdienststelle der Bundeswehr dem früheren Soldaten mit Anschuldigungsschrift vom 24. November 2010, ihm zugestellt am 3. Dezember 2010, folgenden Sachverhalt als Dienstpflichtverletzung zur Last:

"1. Er hat am 11.03.2007 gegen 19.00 Uhr bei der Bundespolizeiinspektion, ... in ..., Anzeige gegen Unbekannt wegen Diebstahls erstattet und dabei wahrheitswidrig angegeben, dass ihm im Zug ICE 519 am 11.03.2007 in der Zeit zwischen ca. 18.30 Uhr und 18:40 Uhr kurz von ... zwei 'Seesäcke' mit militärischer Ausrüstung im Wert von ca. 1.200 € sowie sein Bundespersonalausweis, sein Truppenausweis und seine dienstliche Fahrerlaubnis gestohlen worden seien. Tatsächlich wurde bei einer am 04.04.2007 vorgenommenen Durchsuchung seines Spindes und seiner privaten Behältnisse im Sanitätszentrum in ... ein Großteil der als gestohlen gemeldeten Gegenstände aufgefunden. Sein Truppenausweis wurde bereits am 16.03.2007 in seinem Dienstzimmer im Sanitätszentrum in ... ... aufgefunden.

2. Er hat am 14.03.2007 in einer 'Dienstlichen Erklärung' gegenüber seinem damaligen Disziplinarvorgesetzten, dem Inspektionschef der Inspektion Einsatz Rettungsassistent, Lehrgruppe ..., an der Sanitätsakademie der Bundeswehr, ..., in ..., ebenfalls wahrheitswidrig den unter Anschuldigungspunkt 1 aufgeführten vermeintlichen Diebstahl seiner militärischen Ausrüstungsgegenstände und seiner Ausweispapiere unter den dort geschilderten Umständen angezeigt.

3. Er betankte am 24.06.2007 gegen 07:00 Uhr, bekleidet in Bundeswehruniform, seinen Pkw an der ...-Tankstelle, ... in ..., mit 30,68 Liter Benzin im Wert von 42 €, obwohl er wusste, zumindest jedoch hätte wissen können und müssen, dass er nicht zahlungsfähig war. Eine von ihm erteilte Einzugsermächtigung konnte aufgrund fehlender Deckung seines Kontos nicht eingelöst werden.

4. Des Weiteren betankte er am 03.09.2007 gegen 06:45 Uhr, bekleidet in Bundeswehruniform, seinen Pkw nochmals an der ...-Tankstelle, ... in ..., (mit) 25,78 Liter Benzin im Wert von 34 €, obwohl er wusste, zumindest jedoch hätte wissen können und müssen, dass er nicht zahlungsfähig war. Der Zusicherung gegenüber dem Tankwart, den Betrag umgehend zu begleichen, kam er erst nach der Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen gegen ihn wegen des o.g. Sachverhaltes nach."

4

Der Anschuldigungspunkt 1 war auch Gegenstand des im Zentralregisterauszug unter der laufenden Nummer 2 verzeichneten Strafbefehls des Amtsgerichts ... vom 8. Dezember 2008. Dem Anschuldigungspunkt 4 liegt der Sachverhalt zugrunde, wegen dessen der im Zentralregisterauszug unter der laufenden Nummer 1 verzeichnete Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom 19. November 2007 ergangen ist.

5

2. Die 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd sprach den früheren Soldaten durch Urteil vom 14. September 2011 frei.

6

In den Gründen heißt es unter anderen: Die Kammer habe aufgrund der Aussage des Leumundszeugen L. Zweifel an der Schuldfähigkeit des früheren Soldaten nicht ausräumen können. Dieser habe den früheren Soldaten am 18. November 2008 zu verschiedenen Vorwürfen vernommen. Der Soldat habe in dieser Vernehmung unter anderem eingeräumt, sich selbst Verletzungen zugefügt und den Wundheilungsprozess durch Manipulationen beeinträchtigt zu haben. Er habe von autoaggressiven Verhaltensweisen schon im Kindesalter berichtet. Indem er sich damals Verletzungen zugefügt habe, habe er Erleichterungen wegen Streitigkeiten mit seiner alkoholkranken Mutter verspürt. Der frühere Soldat habe angegeben, an der Borderline-Krankheit erkrankt zu sein. Er habe, als dienstliche Vernehmungen wegen unbezahlter Rechnungen bei Tankstellen und wegen Verlust der persönlichen Ausrüstung anstanden, sich selbst Verletzungen zugefügt und den Krankheitsverlauf hinausgezögert. Außerdem habe er unwahre Angaben zu einem Autounfall vom 25. Februar 2008 gemacht. Er habe sich in diesem Zusammenhang einige Verletzungen selbst beigebracht und andere vorgetäuscht. Auch eine im Juli 2008 in R. behandelte Verletzung habe er sich im Mai 2008 selbst zugefügt und im Heilungsverlauf immer wieder geöffnet. Er habe nicht in den Dienst zurück gewollt und auch nicht mit den akuten Problemen wie Tankrechnungen und Schulden konfrontiert werden wollen. Schon zuvor habe er sich mehrfach Verletzungen zugefügt, um Problemen auszuweichen, und falsche Angaben über den Grund der Verletzungen gemacht. Als Kind habe er sich über 50 Verletzungen zugefügt. Nach einem strengen Verweis im Jahr 2005 und dem Beginn seiner Eheprobleme seien seine Probleme richtig zum Ausbruch gekommen. Er habe sich durch Lügen und die "Ritzerei" eine heile Welt erschaffen und sei vor Problemen geflüchtet. Diese Angaben des früheren Soldaten - so das Truppendienstgericht - würden mit Meldungen, Unterlagen und Feststellungen der Akte korrelieren, aus denen hervorgehe, dass dem früheren Soldaten weitere Dienstpflichtverletzungen vorgeworfen würden, die mit seiner psychischen Erkrankung zu erklären wären. Aufgrund der nachvollziehbaren und glaubhaften Darstellungen des Zeugen L. habe die Kammer erhebliche Zweifel an der Schuldfähigkeit des früheren Soldaten. Nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" gehe sie davon aus, dass er bei den vorgeworfenen Taten nicht schuldfähig gewesen sei.

7

3. Mit Schriftsatz vom 18. Oktober 2011, beim Truppendienstgericht Süd eingegangen am 20. Oktober 2011, legte die Wehrdisziplinaranwaltschaft zuungunsten des früheren Soldaten gegen das ihr am 23. September 2011 zugestellte Urteil in vollem Umfang Berufung ein.

8

Die Kammer habe ihre Aufklärungspflicht nach § 106 WDO nicht erfüllt, da sie zugunsten des früheren Soldaten von seiner Schuldunfähigkeit ausgegangen sei, ohne ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen oder im Urteil darzulegen, dass die Kammer selbst über hinreichende Sachkunde verfüge. Es fehle auch an Darlegungen zu einem ursächlichen Zusammenhang zwischen der möglichen Erkrankung des früheren Soldaten und seiner Unfähigkeit, das Unrecht seiner Taten einzusehen.

9

4. Nachdem dem früheren Soldaten ein Verteidiger für das Berufungsverfahren bestellt worden war, erhielten die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu einer möglichen Entscheidung nach § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO.

10

Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hält eine Zurückverweisung nicht für zwingend. Wegen des Beschleunigungsgrundsatzes solle das gerichtliche Disziplinarverfahren wegen des fünf Jahre zurückliegenden Geschehens ohne zeitlichen Verzug zum Abschluss gebracht werden. Der Senat könne ebenfalls ein Gutachten zur Schuldfähigkeit des früheren Soldaten einholen. Er habe in einem anderen Verfahren von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, offenbare Aufklärungsmängel der Vorinstanz in der Berufungsinstanz zu heilen.

11

Der Verteidiger vertritt die Auffassung, es sei nicht Aufgabe des Bundesverwaltungsgerichts, Fehler eines erkennenden Truppendienstgerichts "auszubügeln". Es handele sich nicht um eine bloße Formalie wie die Beschaffung einer noch nicht vorliegenden Ernennungsurkunde.

III

12

Die zulässige Berufung (§ 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 WDO) führt zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des Truppendienstgerichts Süd zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung, weil ein schwerer Mangel des Verfahrens vorliegt und weitere Aufklärungen erforderlich sind (§ 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO). Die Entscheidung ergeht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung (§ 120 Abs. 1 WDO) in der Besetzung mit drei Richtern (§ 80 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 WDO).

13

1. Weitere Aufklärungen sind im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO erforderlich, wenn es in dem angefochtenen Urteil des Truppendienstgerichts ganz oder teilweise an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen fehlt, die für die Entscheidung erheblich sind. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn eine unbeschränkte Berufung eingelegt worden ist und der Wehrdienstsenat damit an sich die notwendigen Sachverhaltsfeststellungen selbst treffen könnte (vgl. dazu Beschluss vom 13. Januar 2009 - BVerwG 2 WD 5.08 - Buchholz 450.2 § 91 WDO 2002 Nr. 4 = NVwZ-RR 2009, 522 Rn. 15; Dau, WDO, 5. Aufl. 2009, § 120 Rn. 5 m.w.N.). Ein schwerer Mangel des Verfahrens im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO liegt vor, wenn gegen eine Verfahrensvorschrift verstoßen worden ist, deren Verletzung schwerwiegend und für den Ausgang des Verfahrens (noch) von Bedeutung ist. Ein schwerwiegender Verstoß gegen eine Verfahrensvorschrift ist regelmäßig dann gegeben, wenn die Rechte eines Verfahrensbeteiligten wesentlich beeinträchtigt worden sind oder wenn der Verfahrensverstoß den Zweck einer Formvorschrift wesentlich vereitelt. Als schwerwiegender Mangel des Verfahrens im dargelegten Sinne ist in der Rechtsprechung u.a. das Fehlen von ausreichenden und widerspruchsfreien Feststellungen zur Tat- und Schuldfrage anerkannt (vgl. u.a. BDH, Beschluss vom 24. Februar 1966 - BDH 3 D 53/65 - BDHE 7, 37; BVerwG, Beschluss vom 11. Mai 1978 - BVerwG 2 WD 36.78 - BVerwGE 63, 72 [BVerwG 11.05.1978 - 2 WD 36.78] <74> = NZWehrr 1979, 32 und Urteil vom 7. November 2007 - BVerwG 2 WD 1.07 - BVerwGE 130, 12 Rn. 27 = Buchholz 450.2 § 120 WDO 2002 Nr. 2; Dau, a.a.O. § 120 Rn. 7).

14

Im gerichtlichen Disziplinarverfahren muss der Tatrichter den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen erforschen (§ 106 Abs. 1 WDO) und nach Maßgabe der prozessrechtlichen Vorschriften feststellen sowie diesen und die daraus gezogenen rechtlichen Schlussfolgerungen in den Urteilsgründen darlegen und die erhobenen Beweise würdigen. Die Beweiswürdigung muss auf eine verstandesmäßig einsichtige Tatsachengrundlage gestützt und erschöpfend sein. § 261 StPO i.V.m. § 91 Abs. 1 WDO verpflichtet, alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zu würdigen und dem Urteil zugrunde zu legen, sofern nicht im Einzelfall ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht. Der Tatrichter ist gehalten, sich mit den von ihm festgestellten Tatsachen unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten auseinanderzusetzen, wenn sie geeignet sind, das Beweisergebnis zugunsten oder zuungunsten des Angeschuldigten zu beeinflussen.

15

Erfüllt ein Urteil diese Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung und an die Beweiswürdigung nicht, liegt ein Aufklärungsmangel und zugleich ein schwerwiegender Mangel des Verfahrens vor (vgl. zuletzt Beschluss vom 4. Juni 2009 - BVerwG 2 WD 7.09 - Buchholz 450.2 § 120 WDO Nr. 3 m.w.N.).

16

2. Das Gericht verletzt seine Amtsermittlungspflicht namentlich dann, wenn es "im Zweifel für den beschuldigten Soldaten" entschieden hat, ohne zuvor alle ihm zur Verfügung stehenden entscheidungserheblichen Beweismittel ausgeschöpft zu haben (vgl. Beschluss vom 8. Dezember 2009 - BVerwG 2 WD 36.09 - Buchholz 450.2 § 106 WDO 2002 Nr. 1). So liegt der Fall auch hier:

Die Truppendienstkammer hält das Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB für hoch wahrscheinlich. Sie begründet diese Annahme im Wesentlichen mit eigenen Angaben des früheren Soldaten in Vernehmungen durch seinen ehemaligen Disziplinarvorgesetzten Hauptmann L. Die Entscheidungsgründe referieren die vom früheren Soldaten im Rahmen der Vernehmungen durch Hauptmann L. in den Raum gestellte Diagnose einer "Borderline-Krankheit" und beschreiben autoaggressive Verhaltensweisen des früheren Soldaten und seine wiederholten Falschangaben zu den Hintergründen der selbst beigebrachten Verletzungen. Dem sollen weitere Vorwürfe von Dienstpflichtverletzungen "korrelieren".

17

Hiernach liegt der Entscheidung keine durch einen Mediziner oder Psychologen gesicherte Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zugrunde. Es ist nicht ersichtlich, dass die Kammer oder Hauptmann L. über die Sachkunde verfügen, die eine solche Diagnose ermöglichen würde. Anders als Hauptmann L. hatte die Kammer noch nicht einmal einen persönlichen Eindruck von dem früheren Soldaten, der zur in seiner Abwesenheit gemäß § 104 Abs. 1 Nr. 3 WDO durchgeführten Hauptverhandlung nicht erschienen und dessen persönliches Erscheinen auch nicht angeordnet worden war. Hinzu kommt, dass das Krankheitsbild einer Borderline-Persönlichkeitsstörung für sich genommen über die Schuldfähigkeit keine Aussage zulässt (BGH, Urteil vom 12. Juni 2008 - 3 StR 154/08 - NStZ-RR 2008, 338 f. m.w.N.). Selbst wenn ein Fachkundiger diese Diagnose stellt, ist mithin dadurch allein nicht der Schluss auf die Schuldunfähigkeit zwingend. Das Gericht, das nicht über eigene Sachkunde verfügt, ist in aller Regel für die Diagnose einer psychischen Störung, ihren Schweregrad und ihre innere Beziehung zur Tat auf die Unterstützung eines Sachverständigen angewiesen (BGH a.a.O.). Hier hat die Truppendienstkammer aber weder einen Sachverständigen hinzu gezogen, noch den früheren Soldaten um die Entbindung behandelnder Ärzte bzw. Psychologen von der Schweigepflicht gebeten und diese angehört. Es hat ebensowenig die Unterlagen, die Grundlage der Entscheidung waren, den früheren Soldaten wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand zu versetzen, beigezogen und damit die naheliegende Aufklärungsmöglichkeiten zu der Frage, ob eine schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB vorliegt, nicht genutzt. Nicht aufgeklärt ist nicht nur, ob überhaupt eine psychische Erkrankung zu den in Rede stehenden Tatzeitpunkten vorlag, sondern auch welchen Ausprägungsgrad die Störung hatte und ob sie auf die Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit des früheren Soldaten Einfluss gehabt hat.

18

3. Diese schwerwiegenden Mängel der Sachaufklärung führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache.

19

Allerdings steht die Entscheidung darüber, ob der Senat bei Vorliegen eines Aufklärungsmangels oder eines schweren Verfahrensmangels ungeachtet dessen in der Sache selbst entscheidet oder die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung zurückverweist, nach § 120 Abs. 1 Nr. 2 WDO in seinem Ermessen. Bei der pflichtgemäßen Ausübung dieses Ermessens kommt dem Normzweck regelmäßig eine entscheidende Bedeutung zu. Wurde eine Sachverhaltsaufklärung erstinstanzlich gar nicht erst begonnen (vgl. dazu Beschlüsse vom 28. April 1993 - BVerwG 2 WD 68.91 - und vom 16. September 1996 -BVerwG 2 WD 30.96 - BVerwGE 103, 386 = Buchholz 235.0 § 115 WDO Nr. 1 = NZWehrr 1997, 115) oder war sie weitgehend unzulänglich (vgl. dazu u.a. Beschlüsse vom 14. September 1988 - BVerwG 2 WD 17.88 -, vom 15. April 1992 - BVerwG 2 WD 13.92 - und vom 25. März 1997 - BVerwG 2 WD 4.97 -), ist in aller Regel trotz des Beschleunigungsgebotes eine Zurückverweisung durch das Berufungsgericht geboten (vgl. dazu auch Beschlüsse vom 30. Oktober 2007 - BVerwG 2 WD 22.06 - Buchholz 450.2 § 120 WDO 2002 Nr. 1 = NZWehrr 2008, 124 - und vom 13. Januar 2009 - BVerwG 2 WD 5.08 - Buchholz 450.2 § 91 WDO 2002 Nr. 4 = NVwZ-RR 2009, 522 Rn. 14).

20

Es ist nach den Regelungen der Wehrdisziplinarordnung nicht Aufgabe des Rechtsmittelgerichts, anstelle der dazu berufenen Truppendienstkammer notwendige gerichtliche Feststellungen zum entscheidungserheblichen Sachverhalt erstmals zu treffen. Sowohl der Soldat wie auch die Wehrdisziplinaranwaltschaft haben zudem Anspruch darauf, dass bereits im ersten Rechtszug nach Maßgabe der prozessrechtlichen Vorschriften alle erforderlichen Maßnahmen zur hinreichenden Aufklärung der Sach- und Rechtslage ordnungsgemäß getroffen und die erhobenen Beweise nachvollziehbar gewürdigt werden und dass das Ergebnis der Beweiswürdigung in den Urteilsgründen niedergelegt wird. Denn nur bei einer auf dieser Grundlage ergehenden Entscheidung der Truppendienstkammer werden sie in die Lage versetzt, verantwortlich darüber zu befinden, ob Berufung eingelegt werden soll oder nicht.

21

Hier war die Sachverhaltsaufklärung unzulänglich. Die Truppendienstkammer hat weder die Tatsachen vollständig ermittelt, die Grundlage einer sachverständigen Bewertung medizinischer bzw. psychologischer Fachfragen sein können, noch einen geeigneten Sachverständigen hinzugezogen, mithin keine Grundlagen für eine Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 20 StGB geschaffen.

22

Hinzu kommt noch, dass weitere Aufklärung notwendig wird, wenn als Ergebnis der Auswertung der sachverständigen Stellungnahme die Einsichts-/bzw. Steuerungsfähigkeit des früheren Soldaten nicht vollständig ausgeschlossen, sondern nur im Sinne des § 21 StGB vermindert gewesen sein sollte. Bindende Feststellungen aus rechtskräftigen Strafurteilen im Sinne von § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO gibt es zu keinem Anschuldigungspunkt, da auch zu den Punkten 1 und 4 eine Ahndung nur durch Strafbefehle erfolgte. Bereits die Anschuldigungsschrift verweist auf unterschiedliche Einlassungen des früheren Soldaten im Laufe der Ermittlungen. Dieser ist zur Hauptverhandlung nicht erschienen. Ob er - insbesondere auch hinsichtlich des Vorwurfes, vorsätzlich gehandelt zu haben - geständig ist, ist vor diesem Hintergrund unklar. Zum Gegenstand der Hauptverhandlung wurden durch Verlesung unterschiedliche Niederschriften diverser Vernehmungen des früheren Soldaten gemacht, aus denen sich auch insofern ein einheitliches Bild nicht ergibt. Soweit der frühere Soldat die Vorwürfe bestreitet und ihm seine Einlassungen für einen Tatnachweis zu widerlegen sind, sind die Vorwürfe der Anschuldigungsschrift auch durch die Vernehmung von Tatzeugen, deren Ladung die Anschuldigungsschrift zwar nicht angeregt hat, deren Vorhandensein sich aber aus den Strafakten und der Ermittlungsakte des Disziplinarverfahrens ergibt, aufzuklären. Die Truppendienstkammer hat in der Hauptverhandlung zwar den Disziplinarvorgesetzten Hauptmann L. als Leumundszeugen vernommen, aber keine Tatzeugen.

23

Der Verweis des Bundeswehrdisziplinaranwaltes auf ein Verfahren, in dem der Senat selbst ein Sachverständigengutachten zur Schuldfähigkeit eingeholt hatte, führt zu keiner anderen Ermessensausübung: In dem in Bezug genommenen Verfahren BVerwG 2 WD 5.09 lag zum einen eine auf das Disziplinarmaß beschränkte Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft vor, bei der der Senat die nicht angegriffenen Feststellungen des Truppendienstgerichts zur Tat- und Schuldfrage zugrunde legen musste. Zum andern hatte das Truppendienstgericht bereits die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils nach § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO zugrunde gelegt. Der Senat hatte nur noch ein auf die Klärung der Voraussetzungen des § 21 StGB beschränktes Sachverständigengutachten eingeholt und im Rahmen seiner Bemessungsentscheidung berücksichtigt, ohne den Sachverhalt im Übrigen aufzuklären. Dieser Fallkonstellation ist die vorliegende nicht vergleichbar, bei der - sollten die notwendigen Aufklärungen zu den Voraussetzungen des § 20 StGB nicht zur Annahme einer Schuldunfähigkeit führen - die Vorwürfe in tatsächlicher Hinsicht noch durch Beweiserhebungen zu klären sind. Auch im Lichte des Beschleunigungsgrundsatzes ist es nicht geboten, dem früheren Soldaten die erste Instanz in dem Umfang vollständig zu nehmen, in dem hier Sachaufklärung noch erfolgen muss. Der frühere Soldat, dessen Interessen das Beschleunigungsgebot in erster Linie dient, hat nicht vorgetragen der Senat möge von einer Zurückverweisung Abstand nehmen.

24

Für eine Zurückverweisung an ein anderes Truppendienstgericht sieht der Senat keine Veranlassung.

25

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und die Erstattung der dem Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen bleibt der endgültigen Entscheidung in dieser Sache vorbehalten (§ 141 Abs. 1 und 2 WDO).

Golze

Dr. Burmeister

Dr. Eppelt

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