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Bundesverfassungsgericht
Beschl. v. 10.08.2017, Az.: 1 BvR 1454/16
Verfassungsmäßigkeit des Tarifeinheitsgesetzes; Konkrete Maßgaben für die Auslegung und Handhabung der einfachgesetzlichen Regelungen
Gericht: BVerfG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 10.08.2017
Referenz: JurionRS 2017, 23603
Aktenzeichen: 1 BvR 1454/16
ECLI: ECLI:DE:BVerfG:2017:rk20170810.1bvr145416

BVerfG, 10.08.2017 - 1 BvR 1454/16

Redaktioneller Leitsatz:

Eine Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, wenn für eine auf denselben Gegenstand zielende verfassungsgerichtliche Entscheidung über die im Wesentlichen inhaltsgleichen Grundrechtsrügen kein Bedürfnis mehr besteht. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die beschwerdeführenden Gewerkschaften keine verfassungsrechtlichen Fragen aufgeworfen, die in ihrem materiellen Gehalt über die im Urteil geprüften Einwände gegen das Tarifeinheitsgesetz hinausgehen.

In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der G... e.V.,
vertreten durch den Vorstand, dieser vertreten durch den Bundesvorsitzenden,
- Bevollmächtigter: Prof. Dr. Volker Rieble,
Karl-Stieler-Straße 6, 82131 Stockdorf -
gegen das Gesetz zur Tarifeinheit (TEG) vom 3. Juli 2015 (BGBl I S. 1130)
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Eichberger
und die Richterinnen Baer,
Britz
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 10. August 2017 einstimmig beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

  2. 2.

    Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin ein Drittel ihrer notwendigen Auslagen aus dem Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

  3. 3.

    Der Gegenstandswert der Verfassungsbeschwerde wird auf 500.000 € (in Worten: fünfhunderttausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Beschwerdeführerin ist eine Gewerkschaft, die sich wie andere Gewerkschaften auch gegen das Gesetz zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 (Tarifeinheitsgesetz, BGBl I S. 1130) wendet.

2

1. Die Beschwerdeführerin ist im Jahr 2003 aus dem Zusammenschluss des Verbandes Deutscher Flugleiter und des Verbandes deutscher Flugsicherungstechniker und -ingenieure hervorgegangen. Diese handelten zunächst in einer Tarifgemeinschaft mit der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), sahen aber, nachdem die DAG in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) aufgegangen war, ihre berufsspezifischen Interessen dort nicht mehr wirksam vertreten und entschlossen sich zur tarifpolitischen Selbstständigkeit. Die Beschwerdeführerin setzt sich nach § 2 Abs. 3 ihrer Satzung insbesondere für den Abschluss und die Durchsetzung von Tarifverträgen und anderer Vereinbarungen, die Verteidigung des Streikrechts, den Ausbau der Streikfähigkeit und den Kampf gegen Aussperrungen ein. Ihre Tariffähigkeit war mehrfach Gegenstand arbeitsgerichtlicher Feststellungsverfahren. Im Jahr 2004 schloss die Beschwerdeführerin mit der Deutschen Flugsicherung einen ersten Tarifvertrag. Sie hat bereits mehrfach Streikmaßnahmen durchgeführt.

3

In Unternehmen der Überwachung und Lenkung von Luftfahrzeugen in der Luft und am Boden vertritt die Beschwerdeführerin nach § 4 Abs. 2 Satz 1 der Satzung die Interessen aller Beschäftigten. Zudem vertritt sie nach § 4 Abs. 2 Satz 2 der Satzung - insoweit als Berufsgruppengewerkschaft - die mit Flugsicherungsleistungen betrauten Beschäftigten, also Lotsen, Flugsicherungstechniker und Flugsicherungskräfte, in branchenfremden Unternehmen.

4

2. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen das Tarifeinheitsgesetz. Sie rügt eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 9 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 1 GG. Hierzu hat sie schriftsätzlich umfangreich vorgetragen. Sie teilt im Wesentlichen die verfassungsrechtlichen Bedenken, die auch in den mit Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 u.a. -, www.bverfg.de, entschiedenen Verfassungsbeschwerden vorgebracht worden sind.

5

a) Die Beschwerdeführerin macht insbesondere geltend, das Tarifeinheitsgesetz verletze die Koalitionsautonomie und die negative Freiheit, sich gegen ein Koalitionsbündnis zu entscheiden. Das Tarifeinheitsgesetz erzeuge einen faktischen Zwang zur Kooperation oder zur Erweiterung des Organisationsbereichs. Es entziehe den Tarifnormen, die Minderheitsgewerkschaften erreicht hätten, den von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Durchsetzungserfolg. Das gelte insbesondere für Sonderarbeitsbedingungen, die von der verdrängten Gewerkschaft ausgehandelt worden seien, denn auf sie beziehe sich das Nachzeichnungsrecht nicht. Das Gesetz erschwere oder verhindere damit künftige Tarifabschlüsse.

6

Die Koalitionsfreiheit gebe den Koalitionen einen Anspruch auf Gleichbehandlung. Der Staat müsse sich in der Auseinandersetzung von Gewerkschaft und Arbeitgeber neutral verhalten. Hiergegen verstoße das Tarifeinheitsgesetz. Es benachteilige Gewerkschaften mit beschränkter Tarifzuständigkeit gegenüber Branchengewerkschaften strukturell, denn diese hätten eine größere Chance auf die nun entscheidende Mehrheit im Betrieb. Es entstehe auch eine strukturelle Ungleichheit gegenüber dem Arbeitgeber, der beeinflussen könne, ob und wie es zu einer Tarifkollision komme.

7

b) Unabhängig davon, ob das Tarifeinheitsgesetz als Ausgestaltung oder Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG einzuordnen sei, müsse es den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügen. Daran fehle es.

8

aa) Der Staat dürfe nicht den Zweck verfolgen, Beschäftigte in Schlüsselpositionen zu bewegen, solidarisch mit anderen Beschäftigten zu agieren. Das fördere unter Verletzung seiner Neutralitätspflicht eine bestimmte Organisationsform. Änderungen der Rahmenbedingungen seien nur zu rechtfertigen, wenn es hinreichend konkrete Unzuträglichkeiten der Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems gebe; hier fehle ein subsumtionsfähiger Störungstatbestand. Es sei kein legitimes Ziel, den tarifpolitischen Gewerkschaftswettbewerb zu unterbinden. Auch eine widerspruchsfreie Ordnung der Arbeitsbeziehungen im Betrieb könne nicht gesetzlich erzwungen werden, sondern werde von den Sozial- und Betriebspartnern autonom hergestellt. Eine Verdrängung von Tarifverträgen ließe sich allenfalls rechtfertigen, wenn deren Geltung den Mehrheitstarifvertrag konkret feststellbar störe. Hierfür gebe es keine Belege.

9

bb) Das Tarifeinheitsgesetz sei nicht geeignet, die Funktionen des Tarifvertrages im Betrieb zu sichern. Es bedürfe einer stabilen Tarifanwendung; die Kollisionsregel bewirke aber das Gegenteil, weil jede Änderung oder jedes Ende des Mehrheitstarifvertrags seinen Vorrang beende und erneut die Mehrheit festgestellt werden müsse. Eine Verteilungsgerechtigkeit könne nicht erreicht werden, weil das Tarifeinheitsgesetz die einheitliche Geltung geschlossener Tarifwerke zerstöre. Das Gesetz fordere vom Mehrheitstarifvertrag nichts, weshalb dort Funktionseliten ungehindert Sondervorteile durchsetzen könnten. Es sei auch nicht gesichert, dass mit dem Mehrheitstarifvertrag ein Tarifvertrag zur Anwendung komme, der die gesamte Belegschaft eines Betriebs erfasse. Tarifeinheit werde nicht erreicht, denn auch unter Geltung des Tarifeinheitsgesetzes könnten Tarifnormen eines verdrängten Tarifvertrags zur Anwendung kommen, der arbeitsvertraglich in Bezug genommen werde. Entgeltdiskrepanzen könnten auch unter Geltung des Tarifvertrags einer Mehrheitsgewerkschaft auftreten.

10

Das Tarifeinheitsgesetz knüpfe mit dem Betrieb an die falsche und an eine manipulierbare Einheit an. Auch Mitgliederzahlen seien beispielsweise durch Begrüßungsgeld oder beitragsfreie Mitgliedschaften manipulierbar. Die notarielle Feststellung der Mehrheit der organisierten Beschäftigten im Betrieb nach § 58 Abs. 3 ArbGG scheitere, weil sie die notwendige Würdigung der Befundtatsache durch das Gericht selbst nicht ersetze.

11

Das Gesetz sei nicht geeignet, Belastungen durch Arbeitskämpfe zu mindern. Eine Regelung zum Arbeitskampf sei dann das mildere Mittel.

12

cc) Das Tarifeinheitsgesetz sei aufgrund der Inkongruenz von Tarifkollision und Tarifverdrängung, des strukturellen Ungleichgewichts zwischen Branchen- und Berufsgruppengewerkschaft und dem ungleich verteilten Verlustrisiko im Kollisionsfall sowie aufgrund der hohen Hürden, die sich daraus für neue Arbeitnehmervereinigungen ergäben, unzumutbar. Berufsgruppengewerkschaften, deren Tarifvertrag einmal verdrängt worden sei, hätten kaum Chancen, Mitglieder zu gewinnen und in einem Betrieb die Mehrheitsposition einzunehmen. Minderheitsgewerkschaften bleibe nur die Nachzeichnung, die eine Zwangssolidarisierung darstelle. Das Nachzeichnungsrecht kompensiere den Tarifverlust nicht.

13

3. Zu der Verfassungsbeschwerde gegen das Tarifeinheitsgesetz haben - im Rahmen einer gemeinsamen Zustellung mit den mit Urteil vom 11. Juli 2017 auf die mündliche Verhandlung vom 24. und 25. Januar 2017 entschiedenen Verfahren 1 BvR 1571/15 u.a., www.bverfg.de, Stellung genommen die Bundesregierung, die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, der Bund der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit (BRA), die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und die Bundesnotarkammer, von Arbeitnehmerseite der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und der Verband angestellter Akademiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie (VAA), aus Sicht der Arbeitgeberseite die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) gemeinsam mit dem Arbeitgeberverband Luftverkehr (AGVL), die Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände (VKA), der Bundesverband Deutscher Privatkliniken (BDPK), der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister (Agv MoVe) für die Deutsche Bahn AG und der Arbeitgeberverband Deutscher Eisenbahnen (AGVDE), und aus Sicht der Forschung das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI).

II.

14

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Sie ist unzulässig.

15

1. Soweit die Kollisionsnorm des § 4a Abs. 2 TVG und die darauf bezogenen Regelungen in § 4a Abs. 3 bis 5 TVG und die begleitenden Regelungen zum Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6, § 99 ArbGG als Annex zur Kollisionsnorm Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde sind, besteht kein Rechtsschutzbedürfnis mehr. Daran fehlt es hier, weil das Bundesverfassungsgericht die mit der Verfassungsbeschwerde angestrebte verfassungsrechtliche Überprüfung des Tarifeinheitsgesetzes mittlerweile im Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 u.a. -, www.bverfg.de, vorgenommen hat. Der Senat hat die Unvereinbarkeit von § 4a des Tarifvertragsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 (BGBl I S. 1130) mit Art. 9 Abs. 3 GG insoweit festgestellt, als es an Vorkehrungen fehlt, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Abs. 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht die angegriffenen Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes mit konkreten Maßgaben für die Auslegung und Handhabung der einfachgesetzlichen Regelungen als verfassungsgemäß erachtet. Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).

16

Für eine auf denselben Gegenstand zielende verfassungsgerichtliche Entscheidung über die im Wesentlichen inhaltsgleichen Grundrechtsrügen besteht daher kein Bedürfnis mehr. Die Beschwerdeführerin hat insoweit keine verfassungsrechtlichen Fragen aufgeworfen, die in ihrem materiellen Gehalt über die im Urteil geprüften Einwände gegen das Gesetz hinausgehen.

17

2. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde auch, soweit sie sich ausdrücklich gegen die beweisrechtliche Regelung des § 58 Abs. 3 ArbGG wendet. Es fehlt insoweit an der Beschwerdebefugnis, denn die Regelung bedeutet für sich genommen keine Beeinträchtigung von Grundrechten. Sie bietet lediglich eine Möglichkeit, den Nachweis über die betrieblichen Mehrheitsverhältnisse zu führen, und schließt andere Wege der Beweisführung und die Entscheidung nach Maßgabe der Darlegungs- und Beweislasten nicht aus.

III.

18

Mit Blick auf die erhebliche subjektive und objektive Bedeutung der Verfassungsbeschwerde (BVerfGE 79, 365 [BVerfG 28.02.1989 - 1 BvR 1291/85] <366 ff.>) wird unter Berücksichtigung der in § 14 Abs. 1 RVG genannten Umstände nach billigem Ermessen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 RVG) ein Gegenstandswert von 500.000 € festgesetzt (ebenso BVerfG, Urteil vom 11. Juli 2017 - 1 BvR 1571/15 u.a. -, www.bverfg.de, Rn. 219).

19

Die Auslagenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG. Die teilweise Erstattung der Auslagen an die Beschwerdeführerin entspricht der Billigkeit, da die maßgeblichen Rechtsfragen im Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht geklärt waren und diese, wie aus dem Urteil vom 11. Juli 2017 ersichtlich, teilweise Aussicht auf Erfolg hatte.

20

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

21

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Eichberger

Baer

Britz

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