Urt. v. 11.07.2017, Az.: 1 BvR 1571/15
Fundstellen:
BVerfGE 146, 71 - 163
AA 2017, 127
ArbRB 2017, 229 (Pressemitteilung)
ArbRB 2017, 269
AuA 2017, 461
AuA 2017, 511
AuUR 2017, 366-367
BayVBl 2018, 18-22
BB 2017, 1789-1791
DÖV 2017, 733
DStR 2017, 13-14 (Pressemitteilung)
DStR 2017, 1832
DVBl 2017, 3 (Pressemitteilung)
DVBl 2017, 1093-1100
EWiR 2017, 475
EzA-SD 15/2017, 12-16 (Pressemitteilung)
GmbH-Stpr. 2017, 10-11
GreifRecht 2017, 3-4
GV/RP 2017, 548-552
GWR 2017, 305
JA 2017, 867-868
Jura 39, 1240 - 1240
JuS 2017, 10 (Pressemitteilung)
JZ 2017, 585-586
KommJur 2017, 4-5 (Pressemitteilung)
LL 2017, 833
NJW 2017, 2523-2534
NJW-Spezial 2017, 500
NVwZ 2017, 6 (Pressemitteilung)
NZA 2017, 6-9
NZA 2017, 915-931
NZG 2017, 5
NZG 2017, 1038
PERSONALmagazin 2017, 69
StuB 2017, 608
ZAP EN-Nr. 484/2017
ZIP 2017, 53
ZIP 2017, 1390-1391
ZMV 2017, 215-216
ZTR 2017, 467-470
Hinweis:
Verbundenes Verfahren
Volltext siehe unter:
BVerfG - 11.07.2017 - AZ: 1 BvR 1477/16
Weitere Verbundverfahren:
BVerfG - 11.07.2017 - AZ: 1 BvR 1588/15
BVerfG - 11.07.2017 - AZ: 1 BvR 2883/15
BVerfG - 11.07.2017 - AZ: 1 BvR 1043/16
BVerfG, 11.07.2017 - 1 BvR 1571/15
Amtlicher Leitsatz:
- 1.
Das Freiheitsrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, insbesondere den Abschluss von Tarifverträgen, deren Bestand und Anwendung sowie Arbeitskampfmaßnahmen. Das Grundrecht vermittelt jedoch kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen.
- 2.
Art. 9 Abs. 3 GG schützt die Koalitionen in ihrem Bestand, ohne dass damit eine Bestandsgarantie für einzelne Koalitionen verbunden wäre. Staatliche Maßnahmen, die darauf zielen, bestimmte Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen herauszudrängen oder bestimmten Gewerkschaftstypen die Existenzgrundlage zu entziehen, sind mit Art. 9 Abs. 3 GG ebenso unvereinbar wie die Vorgabe eines bestimmten Profils.
- 3.
Gesetzliche Regelungen, die in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG fallen, und die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie herstellen und sichern sollen, verfolgen einen legitimen Zweck. Dazu kann der Gesetzgeber nicht nur zwischen den sich gegenüberstehenden Tarifvertragsparteien Parität herstellen, sondern auch Regelungen zum Verhältnis der Tarifvertragsparteien auf derselben Seite treffen, um strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen auch insofern einen fairen Ausgleich ermöglichen und in Tarifverträgen mit der ihnen innewohnenden Richtigkeitsvermutung angemessene Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen hervorbringen können.
- 4.
Bei der Regelung der Strukturbedingungen der Tarifautonomie verfügt der Gesetzgeber über eine Einschätzungsprärogative und einen weiten Handlungsspielraum. Schwierigkeiten, die sich nur daraus ergeben, dass auf einer Seite mehrere Tarifvertragsparteien auftreten, rechtfertigen eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit grundsätzlich nicht.
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
1. des Marburger Bundes, Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte Deutschlands e.V., Bundesverband, vertreten durch den Vorstand, dieser vertreten durch den Ersten Vorsitzenden Rudolf Henke und den Zweiten Vorsitzenden Dr. Andreas Botzlar, Reinhardtstraße 36, 10117 Berlin,
- Bevollmächtigter: Prof. Dr. Frank Schorkopf, Ehrengard-Schramm-Weg 5, 37085 Göttingen -
gegen Art. 1 Nr. 1 und Art. 2 Nr. 2 und 3 des Gesetzes zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 (BGBl I S. 1130)
- 1 BvR 1571/15 -,
2. der Vereinigung Cockpit e.V., vertreten durch den Vorstand, dieser vertreten durch den Präsidenten Ilja Schulz, Unterschweinstiege 10, 60549 Frankfurt,
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Baum, Reiter & Collegen, Benrather Schlossallee 101, 40597 Düsseldorf -
gegen § 4a Abs. 1 und Abs. 2 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) in der Fassung vom 3. Juli 2015 (BGBl I S. 1130)
1 BvR 1588/15 -,
3. a) des dbb beamtenbund und tarifunion (dbb), vertreten durch die Bundesleitung,
diese vertreten durch den Bundesvorsitzenden Klaus Dauderstädt und den Fachvorstand Tarifpolitik, den Zweiten Vorsitzenden Willi Russ, Friedrichstraße 169/170, 10117 Berlin,
b) der Nahverkehrsgewerkschaft (NahVG), vertreten durch ihren Bundesvorsitzenden Axel Schad, Longericher Straße 205, 50739 Köln,
c) des Herrn R...,
- Bevollmächtigter: Prof. Dr. Wolfgang Däubler,
Geierweg 20, 72144 Dußlingen -
gegen das Tarifeinheitsgesetz vom 3. Juli 2015 (BGBl I S. 1130)
- 1 BvR 2883/15 -,
4. der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, vertreten durch den Bundesvorstand,
dieser vertreten durch den Bundesvorsitzenden Frank Bsirske sowie die stellvertretende Bundesvorsitzende Andrea Kocsis, Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin,
- Bevollmächtigte: 1. Apl. Prof. Dr. Jens M. Schubert,
Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin
2. Rechtsanwalt Prof. Dr. Henner Wolter, Witzlebenstraße 31, 14057 Berlin -
gegen Artikel 1 Nummer 1 des Gesetzes zur Tarifeinheit (§ 4a TVG) vom 3. Juli 2015 (BGBl I S.1130)
- 1 BvR 1043/16 -,
5. der Unabhängigen Flugbegleiter Organisation e.V. (UFO), vertreten durch den Vorstand, dieser vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Alexander Behrens und das Vorstandsmitglied Christoph Drescher, Farmstraße 118, 64546 Mörfelden-Walldorf,
- Bevollmächtigter: Prof. Dr. Matthias Jacobs, c/o Bucerius Law School, Jungiusstraße 6, 20355 Hamburg -
gegen Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Tarifeinheit (TEG) vom 3. Juli 2015 (BGBl I S. 1130), insbesondere gegen § 4a Abs. 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes (TVG)
- 1 BvR 1477/16 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat -unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Kirchhof,
Eichberger,
Schluckebier,
Masing,
Paulus,
Baer,
Britz,
Ott aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24. und 25. Januar 2017 durch Urteil
für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
§ 4a des Tarifvertragsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Tarifeinheit vom 3. Juli 2015 (Bundesgesetzblatt I Seite 1130) ist insoweit mit Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes nicht vereinbar, als es an Vorkehrungen fehlt, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden.
- 2.
Im Übrigen ist das Gesetz zur Tarifeinheit nach Maßgabe der Gründe mit dem Grundgesetz vereinbar. Insoweit werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.
- 3.
Bis zu einer Neuregelung gilt § 4a Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes mit der Maßgabe fort, dass ein Tarifvertrag von einem kollidierenden Tarifvertrag nur verdrängt werden kann, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.
- 4.
Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführenden ein Drittel ihrer notwendigen Auslagen aus den Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
- 5.
Der Gegenstandswert der Verfassungsbeschwerden wird auf jeweils 500.000 € (in Worten: fünfhunderttausend Euro) festgesetzt.
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