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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 20.02.2024, Az.: XIII ZB 29/22
„Beschleunigungsgebot“
Anordnung der Verlängerung einer bereits bestehenden Sicherungshaft eines Betroffenen auf Antrag der Ausländerbehörde; Beschleunigungsgebot in Freiheitsentziehungssachen
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 20.02.2024
Referenz: JurionRS 2024, 14035
Aktenzeichen: XIII ZB 29/22
Entscheidungsname: Beschleunigungsgebot
ECLI: ECLI:DE:BGH:2024:200224BXIIIZB29.22.0
 

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Bingen am Rhein - 21.01.2022 - AZ: 110 XIV 6/22 B

LG Mainz - 03.03.2022 - AZ: 8 T 31/22

BGH, 20.02.2024 - XIII ZB 29/22

Amtlicher Leitsatz:

Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Freiheitsentziehungssachen liegt nicht vor, wenn die Ausländerbehörde in der unzutreffenden Annahme, eine Abschiebung zu einem früheren Zeitpunkt durchführen zu können, obwohl diese (objektiv) von Anfang an nicht vor Ende der ursprünglichen Haftanordnung durchführbar war, zunächst eine objektiv zu kurze Haft beantragt und später deren Verlängerung erwirken muss.

Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Februar 2024 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kirchhoff, den Richter Dr. Tolkmitt, die Richterinnen Dr. Picker und Dr. Holzinger sowie den Richter Dr. Kochendörfer
beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 3. März 2022 wird auf Kosten der Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Die Betroffene, eine irakische Staatsangehörige, reiste am 13. April 2021 in das Bundesgebiet ein. Ihren Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 19. Juli 2021 wegen der Zuständigkeit Rumäniens nach der Dublin-III-Verordnung ab und ordnete ohne Gewährung einer Ausreisefrist ihre Überstellung nach Rumänien an. Das hiergegen von der Betroffenen eingelegte Rechtsmittel hatte keinen Erfolg. Eine für den 11. Januar 2022 geplante Überstellung nach Rumänien auf dem Luftweg scheiterte am Verhalten der Betroffenen. Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht mit Beschluss vom selben Tag Überstellungshaft gegen die Betroffene bis einschließlich 28. Januar 2022 an.

2

Nach Buchung eines Flugs zur Überstellung der Betroffenen unter Sicherheitsbegleitung für den 3. Februar 2022 hat die beteiligte Behörde mit einem beim Amtsgericht am 18. Januar 2022 per Telefax eingegangenen Schreiben die Verlängerung der Sicherungshaft bis zum 3. Februar 2022 beantragt. Mit Beschluss vom 21. Januar 2022 hat das Amtsgericht die Überstellungshaft antragsgemäß verlängert. Die - nach ihrer Überstellung nach Rumänien am 3. Februar 2022 - zuletzt auf Feststellung gerichtete Beschwerde der Betroffenen gegen diesen Beschluss hat das Landgericht mit Beschluss vom 3. März 2022 zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde, der die beteiligte Behörde entgegentritt, verfolgt die Betroffene ihren Feststellungsantrag weiter.

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II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

4

1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, der Haftverlängerung habe ein zulässiger Haftantrag zugrunde gelegen. Die beteiligte Behörde sei nicht verpflichtet gewesen, diesen elektronisch an das Amtsgericht zu übermitteln. Die entsprechende Formvorgabe des § 14b Abs. 1 Satz 1 FamFG finde auf Abschiebehaftanträge keine Anwendung. Auch ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz liege nicht vor. Die beteiligte Behörde habe alles Erforderliche unternommen, um die Überstellung nach Rumänien zeitnah zu gewährleisten. Sie habe dargelegt, dass die Flugbuchung bereits am 11. Januar 2022 bei der Zentralstelle für Flugabschiebungen eingeleitet worden und aufgrund der durch die Bundespolizei mitgeteilten Sperrtage eine begleitete Flugabschiebung frühestens am 3. Februar 2022 möglich gewesen sei. Ob die Betroffene bereits im Rahmen der ersten Haft hätte abgeschoben werden können, sei im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen. Das Amtsgericht habe zwar versäumt, die Betroffene über ihr Recht auf Benachrichtigung eines Angehörigen oder einer Vertrauensperson zu unterrichten, weshalb ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG bzw. § 432 FamFG festzustellen gewesen sei. Die Kosten seien nach billigem Ermessen gleichwohl vollumfänglich der Betroffenen aufzuerlegen, da sie mit ihrem Hauptbegehren, der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft, vollständig unterlegen sei.

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2. Diese Erwägungen halten rechtlicher Nachprüfung stand.

6

a) Zu Recht hat das Beschwerdegericht den der Haftverlängerung im Beschluss vom 21. Januar 2022 zugrundeliegenden Haftantrag für zulässig erachtet.

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aa) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Diese Darlegungen dürfen zwar knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom 12. November 2019 - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7). Dazu müssen die Darlegungen auf den konkreten Fall bezogen sein und dürfen sich nicht in Leerformeln erschöpfen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 13; vom 20. April 2021 - XIII ZB 36/20, juris Rn. 6 mwN).

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bb) Diesen Anforderungen wird der Antrag der beteiligten Behörde vom 18. Januar 2022 gerecht. Insbesondere wird das konkrete Datum des Fluges, für den die Betroffene über die Zentralstelle für Flugabschiebungen angemeldet wurde, nämlich der 3. Februar 2022, angegeben, sodass die Dauer der Haft aus sich heraus nachvollziehbar ist. Da es sich um einen sicherheitsbegleiteten Flug handelte und die Gesamtdauer der geplanten Haft einen Zeitraum von sechs Wochen nicht überschritt, bedurfte es keiner weiteren Erläuterung des für die Organisation der Rückführung einschließlich Flugbuchung erforderlichen Zeitaufwands (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. September 2018 - V ZB 4/17, InfAuslR 2019, 23 Rn. 11; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7).

9

cc) Soweit im Haftantrag nicht angegeben worden ist, dass die Betroffene seit etwa vier bis fünf Wochen schwanger war, führt dies nicht zur Unzulässigkeit des Haftantrags und zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung. Zudem hat die beteiligte Behörde diese Information dem Amtsgericht mit ergänzendem Schreiben vom 20. Januar 2022 mitgeteilt, was, wenn darin ein Mangel gelegen hätte, zu dessen Heilung vor der richterlichen Anhörung der Betroffenen am 21. Januar 2022 geführt hätte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 136/11, InfAuslR 2011, 471 Rn. 8; vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 16/19, InfAuslR 2020, 241 Rn. 12).

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b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist der Haftantrag auch nicht wegen eines Verstoßes gegen § 14b Abs. 1 Satz 1 FamFG formunwirksam. Wie der Senat zwischenzeitlich entschieden hat, müssen entsprechende Anträge der zuständigen Verwaltungsbehörde in Freiheitsentziehungssachen dem Gericht nicht nach dieser Vorschrift als elektronisches Dokument übermittelt werden; vielmehr reicht die Einreichung nach den allgemeinen Vorschriften gemäß § 14b Abs. 2 FamFG aus (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2023 - XIII ZB 45/22, juris Rn. 6 bis 10).

11

c) Keinen Erfolg hat ferner die Rüge der Rechtsbeschwerde, die beteiligte Behörde habe durch ihre Verfahrensgestaltung dem Beschleunigungsgebot nicht hinreichend Rechnung getragen.

12

aa) Dieses Gebot verlangt, dass die Behörde die Abschiebung oder Überstellung ohne vermeidbare Verzögerung betreibt und die Dauer der Sicherungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird. Ein Verstoß führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 10. Juni 2010 - V ZB 205/09, juris Rn. 16; vom 11. Juli 2019 - V ZB 28/18, juris Rn. 7; vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 9/19, juris Rn. 12).

13

bb) Das Beschwerdegericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, dass im Streitfall ein solcher Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot nicht festzustellen ist.

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(1) Allerdings verkennt das Beschwerdegericht bei seiner Begründung, dass der Haftrichter aufgrund der Amtsermittlungspflicht aus § 26 FamFG bei Haftverlängerungsanträgen auch zu prüfen hat, aus welchen Gründen die Verlängerung einer bereits angeordneten Haft beantragt wird. Liegt die Ursache für das Verlängerungsbedürfnis in Umständen, die aus der Sphäre der die Abschiebung oder Überstellung betreibenden Behörde stammen oder ihr zumindest zurechenbar sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. April 2011 - V ZB 111/10, NVwZ 2011, 1214 Rn. 13; vom 30. Juni 2011 - V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315 Rn. 25; vom 17. Oktober 2013 - V ZB 172/12, InfAuslR 2014, 52 Rn. 15), und führen diese zu einer Verzögerung des Verfahrens dergestalt, dass es zu einer objektiven Verlängerung der Haftdauer kommt, die ein besonnener und sorgfältiger Amtswalter bei der Organisation und Durchführung der Abschiebung hätte vermeiden können, ist die weitere Haft unverhältnismäßig und darf die Verlängerung einer bereits bestehenden Haft nicht angeordnet werden (vgl. auch OLG Zweibrücken, Beschluss vom 3. Juli 2006 - 3 W 109/06, InfAuslR 2006, 234 Rn. 10; Winkelmann/Broscheit in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl., § 62 AufenthG Rn. 22).

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(2) Eine Verzögerung in diesem Sinne liegt aber nicht schon dann vor, wenn die Ausländerbehörde in der unzutreffenden Annahme, eine Abschiebung zu einem früheren Zeitpunkt durchführen zu können, obwohl diese (objektiv) von Anfang an nicht vor Ende der ursprünglichen Haftanordnung durchführbar war, zunächst eine objektiv zu kurze Haft beantragt und später deren Verlängerung erwirken muss.

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(3) Danach ist vorliegend das Beschleunigungsgebot nicht verletzt worden. Das Beschwerdegericht hat festgestellt, dass es sich bei dem am 3. Februar 2022 gebuchten Flug um den frühestmöglichen Zeitpunkt für die begleitete Überstellung der Betroffenen gehandelt hat. Dies greift die Rechtsbeschwerde nicht ausreichend mit der Verfahrensrüge an. Sie macht geltend, aus der E-Mail der Zentralstelle für Flugabschiebungen vom 18. Januar 2022 an die beteiligte Behörde ergebe sich, dass der Bundespolizei bei der Organisation des Fluges nicht bekannt war, dass die Haft (ursprünglich) nur bis 28. Januar 2022 angeordnet worden sei. Daraus schließt sie aber zu Unrecht, die Überstellung der Betroffenen hätte bis zum 28. Januar 2022 erfolgen können, wenn die Haftzeit der Bundespolizei mitgeteilt worden wäre. Denn in der E-Mail wird weiter ausgeführt, dass "mit den vom BAMF vorgegebenen Überstellungsmodalitäten (...) eine Rückführungsplanung vor dem 03.02.2022 nicht möglich" sei. Damit war ersichtlich gemeint, dass die Bundespolizei davon ausging, die Rückführung selbst sei frühestens am 3. Februar 2022 durchführbar.

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d) Schließlich greift auch der Einwand der Rechtsbeschwerde nicht durch, das Beschwerdegericht hätte dem - im Hinblick auf die unterbliebene Benachrichtigung eines Angehörigen oder einer Vertrauensperson durch das Amtsgericht - im Tenor aufgeführten Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG bei der Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens Rechnung tragen müssen. Zwar verleiht Art.104 Abs. 4 GG dem Festgehaltenen ein subjektives Recht auf Benachrichtigung eines Angehörigen oder einer Person seines Vertrauens. Da die mit Verfassungsrang angeordnete Benachrichtigungspflicht selbständig neben die Entscheidung über die Freiheitsentziehung tritt, ist auf Antrag ein Verstoß - wie durch das Beschwerdegericht geschehen - festzustellen (vgl. nur BVerfG, Beschlüsse vom 14. Mai 2020 - 2 BvR 2345/16, InfAuslR 2020, 343 Rn. 42, 45; vom 18. Dezember 2023 - 2 BvR 656/20, juris Rn. 10 bis 12, 15 f.; BGH, Beschluss vom 21. Januar 2016 - V ZB 6/14, FGPrax 2016, 88 Rn. 11). Ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG berührt jedoch nicht den sachlichen Gehalt der angegriffenen Entscheidung des Amtsgerichts über die Haftanordnung selbst. Daher ist über die Feststellung einer Verletzung von Art. 104 Abs. 4 GG durch Unterlassen der Benachrichtigung hinaus keine weitere Rechtsfolge auszusprechen (BVerfG, InfAuslR 2020, 343 Rn. 45; Beschluss vom 18. Dezember 2023 - 2 BvR 656/20, juris Rn. 19; BGH, FGPrax 2016, 88 Rn. 12). Im vorliegenden Beschwerdeverfahren über die Haftanordnung hat das Beschwerdegericht diesen im Tenor festgestellten Verstoß somit bei der Kostenentscheidung zu Recht unberücksichtigt gelassen.

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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Kirchhoff

Tolkmitt

Picker

Holzinger

Kochendörfer

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