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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 01.08.2023, Az.: VI ZR 191/22
Vorliegen eines Gehörsverstoßes in einem Verfahren wegen Schadensersatzes aus einem Verkehrsunfall
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 01.08.2023
Referenz: JurionRS 2023, 34492
Aktenzeichen: VI ZR 191/22
ECLI: ECLI:DE:BGH:2023:010823BVIZR191.22.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

LG Chemnitz - 29.01.2021 - AZ: 2 O 1169/17

OLG Dresden - 20.05.2022 - AZ: 1 U 336/21

Fundstellen:

MDR 2023, 1333

NJW 2023, 3516 "Verdienstausfallschaden nach Verkehrsunfall"

NJW-RR 2023, 1356-1357 "Verdienstausfallschaden nach Verkehrsunfall"

NJW-Spezial 2023, 745

SVR 2024, 66-67

ZAP EN-Nr. 149/2024

ZAP 2024, 166

BGH, 01.08.2023 - VI ZR 191/22

Amtlicher Leitsatz:

Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes in einem Schadensersatzprozess.

Redaktioneller Leitsatz:

Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt vor, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet hat.

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 1. August 2023 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterin von Pentz, die Richter Dr. Klein, Dr. Allgayer und die Richterin Dr. Linder
beschlossen:

Tenor:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 20. Mai 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Chemnitz - 2. Zivilkammer - vom 29. Januar 2021 abgewiesen worden ist, soweit sie auf Zahlung von Verdienstausfallschaden nebst anteiliger vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten, jeweils zzgl. Zinsen, auf der Grundlage einer Haftungsquote der Beklagten als Gesamtschuldner von 1/3 gerichtet ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen.

Streitwert: bis 140.000 €

Gründe

I.

1

Die Parteien streiten um materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.

2

Der Kläger bog am 6. Juli 2009 mit einem bei der Drittwiderbeklagten versicherten Pkw von der S 276 auf einen Waldweg ein, der mit einem Hinweisschild "Waldweg - nur für Forstbetrieb gemäß § 11 SächsWaldG" gekennzeichnet war. Der Beklagte zu 1 kam ihm auf diesem Waldweg mit einer auf die Beklagte zu 2, die einen forstwirtschaftlichen Betrieb führt, zugelassenen und bei der Beklagten zu 3 haftpflichtversicherten Sattelzugmaschine mit Tieflader entgegen. Die Fahrzeuge stießen zusammen.

3

Das Landgericht hat der auf Zahlung von Verdienstausfallschaden in Höhe von 49.674,15 €, Heilbehandlungskosten von 1.631,97 €, Schmerzensgeld von 80.000 €, einer monatlichen Schmerzensgeldrente von 545,83 € sowie außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten von 892,44 € nebst Zinsen und Feststellung der Ersatzpflicht für weitere Schäden gerichteten Klage im vollen Umfang stattgegeben. Eine gegen den Kläger und die Drittwiderbeklagte gerichtete Wider- und Drittwiderklage der Beklagten zu 3 hat es abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten zu 1 bis 3 hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts teilweise abgeändert. Es hat die Klage abgewiesen, soweit der Kläger Verdienstausfallschaden, Heilbehandlungskosten von über 532,12 €, mehr als 25.000 € Schmerzensgeld und Rechtsanwaltskosten über den Betrag von 691,33 € hinaus geltend gemacht sowie beantragt hat festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner mehr als 1/3 der künftig noch entstehenden materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen haben. Außerdem hat es dem Feststellungsantrag der Beklagten zu 3 gegen den Kläger und die Drittwiderbeklagte auf der Grundlage einer Haftungsquote von 2/3 zulasten des Klägers und der Drittwiderbeklagten entsprochen. Die Revision hat das Berufungsgericht nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

4

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur teilweisen Aufhebung des angegriffenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

5

1. Das Berufungsgericht hat - soweit hier erheblich - zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, ein Anspruch auf Ersatz des geltend gemachten Verdienstausfallschadens bestehe nicht. Das Landgericht habe einen solchen Anspruch zu Unrecht in Höhe von 49.674,19 € zuerkannt. Die Beklagte habe bereits in der Klageerwiderung sämtliche vom Kläger behaupteten Schäden in zulässiger Weise mit Nichtwissen bestritten. Der Kläger hätte daher den von ihm behaupteten Erwerbsschaden substantiiert darlegen und unter Beweis stellen müssen. Er habe jedoch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz in keiner für die Beklagten einlassungsfähigen Weise zu dem von ihm behaupteten Erwerbsschaden vorgetragen. Der Sachvortrag in der Klageschrift erschöpfe sich darin, die Einkommensverluste für die Jahre 2009 bis 2011 ohne nähere Darlegungen zu beziffern und diese für die Folgejahre mit mindestens 12.000 € anzugeben. Ohne nähere Darlegungen zu seiner beruflichen Tätigkeit in Verbindung mit der Vorlage entsprechender Verdienstbescheinigungen sei es den Beklagten jedoch nicht möglich, den geltend gemachten Schaden nachzuvollziehen. Nach Ansicht des erstinstanzlichen Gerichts sei es hierauf nicht angekommen, da das Landgericht rechtsfehlerhaft darauf abgestellt habe, die Beklagten hätten sich gegen diese Ausführungen des Klägers nicht verwahrt. Erstmals mit den insoweit nicht nachgelassenen Schriftsätzen vom 12. Februar und 4. April 2022 habe der Kläger - unter Vorlage entsprechender Lohnbescheinigungen und Rentenbescheide - nun schlüssig zu dem von ihm behaupteten Schaden vorgetragen. Dieser Sachvortrag sei gemäß §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO verspätet. Vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten seien nur aus dem berechtigten Gegenstandswert von 26.532,12 € zuzuerkennen.

6

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht den Vortrag in den Schriftsätzen vom 12. Februar und 4. April 2022 als nach §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO präkludiert angesehen und dadurch das rechtliche Gehör des Klägers verletzt hat.

7

a) In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass Art. 103 Abs. 1 GG dann verletzt ist, wenn der Tatrichter Angriffs- oder Verteidigungsmittel einer Partei in offenkundig fehlerhafter Anwendung einer Präklusionsvorschrift zu Unrecht für ausgeschlossen erachtet hat (vgl. Senatsbeschluss vom 3. März 2015 - VI ZR 490/13, NJW-RR 2015, 1278 Rn. 7 mwN).

8

b) Nach den tatbestandlichen Feststellungen des Landgerichts war der Vortrag des Klägers zum Verdienstausfallschaden in erster Instanz unstreitig. Diese tatbestandlichen Feststellungen erbringen gemäß § 314 Satz 1 ZPO Beweis für das Vorbringen der Parteien am Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz (vgl. Senatsurteil vom 22. Dezember 2015 - VI ZR 101/14, juris Rn. 48). Das Berufungsgericht hat erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung darauf hingewiesen, dass es das Bestreiten der Beklagten in zweiter Instanz berücksichtigen werde. Es hätte den daraufhin gehaltenen Vortrag des Klägers in den Schriftsätzen vom 12. Februar und 4. April 2022 nicht gemäß §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückweisen dürfen.

9

aa) Das Landgericht hat festgestellt, dass die Ausführungen des Klägers zum Verdienstausfallschaden in erster Instanz unbestritten geblieben sind. In den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils heißt es:

"Diese Umstände hätten bis zur Klageerhebung im September 2017 einen Gesamteinkommensverlust von 99.348,30 € zur Folge gehabt. Hiervon klagt der Kläger die Hälfte der Summe, 49.674,15 €, ein. Gegen diese Darlegungen haben sich die Beklagten nicht verwahrt, sie sind der Meinung, dem Kläger stünde überhaupt kein Anspruch zu, weil er den Unfall allein verschuldet habe."

"Der Kläger hat seinen Verdienstausfall in der Klageschrift zum Klageantrag zu 1) ausführlich und unbestritten dargelegt."

10

Obwohl sich diese Passagen in den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils finden, handelt es sich um tatbestandliche Feststellungen, deren Unrichtigkeit grundsätzlich nur im Berichtigungsverfahren nach § 320 ZPO geltend gemacht werden kann (vgl. Senatsurteil vom 22. Dezember 2015 - VI ZR 101/14, juris Rn. 50; BGH, Urteil vom 13. Juli 2000 - I ZR 49/98, NJW 2001, 448, 449, juris Rn. 21 mwN). Diese Feststellungen stehen auch nicht im Widerspruch zu einer weiteren Passage im erstinstanzlichen Urteil, die lautet: "Die Beklagten berufen sich auf Verjährung und bestreiten die Unfallfolgen." Denn hier wird nur ein allgemeines Bestreiten festgestellt, das sich - wie sich aus den oben zitierten Passagen ergibt - gerade nicht auf den Vortrag des Klägers zur Höhe des Verdienstausfallschadens bezieht. Die Beweiskraft des Tatbestands wird im Streitfall auch nicht durch das Sitzungsprotokoll nach § 314 Satz 2 ZPO entkräftet (vgl. zu den Voraussetzungen Senatsurteil vom 22. Dezember 2015 - VI ZR 101/14, juris Rn. 50). Eine Berichtigung des Tatbestands nach § 320 ZPO ist nicht beantragt worden.

11

bb) Vor diesem Hintergrund war das in der Berufungsbegründung enthaltene Bestreiten der Höhe des Verdienstausfallschadens durch die Beklagten als neues Verteidigungsmittel zu behandeln, das nur unter den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen ist. Das Berufungsgericht hat, ohne auf die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO einzugehen, den Parteien erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung mitgeteilt, dass es das Bestreiten der Beklagten berücksichtige und angesichts dessen ein Beweisantritt des Klägers zum Verdienstausfall fehle. Nach der Zulassung eines neuen Verteidigungsmittels nach § 531 Abs. 2 ZPO muss das Gericht dem Gegner jedoch ermöglichen, hierzu Stellung zu nehmen (vgl. Göertz in Anders/Gehle, ZPO, 81. Aufl., § 531 Rn. 26, § 530 Rn. 16; Zöller/Heßler, ZPO, 34. Aufl., § 530 Rn. 25, 16). Dies hat das Berufungsgericht verkannt. Als Reaktion auf die Ausführungen des Berufungsgerichts hat der Kläger mit Schriftsätzen vom 12. Februar und 4. April 2022 weiter vorgetragen. Diesen Vortrag hätte das Berufungsgericht nicht als verspätet gemäß §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO zurückweisen dürfen.

12

c) Die Gehörsverletzung ist auch erheblich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht, hätte es berücksichtigt, dass die Zurückweisung des Vortrags des Klägers in den Schriftsätzen vom 12. Februar und 4. April 2022 nach §§ 525, 296 Abs. 2 ZPO verfahrensfehlerhaft war, zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

13

3. Im Übrigen war die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen, weil weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer näheren Begründung wird insoweit gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.

Seiters

von Pentz

Klein

Allgayer

Linder

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