Suche

Nutzen Sie die Schnellsuche, um nach den neuesten Urteilen in unserer Datenbank zu suchen!

Bundesgerichtshof
Beschl. v. 06.09.2022, Az.: AK 28/22
Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 06.09.2022
Referenz: JurionRS 2022, 33204
Aktenzeichen: AK 28/22
ECLI: ECLI:DE:BGH:2022:060922BAK28.22.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Nürnberg - 07.11.2021 - AZ: 57 Gs 10365/21

AG Nürnberg - AZ: 57 Gs 266/22

BGH - 02.05.2022 - AZ: 1 BGs 73/22

Verfahrensgegenstand:

Versuchter Mord u.a.

BGH, 06.09.2022 - AK 28/22

Redaktioneller Leitsatz:

Der dringende Tatverdacht des versuchten Mordes rechtfertigt in Verbindung mit dem Vorliegen eines Haftgrundes die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus.

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Angeklagten und seiner Verteidiger am 6. September 2022 gemäß §§ 121, 122 StPO beschlossen:

Tenor:

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht München übertragen.

Gründe

I.

1

Der Angeklagte ist am 6. November 2021 vorläufig festgenommen worden und hat sich zunächst vom Folgetag bis zum 19. Januar 2022 aufgrund eines Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts Nürnberg vom 7. November 2021 (57 Gs 1/21 = 57 Gs 10365/21) in einstweiliger Unterbringung befunden. Seit dem 19. Januar 2022 befindet sich der Angeklagte in Untersuchungshaft; zunächst aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Amtsgerichts Nürnberg (57 Gs 266/22) vom selben Tag und derzeit aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 2. Mai 2022 (1 BGs 73/22).

2

Gegenstand des aktuellen Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe am 6. November 2021 in drei Fällen (Taten 1, 2 und 4) versucht, aus niedrigen Beweggründen, davon in zwei Fällen (Taten 1 und 4) heimtückisch, einen Menschen zu töten, und jeweils tateinheitlich eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs und einer das Leben gefährdenden Behandlung körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt. Der Haftbefehl legt dem Angeklagten weiter zur Last, am selben Tag eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben (Tat 3). Gegenstand des Haftbefehls sind zudem die Vorwürfe, der Angeklagte habe am 20. Dezember 2021 vorsätzlich eine andere Person körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt (Tat 5) sowie am 3. Januar 2022 rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt (Tat 6).

3

Im Kern gehen die Vorwürfe dahin, der Angeklagte, der muslimischen Glaubens und Anhänger einer islamistisch-salafistischen Ausprägung des Islam sei, habe am 6. November 2021 während einer Zugfahrt in einem ICE von P. nach N. in Tötungs- beziehungsweise Verletzungsabsicht vier Passagiere mit einem Messer attackiert (Taten 1 bis 4). Mit dem Angriff gegen die willkürlich ausgewählten Opfer habe er sich an einem gewaltsamen "Jihad" gegen Nichtmuslime beteiligen wollen. Ferner habe er während seiner einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus einen Pfleger verletzt (Tat 5) und in seinem Zimmer randaliert (Tat 6).

4

Der Haftbefehl geht insofern von einer mutmaßlichen Strafbarkeit des Angeklagten gemäß §§ 211, 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, § 230 Abs. 1, § 303 Abs. 1, §§ 303c, 22, 23 Abs. 1, §§ 52, 53 StGB aus.

5

Der Senat hat mit Beschluss vom 18. Mai 2022 (AK 19/22) die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet.

6

Der Generalbundesanwalt hat mit Anklageschrift vom 21. Juni 2022 wegen der dem Haftbefehl zugrundeliegenden Tatvorwürfe Anklage zum Oberlandesgericht München erhoben.

7

Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts hat mit Beschluss vom 11. August 2022 die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.

II.

8

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus liegen vor.

9

1. Der Angeklagte ist der ihm mit dem Haftbefehl vom 2. Mai 2022 zur Last gelegten Taten weiterhin dringend verdächtig. Hinsichtlich der Einzelheiten der insofern erhobenen Tatvorwürfe und der den dringenden Tatverdacht begründenden Umstände nimmt der Senat Bezug auf seine Haftfortdauerentscheidung vom 18. Mai 2022, deren Gründe unverändert fortgelten. Die seither geführten Ermittlungen haben den dringenden Tatverdacht nicht entfallen lassen; der Senat verweist insofern auf die Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen in der Anklageschrift des Generalbundesanwalts.

10

2. In rechtlicher Hinsicht ist weiterhin davon auszugehen, dass sich der Angeklagte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen versuchten Mordes (§§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) in drei Fällen, wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB, wegen vorsätzlicher Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB und wegen Sachbeschädigung gemäß § 303 Abs. 1 StGB strafbar gemacht hat.

11

Der Senat nimmt auch insofern Bezug auf seinen Haftfortdauerbeschlussvom 18. Mai 2022.

12

3. Aus den in diesem Beschluss dargelegten und in der Anklageschrift des Generalbundesanwalts angeführten Gründen fallen die verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfe in die Verfolgungszuständigkeit des Generalbundesanwalts und des Oberlandesgerichts.

13

4. Es sind weiterhin die Haftgründe der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 11 f.; vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) - der Schwerkriminalität gegeben. Es ist nach wie vor wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte - sollte er auf freien Fuß gelangen - dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm stellen wird. Der Senat verweist insofern auf seine fortgeltenden Erwägungen zu den Haftgründen im Haftfortdauerbeschluss vom 18. Mai 2022.

14

Der Zweck der Untersuchungshaft kann unter den gegebenen Umständen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO - die bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO möglich sind - erreicht werden.

15

5. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus (§ 121 Abs. 1, § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO) sind gegeben. Der Umfang des Verfahrens und seine besonderen Schwierigkeiten haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft.

16

Insofern nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Ausführungen im Haftfortdauerbeschluss vom 18. Mai 2022.

17

Auch danach ist das Verfahren durchgängig mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden: Der Generalbundesanwalt hat unter dem 21. Juni 2022 Anklage zum Oberlandesgericht München erhoben. Dieses hat sogleich eine Übersetzung der Anklageschrift in die arabische Sprache veranlasst, die dem Angeklagten am 22. Juli 2022 zugestellt worden ist. Dem Angeklagten und seinen Verteidigern ist eine Erklärungsfrist gemäß § 201 Abs. 1 StPO bis zum 5. August 2022 gesetzt worden. Mit Beschluss vom 11. August 2022 hat der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts sodann die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren eröffnet und die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeklagten angeordnet. Zugleich hat der Vorsitzende des Strafsenats Termin zur Hauptverhandlung bestimmt und die Ladung von 88 Zeugen und 13 Sachverständigen angeordnet. Die Hauptverhandlung soll am 21. Oktober 2022 beginnen; gegenwärtig sind 24 Hauptverhandlungstage bis zum 23. Dezember 2022 vorgesehen. Vor diesem Hintergrund ist damit zu rechnen, dass das Verfahren auch weiterhin eine dem besonderen Beschleunigungsgebot in Haftsachen genügende intensive Förderung erfahren wird.

18

6. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nach wie vor nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Berg

Paul

Kreicker

Hinweis: Das Dokument wurde redaktionell aufgearbeitet und unterliegt in dieser Form einem besonderen urheberrechtlichen Schutz. Eine Nutzung über die Vertragsbedingungen der Nutzungsvereinbarung hinaus - insbesondere eine gewerbliche Weiterverarbeitung außerhalb der Grenzen der Vertragsbedingungen - ist nicht gestattet.