Suche

Nutzen Sie die Schnellsuche, um nach den neuesten Urteilen in unserer Datenbank zu suchen!

Bundesgerichtshof
Urt. v. 25.03.1997, Az.: VI ZR 63/96

Deliktsrechtlicher Anspruch auf Schadensersatz und dessen Verjährung; Verjährungsregelungen im Zivilgesetzbuch der ehemaligen DDR sowie Übergangsbestimmungen; Sich aus den spezifischen Verhältnissen der DDR ergebende Rechtsverfolgungshindernisse im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip; Vorliegen schwerwiegender Gründe sowie ein dringendes Interesse des Gläubigers und die Zumutbarkeit für den Schuldner als Voraussetzungen für eine Verjährungsdurchbrechung

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
25.03.1997
Aktenzeichen
VI ZR 63/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 22446
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
KG Berlin - 29.09.1995

Fundstellen

  • BGHZ 135, 158 - 170
  • EWiR 1997, 655-656 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
  • JuS 1997, XXXVIII Heft 7 (Kurzinformation)
  • NJ 1997, 244 (Pressemitteilung)
  • NJ 1997, 427-429 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
  • VersR 1997, 844-847 (Volltext mit amtl. LS)
  • WM 1997, 1528-1532 (Volltext mit amtl. LS)
  • ZIP 1997, 903-906 (Volltext mit amtl. LS)

Prozessführer

Lothar F., S.straße ..., B.

Prozessgegner

Hans-Joachim R., G.straße ..., W.

Amtlicher Leitsatz

  1. a)

    Für die Hemmung der Verjährung eines Schadensersatzanspruchs nach § 477 Abs. 1 Ziffer 4 ZGB der DDR ist die Unkenntnis des Gläubigers von der Art der schädigenden Handlung und der Person des Schuldners auch dann nicht von Bedeutung, wenn diese Unkenntnis durch das politische System der DDR bedingt war, weil der Gläubiger während des Bestehens der SED-Herrschaft keinen Zugang zu geheim gehaltenen staatlichen Unterlagen hatte.

  2. b)

    Unmöglichkeit der Rechtsverfolgung im Sinne des § 477 Abs. 1 Ziffer 4 ZGB lag dann nicht vor, wenn sich Gläubiger und Schuldner während des Laufs der Verjährungsfrist in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten und daher für die Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs - der in der DDR aus politischen Gründen nicht hätte durchgesetzt werden können - der Rechtsweg zu den der rechtsstaatlichen Ordnung verpflichteten Gerichten offenstand.

  3. c)

    Zu den Voraussetzungen der Gewährung von Rechtsschutz nach § 472 Abs. 2 ZGB trotz eingetretener Verjährung (im Anschluß an Senatsurteil BGHZ 126, 87).

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
auf die mündliche Verhandlung vom 25. März 1997
durch
den Vorsitzenden Richter Groß und
die Richter Bischoff, Dr. v. Gerlach, Dr. Müller und Dr. Dressler
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 9. Zivilsenats des Kammergerichts vom 29. September 1995 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Revision fallen dem Kläger zur Last.

Tatbestand

1

Der Kläger nimmt den Beklagten auf Ersatz des Schadens in Anspruch, der ihm dadurch entstanden sei, daß er in der ehemaligen DDR aus politischen Gründen strafrechtliche Verfolgung erlitten habe, die er auf eine Spitzeltätigkeit des Beklagten im Auftrag des Staatssicherheitsdienstes zurückführt.

2

Der 1932 in F. (Sachsen) geborene Kläger, der seit Juni 1951 bei dem DDR-Nachrichtendienst ADN in Ostberlin als Redakteur beschäftigt war, wurde durch Urteil des Bezirksgerichts Dresden vom 30. Januar 1953 "wegen Boykotthetze und Erfindung und Verbreitung tendenziöser Gerüchte" zu einer Zuchthausstrafe von zehn Jahren verurteilt, die er unter Anrechnung der bereits in der Zeit vom 27. Mai 1952 bis zum 30. Januar 1953 erlittenen Polizei- und Untersuchungshaft u.a. in den Zuchthäusern B. und W. bis zum 21. Dezember 1956 teilweise verbüßte. Nach seiner Entlassung aus der Strafhaft verließ er im Januar 1957 die DDR und verlegte seinen Wohnsitz in den westlichen Teil Berlins.

3

Mit Beschluß vom 15. Oktober 1992 hob das Bezirksgericht Dresden das genannte Strafurteil auf und rehabilitierte den Kläger.

4

Der Beklagte, der in den Jahren 1951 und 1952 ebenfalls bei dem Nachrichtendienst ADN beschäftigt war, war unter dem Decknamen "H.P." als "geheimer Mitarbeiter" des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR tätig. Er fertigte in dessen Auftrag Berichte über die Aktivitäten des Klägers, zu dem er freundschaftliche Beziehungen unterhielt, und gab sie an die zuständigen Stellen des Staatssicherheitsdienstes weiter. Im Jahre 1953 siedelte der Beklagte nach Westdeutschland über.

5

Der Kläger hat vorgetragen, die Berichte des Beklagten seien Grundlage seiner strafrechtlichen Verurteilung vom 30. Januar 1953 gewesen. Über diese Bespitzelung durch den Beklagten habe er erst durch das Schreiben des Bundesbeauftragten für Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR vom 6. Mai 1993 Kenntnis erlangt.

6

Mit seiner am 1. Dezember 1993 erhobenen Klage hat der Kläger vom Beklagten im Rahmen des begehrten Schadensersatzes Zahlung eines Teilbetrages von 5.001 DM auf den erlittenen Verdienstausfall und eines Schmerzensgeldteilbetrages in Höhe von 5.000 DM verlangt. Der Beklagte hat insbesondere die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens und dessen Ursächlichkeit für den eingetretenen Schaden in Abrede gestellt sowie die Einrede der Verjährung erhoben.

7

Das Landgericht hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt. Auf dessen Berufung hat das Kammergericht die Klage abgewiesen. Mit seiner (zugelassenen) Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe

8

I.

Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob dem Kläger deliktsrechtliche Schadensersatzansprüche gegen den Beklagten zustehen. Es hält solche Ansprüche für jedenfalls verjährt.

9

Die Verjährung richte sich nach § 852 BGB als der im Zeitpunkt der behaupteten unerlaubten Handlung maßgeblichen Bestimmung des anzuwendenden Rechts der DDR. Da die Voraussetzungen der in dieser Vorschrift in erster Linie vorgesehenen dreijährigen Verjährungsfrist nicht gegeben gewesen seien, sei auf die 30-jährige Verjährungsfrist abzustellen. Daran habe sich auch durch die Verjährungsregelungen des zum 1. Januar 1976 in Kraft getretenen Zivilgesetzbuchs der DDR (im folgenden: ZGB) im Hinblick auf die dazu erlassene Übergangsbestimmung des § 11 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum ZGB (im folgenden: EGZGB) nichts geändert. Die 30-jährige Verjährungsfrist habe 1952 zu laufen begonnen und sei vor Klageerhebung im Jahre 1993 bereits abgelaufen gewesen.

10

Eine Verjährungshemmung auf der Grundlage des § 477 Abs. 1 Nr. 4 ZGB sei nicht eingetreten. Angesichts dessen, daß seit 1957 beide Parteien in der Bundesrepublik Deutschland wohnhaft seien, könne keine Rede davon sein, daß die Rechtsverfolgung im Sinne dieser gesetzlichen Regelung unmöglich gewesen sei; eine Unkenntnis des Klägers über den Beklagten als Anspruchsgegner könne nicht zur Verjährungshemmung führen.

11

Der Kläger könne auch nicht im Hinblick auf § 472 Abs. 2 ZGB Rechtsschutz trotz eingetretener Verjährung begehren. An die Voraussetzungen einer derartigen Verjährungsdurchbrechung seien strenge Anforderungen zu stellen; diese seien im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Allgemeine Billigkeitserwägungen könnten nicht genügen. Weder sei hier ein Fall gegeben, in dem ein Verhalten des Schuldners maßgeblich dazu beigetragen habe, daß der Gläubiger seinen Anspruch nicht rechtzeitig geltend gemacht habe, noch wichen die Folgen der strafrechtlichen Verurteilung des Klägers, so schwerwiegend sie für ihn auch gewesen sein möchten, grundsätzlich von dem ab, was einem Betroffenen in vergleichbarer Lage, der in der früheren DDR aus politischen und den Geboten eines Rechtsstaates widersprechenden Gründen eine langjährige Zuchthausstrafe habe erleiden müssen, regelmäßig widerfahren sei. Auch der Grundsatz von Treu und Glauben stehe einer Berufung des Beklagten auf die eingetretene Verjährung nicht entgegen.

12

II.

Das Berufungsurteil hält der revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Das Berufungsgericht hat mögliche deliktische Schadensersatzansprüche des Klägers gegen den Beklagten, die sich aus dem insoweit maßgeblichen Recht der DDR (vgl. Art. 232 § 10 EGBGB) ergeben könnten, zu Recht für verjährt und nicht durchsetzbar erachtet.

13

1.

Nach Art. 231 § 6 EGBGB finden die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchsüber die Verjährung nur auf solche Ansprüche Anwendung, die am 3. Oktober 1990 noch nicht verjährt waren. Zu Recht hat daher das Berufungsgericht auf der Grundlage des maßgeblichen Rechts der DDR geprüft, ob vor diesem Zeitpunkt bereits eine Verjährung der hier geltend gemachten Ansprüche eingetreten war (vgl. Senatsurteil BGHZ 126, 87, 91; ferner BGHZ 122, 308, 310). An der Anwendung des Rechts der DDR (einschließlich seiner Änderungen in der Zeit des Laufs der Verjährungsfrist) ändert sich auch nichts im Hinblick darauf, daß sich seit 1957 beide Parteien in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, da dies weder das für die behauptete unerlaubte Handlung maßgebliche Deliktsstatut noch den hieraus resultierenden Anknüpfungspunkt für das Recht der Verjährung berührte. Die danach gebotene Auslegung und Anwendung von Vorschriften des Zivilrechts der DDR hat unter Berücksichtigung der Rechtspraxis in der ehemaligen DDR zu erfolgen; die betreffenden Rechtsvorschriften sind so anzuwenden, wie sie von den Gerichten der DDR angewendet worden wären (vgl. Senatsurteile BGHZ 123, 65, 68;  126, 87, 91;  127, 195, 199) [BGH 11.10.1994 - VI ZR 234/93].

14

2.

Im Zeitpunkt der dem Beklagten angelasteten unerlaubten Handlung galten in der DDR noch weitgehend die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs; dies gilt auch für die Vorschriften über die unerlaubte Handlung und in diesem Rahmen für die Verjährungsregelungen in § 852 BGB. Das Berufungsgericht geht auf dieser Grundlage zutreffend davon aus, daß für mögliche deliktische Ansprüche des Klägers - mangels Kenntnis von der Person des Beklagten als Ersatzpflichtigem - gemäß § 852 Abs. 1 BGB eine Verjährungsfrist von 30 Jahren galt, beginnend mit der letzten dem Beklagten vorgeworfenen Handlung im Frühjahr 1952.

15

Diese Verjährungsfrist war nicht abgelaufen, als am 1. Januar 1976 das ZGB in Kraft trat. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 EGZGB richtete sich die Verjährung nunmehr grundsätzlich nach den Regeln des ZGB; nach § 11 Abs. 1 Satz 2 EGZGB blieb jedoch eine bereits vorher begonnene Verjährungsfrist in der Regel maßgebend, wenn sie früher als die im ZGB bestimmte Frist endete. Nach § 474 Abs. 1 Ziffer 3 ZGB galt für deliktische Schadensersatzansprüche eine Verjährungsfrist von vier Jahren, die gemäß § 475 Ziffer 2 ZGB in dem Zeitpunkt zu laufen begann, in welchem der Berechtigte von der Anspruchsentstehung und von der Person des Verpflichteten Kenntnis erlangt hat; spätestens trat jedoch Verjährung mit Ablauf von zehn Jahren nach Vollendung der schädigenden Handlung ein (§ 475 Ziffer 2 Satz 2 ZGB). Da aufgrund der getroffenen Feststellungen nicht von einer entsprechenden Kenntnis des Klägers ausgegangen werden kann, käme auf der Grundlage dieser Regelungen des ZGB nur die zehnjährige Verjährungsfrist in Betracht; diese konnte, da den Verjährungsvorschriften des ZGB keine rückwirkende Kraft zukommt, erst ab dem 1. Januar 1976, dem Inkrafttreten des ZGB, zu laufen beginnen (vgl. Senatsurteil BGHZ 126, 87, 95 m.w.N.). Da diese Verjährungsfrist somit frühestens am 31. Dezember 1985 ablaufen konnte, verblieb es auf der Grundlage der Übergangsregelung des § 11 Abs. 1 EGZGB bei der ursprünglichen 30-jährigen Verjährungsfrist, die im Jahre 1982 endete.

16

3.

Entgegen der Auffassung der Revision ist das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, daß der Ablauf dieser Verjährungsfrist zu keiner Zeit gehemmt war.

17

a)

Für den Zeitraum von der Begehung der angelasteten unerlaubten Handlung an bis zum Inkrafttreten des ZGB wäre eine Hemmung nur auf der Grundlage des § 203 BGB in Betracht gekommen, dessen Voraussetzungen aber schon deswegen nicht vorgelegen haben, weil diese Bestimmung an Ereignisse in den letzten sechs Monaten der Verjährungsfrist anknüpft.

18

b)

Für die Zeit ab dem 1. Januar 1976 war, was die Verjährungshemmung angeht, gemäß § 11 Abs. 1 EGZGB auf die Regelungen des ZGB abzustellen. Die Revisionsrüge, das Berufungsgericht habe insoweit zu Unrecht eine Verjährungshemmung auf der Grundlage des § 477 Abs. 1 Ziffer 4 ZGB verneint, greift jedoch nicht durch.

19

aa)

Nach dieser Vorschrift ist die Verjährung für die Zeit gehemmt, in der eine Rechtsverfolgung nicht möglich ist. Dies ist der Fall, solange eine sachliche gerichtliche Nachprüfung des Anspruchs nicht gewährleistet ist. Insoweit sind bei der Auslegung des § 477 Abs. 1 Ziffer 4 ZGB im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip auch Rechtsverfolgungshindernisse zu berücksichtigen, die sich aus den spezifischen Verhältnissen in der DDR ergaben. Verjährungshemmung kommt daher in Betracht, wenn und solange die rechtsstaatlich gebotene gerichtliche Anspruchsdurchsetzung deswegen nicht in Frage kam, weil ein Klageweg rechtlich gar nicht zur Verfügung gestellt wurde. Gleiches kann ausnahmsweise auch dann gelten, wenn gerichtliche Hilfe in der praktischen Lebenswirklichkeit wegen konkreter politischer Zwänge vom Betroffenen nicht in Anspruch genommen werden konnte (vgl. hierzu Senatsurteil BGHZ 126, 87, 98; ferner BGHZ 127, 57, 70; BGH, Urteil vom 20. März 1996 - IV ZR 366/94 - JZ 1996, 971, 972) [BGH 20.03.1996 - IV ZR 366/94].

20

bb)

Derartige Fallgestaltungen waren vorliegend jedoch nicht gegeben. Es geht hier nicht darum, daß der Kläger zur gerichtlichen Durchsetzung seines Schadensersatzanspruchs auf die Inanspruchnahme des Gerichtssystems der DDR angewiesen gewesen wäre, auf dessen Hilfe der Kläger während des Bestehens des Herrschaftsapparats der SED in der Tat nicht hätte hoffen können. Denn der Beklagte hielt sich seit 1953, der Kläger seit 1957 in der Bundesrepublik Deutschland (einschließlich Westberlins) auf. Dann aber stand dem Kläger jederzeit der Weg zu den der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes verpflichteten Gerichten offen. Entgegen der Auffassung der Revision kommt es im Rahmen des § 477 Abs. 1 Ziffer 4 ZGB nur darauf an, daß dem Kläger ein derartiger Rechtsweg in einem ihm zugänglichen Gerichtsstand gewährleistet war, nicht hingegen darauf, daß ihm gerade die - materiellrechtlich für den geltend gemachten Schadensersatzanspruch maßgebliche - Rechtsordnung der DDR eine solche Klagemöglichkeit eröffnete.

21

cc)

Für den Kläger scheiterte die Durchsetzung seines Schadensersatzanspruchs daher nicht daran, daß er gerichtliche Hilfe nicht in rechtsstaatlich gebotener Weise in Anspruch nehmen konnte, sondern daran, daß er die tatsächlichen Voraussetzungen seines Anspruchs mangels Kenntnis vom Schadenshergang und vom Schädiger nicht in prozeßrechtlich aussichtsreicher Weise darlegen und nachweisen konnte. Für die Anwendung des § 477 Abs. 1 Ziffer 4 ZGB kann jedoch die Kenntnis oder Unkenntnis des Geschädigten vom Bestehen des Anspruchs, der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen, insbesondere von der Art der schädigenden Handlung und der Person des Anspruchsgegners nicht von Bedeutung sein. Denn inwieweit solchen subjektiven Elementen für die Verjährung Maßgeblichkeit zukommen kann, ist in den Vorschriften über den Verjährungsbeginn geregelt. So stellt § 475 Ziffer 2 Satz 1 ZGB auf eine derartige Kenntnis für den Verjährungsbeginn bei deliktischen Schadensersatzansprüchen ab. Eine Hemmung der Verjährung kann hingegen durch derartige subjektive Gegebenheiten nicht herbeigeführt werden (vgl. Senatsurteil BGHZ 126, 87, 97).

22

dd)

Die in § 477 Abs. 1 Ziffer 4 ZGB getroffene Regelung ist mit derjenigen in § 203 BGB vergleichbar (vgl. Senatsurteil BGHZ 126, 87, 97; ferner BGHZ 122, 308, 311; BGH, Urteil vom 20. März 1996 - IV ZR 366/94 - a.a.O.), so daß hier auch Rechtsgedanken herangezogen werden können, die für § 203 BGB von Bedeutung sind. Ein Fall der Verhinderung der Rechtsverfolgung durch höhere Gewalt im Sinne des § 203 Abs. 2 BGB ist aber bei einem Sachverhalt wie dem vorliegenden - entgegen der Auffassung der Revision - nicht zu bejahen. Eine Verjährungshemmung aus diesem Grunde greift nicht ein, wenn von der Klageerhebung wegen Unkenntnis über bestehende Ansprüche abgesehen wird (vgl. Senatsurteil vom 4. Oktober 1983 - VI ZR 194/81 - VersR 1984, 136, 137), und zwar unabhängig davon, ob die Unkenntnis den Anspruch selbst oder die Person des Verpflichteten betrifft und worauf diese Unkenntnis beruht (vgl. BGH, Urteil vom 10. April 1968 - V ZR 19/65 - NJW 1968, 1381 f.). Soweit in besonders gelagerten Fallgestaltungen ausnahmsweise eine unvermeidbare Rechtsunkenntnis als "höhere Gewalt" im Sinne des § 203 Abs. 2 BGB anerkannt worden ist (vgl. BGHZ 129, 282, 289; BGH, Urteil vom 6. Juli 1994 - XII ZR 136/93 - NJW 1994, 2752, 2753), ist der vorliegend zu beurteilende Sachverhalt hiermit nicht vergleichbar.

23

c)

An dieser Beurteilung ändert es - entgegen der Auffassung der Revision - nichts, daß die Unkenntnis des Klägers von einem möglichen Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten durch das Herrschaftssystem der DDR strukturell bedingt war, die Unkenntnis daher erst behoben werden konnte, als dem Kläger nach dem Untergang der DDR Zugang zu den geheim gehaltenen Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit gewährt wurde.

24

aa)

Der Senat hat bereits früher bei Beurteilung eines Sachverhalts, in welchem einem Geschädigten die für die Geltendmachung seines Schadensersatzanspruchs wesentliche Einsichtnahme in Unterlagen einer staatlichen Einrichtung der DDR verwehrt war (dort: Geburtsbericht einer Klinik), grundsätzliche Bedenken dagegen geäußert, daß derartige Umstände geeignet sein könnten, eine Verjährungshemmung nach § 477 Abs. 1 Ziffer 4 ZGB herbeizuführen (Senatsurteil BGHZ 126, 87, 100). Diese damals nicht abschließend entschiedene Frage ist nunmehr dahin zu beantworten, daß die Unmöglichkeit der Unterrichtung des Betroffenen über anspruchsbegründende Tatsachen aus Unterlagen des Herrschaftsapparats der DDR für die Verjährungshemmung keine rechtliche Relevanz hat.

25

bb)

Angesichts dessen, daß die Kenntnis von der Person des Schädigers und von der Tathandlung sowohl in § 852 Abs. 1 BGB als auch nach § 475 Ziffer 2 ZGB nur für den Beginn der kurzen Verjährungsfrist (von drei bzw. vier Jahren), nicht aber für die gerade im Fall der Unkenntnis maßgebliche lange Verjährungsfrist von 30 (bzw. zehn) Jahren Bedeutung hat, kann es für die Verjährungshemmung nach § 477 Abs. 1 Nr. 4 ZGB (ebenso wie im Rahmen des § 203 BGB) nicht darauf ankommen, worauf diese Unkenntnis beruht. Auch wenn die gesetzlichen Vorschriften der ehemaligen DDR, die nur noch bei der Beurteilung abgeschlossener Altfälle heranzuziehen sind, an den Grundrechtsgarantien und den grundlegenden Wertungen der Verfassungsordnung des Grundgesetzes gemessen werden müssen (vgl. Senatsurteil BGHZ 127, 195, 204 [BGH 11.10.1994 - VI ZR 234/93] m.w.N.), ist unter diesem Gesichtspunkt die Berücksichtigung einer solchen Unkenntnis im Rahmen der Verjährungshemmung weder geboten noch möglich; sie würde dem Sinn und Zweck ebenso wie der rechtlichen Systematik der genannten Regelungen zuwiderlaufen.

26

4.

Entgegen der Auffassung der Revision war das Berufungsgericht auch nicht gehalten, dem Kläger trotz eingetretener Verjährung auf der Grundlage des § 472 Abs. 2 ZGB Rechtsschutz für den geltend gemachten Schadensersatzanspruch zu gewähren.

27

a)

Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, daß diese Rechtsvorschrift auf Fälle, in denen sich der Eintritt der Verjährung im Rahmen der Regelung des Art. 231 § 6 EGBGB nach dem Recht der DDR bestimmt, weiter anzuwenden ist (vgl. Senatsurteil BGHZ 126, 87, 102; BGH, Beschluß vom 17. Mai 1995 - XII ZA 3/95 - DtZ 1995, 409).

28

b)

Die Voraussetzungen des § 472 Abs. 2 ZGB für eine Verjährungsdurchbrechung sind nur dann erfüllt, wenn alle drei im Gesetz hierfür genannten Gesichtspunkte zu bejahen sind, nämlich sowohl das Vorliegen schwerwiegender Gründe als auch ein dringendes Interesse des Gläubigers und die Zumutbarkeit für den Schuldner. Allgemeine Billigkeitserwägungen können nicht genügen. Erforderlich ist vielmehr eine besonders schwere Beeinträchtigung der Lebensverhältnisse des Gläubigers, die unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Schuldners und seines Verhaltens die Durchbrechung der Verjährung zwingend gebietet (vgl. Senatsurteil BGHZ 126, 87, 103 f.; BGH, Beschluß vom 17. Mai 1995 - XII ZA 3/95 a.a.O.).

29

aa)

Eine Verjährungsdurchbrechung auf der Grundlage des § 472 Abs. 2 ZGB, an die bereits in der Rechtsprechung der DDR strenge Anforderungen gestellt wurden (vgl. z.B. Bezirksgericht Neubrandenburg, NJ 1985, 209 f.), kommt daher vor allem dann in Betracht, wenn ein Verhalten des Schuldners maßgeblich dazu beigetragen hat, daß der Gläubiger seinen Anspruch nicht rechtzeitig geltend gemacht hat (vgl. Senatsurteil BGHZ 126, 87, 103 f.; Thüringer OLG, OLG-NL 1994, 149;  1994, 150, 153;  OLG Dresden, OLG-Report 1996, 118). Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Obersten Gerichts der DDR, die eine Verjährungsdurchbrechung vor allem in derartigen Fällen gewährte (vgl. z.B. OG, NJ 1979, 139 f.; OG, NJ 1982, 138 f.; OG, NJ 1990, 362, 363).

30

bb)

Ein solches Verhalten des Beklagten, das geeignet gewesen wäre, den Kläger von der rechtzeitigen Durchsetzung seines Schadensersatzanspruchs vor Gerichten der Bundesrepublik Deutschland abzuhalten, liegt nicht vor. Der Umstand, daß der Kläger aus tatsächlichen Gründen an der Geltendmachung seiner Ansprüche gehindert war, weil ihm die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen DDR nicht zugänglich waren, ist dem Beklagten nicht wie ein eigenes Verhalten zuzurechnen.

31

c)

Es mag Fallgestaltungen geben, in denen darüber hinaus - auch unabhängig vom Verhalten des Schuldners - eine Verjährungsdurchbrechung im Sinne des § 472 Abs. 2 ZGB in Betracht kommt, wenn eine rechtzeitige Geltendmachung des Anspruchs aus sonstigen Gründen verhindert worden ist, die nicht auf eine Pflichtverletzung des Berechtigten zurückzuführen sind (vgl. hierzu aus dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum der DDR: Göhring/Posch, Zivilrecht, Lehrbuch 1, 1981, S. 254; Posch, Allgemeines Vertragsrecht, 1977, S. 97 f.; vgl. hier auch die Begründung zum Entwurf des Zivilgesetzbuches vom 15. Oktober 1965, abgedruckt bei: Eckert/Hattenhauer, Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975, 1995, S. 546 ff., 660, wo auf "schwerwiegende Gründe objektiver Natur" abgestellt wird). Im Hinblick auf die strengen Anforderungen, die an die Anwendung des § 472 Abs. 2 ZGB zu stellen sind, muß es sich dann aber um ganz besondere Gründe handeln, die - um einem unabweisbaren Gerechtigkeitsbedürfnis Genüge zu tun - unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles die ausnahmsweise Durchbrechung der eingetretenen Verjährung zwingend gebieten.

32

Es darf hier nicht außer acht gelassen werden, daß nach dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck die Verjährungsdurchbrechung dazu dienen sollte, für Ausnahmefälle einen Ausgleich dafür zu schaffen, daß die Verjährungsfristen im ZGB kurz festgelegt wurden und der Eintritt der Verjährung im Rechtsstreit von Amts wegen zu beachten war (vgl. Begründung des Entwurfs des Zivilgesetzbuches vom 15. Oktober 1965, a.a.O.; gerade im Hinblick hierauf nennt die Begründung als Beispielsfälle "höhere Gewalt, schwere Erkrankungen oder schwere Unfälle"; siehe dazu auch Brandenburgisches OLG, OLG-Report 1996, 77, 79). Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um Probleme, wie sie bei der Einhaltung einer nur kurzen Verjährungsfrist auftreten können; entsprechend hoch müssen die Anforderungen an die Gründe bemessen werden, die zur Anwendung des § 472 Abs. 2 ZGB bei einer 30-jährigen Verjährungsfrist (also einer Frist, die um ein Mehrfaches länger ist als die längste im ZGB vorgesehene Verjährungsfrist) führen könnten.

33

d)

Auf dieser Grundlage sind die Überlegungen, mit denen das Berufungsgericht ausgeführt hat, daß und aus welchen Gründen es im vorliegenden Fall die Voraussetzungen einer Verjährungsdurchbrechung als nicht erfüllt ansieht, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Im Berufungsurteil wird ein Ausnahmesachverhalt, der gegenüber anderen Fällen einer verjährten Schadensersatzforderung aus einer vergleichbaren, vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung entsprechend schwerwiegende Besonderheiten aufweist, rechtsfehlerfrei nicht als gegeben erachtet.

34

aa)

Der Unkenntnis des Klägers von Anspruchsgegner und Anspruchsgrund kann, auch wenn sie durch die Strukturen des Herrschaftssystems der DDR bedingt war, auch im Rahmen des § 472 Abs. 2 ZGB keine maßgebliche Bedeutung beigemessen werden, da die 30-jährige Verjährungsfrist des § 852 Abs. 1 BGB (und die zehnjährige Verjährungsfrist des § 475 Ziff. 2 Satz 2 ZGB) gerade von einer entsprechenden Unkenntnis des Geschädigten ausgehen, ohne darauf abzustellen, worauf diese Unkenntnis beruht (vgl. hierzu auch Thüringer OLG, OLG-NL 1994, 149; Brandenburgisches OLG, OLG-Report 1996, 77, 79).

35

bb)

Die schwerwiegenden Folgen, welche die behauptete unerlaubte Handlung des Beklagten für den Kläger nach seinem Vortrag gehabt hat, seine rechtsstaatlichen Maßstäben grob widersprechende strafgerichtliche Verurteilung und die langjährige Inhaftierung, hat das Berufungsgericht - entgegen der Auffassung der Revision - in hinreichender Weise in seine Überlegungen einbezogen. Wenn es - auch unter Berücksichtigung der seinerzeit allgemein in der DDR herrschenden Verhältnisse - zu der Auffassung gelangt ist, daß Art und Schwere der vom Kläger erlittenen Beeinträchtigungen unter den gegebenen Umständen nicht ausreichen, um die Anwendung des § 472 Abs. 2 ZGB zu rechtfertigen, so ist hierin kein revisionsrechtlich relevanter Rechtsverstoß zu erkennen. Hinzu kommt, daß den getroffenen Feststellungen keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sind, daß der Kläger heute noch unter derart gravierenden Nachwirkungen der damaligen, Jahrzehnte zurückliegenden Geschehnisse leidet, die eine Durchsetzung seines Schadensersatzanspruchs unter Durchbrechung der eingetretenen Verjährung zwingend gebieten würden; die Revision rügt insoweit auch nicht, daß entsprechender Tatsachenvortrag des Klägers übergangen worden sei.

36

e)

Eine andere Beurteilung ergibt sich ferner nicht aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, der als übergesetzlicher Rechtssatz allen Rechtsordnungen immanent und auch bei der Auslegung der Verjährungsbestimmungen des ZGB heranzuziehen ist; auch der Grundsatz von Treu und Glauben gebietet keine Lockerung der Anforderungen an eine Verjährungsdurchbrechung nach § 472 Abs. 2 ZGB (vgl. Senatsurteil BGHZ 126, 87, 104 f.). Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei dargelegt, daß dem Beklagten auf der Grundlage des § 242 BGB die Berufung auf die eingetretene Verjährung des Klageanspruchs nicht versagt werden kann, zumal an die Voraussetzungen des Arglisteinwands insoweit strenge Maßstäbe anzulegen sind (vgl. dazu z.B. BGHZ 93, 64, 66 [BGH 28.11.1984 - VIII ZR 240/83]; BGH, Urteil vom 21. Januar 1988 - IX ZR 65/87 - NJW 1988, 2245, 2247).

37

III.

Da das Berufungsgericht die Klage zu Recht wegen Verjährung abgewiesen hat, war die Revision des Klägers mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

Groß
Bischoff
Dr. v. Gerlach
Dr. Müller
Dr. Dressler