Bundesgerichtshof
Urt. v. 19.11.1996, Az.: VI ZR 350/95
Grober Behandlungsfehler; Beurteilung des Gerichts; Würdigung medizinischer Gutachten
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 19.11.1996
- Aktenzeichen
- VI ZR 350/95
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1996, 14499
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- AZRT 1997, 27
- MDR 1997, 355-356 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1997, 798-799 (Volltext mit amtl. LS)
- VersR 1997, 315-317 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Auch wenn es sich bei der Beurteilung eines Behandlungsfehlers als grob um eine juristische Wertung handelt, die dem Tatrichter obliegt, muß diese wertende Entscheidung auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruhen, für die die Würdigung des medizinischen Sachverständigen nicht außer acht gelassen werden kann.
Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen ärztlicher Fehler im Zusammenhang mit ihrer Geburt auf Schadensersatz in Anspruch.
Ihre Mutter befand sich wegen bestehender Risikoschwangerschaft zunächst in der frauenärztlichen Behandlung des früheren Drittbeklagten. Vom 28. August bis 15. September 1987 wurde sie wegen Schmerzen und Blutungen stationär im Krankenhaus des Erstbeklagten vom Chefarzt der Gynäkologischen Abteilung, dem Zweitbeklagten, behandelt. Am 27. September 1987 wurde sie erneut stationär aufgenommen. Nach Anlage einer Cerclage am 1. Oktober 1987 wurde am 8. Oktober 1987 eine Placenta praevia festgestellt. Am 10. Oktober 1987 wurde die Mutter der Klägerin mit vaginaler Blutung notfallmäßig zur Überwachung in den Kreißsaal gebracht. Das CTG ergab keine Wehentätigkeit. Es wurden eine Celestan-Prophylaxe zur Förderung der Lungenreife des Kindes sowie täglich 3-4 mal CTG-Kontrollen durchgeführt. Am 22. Oktober 1987 trat gegen 8.30 Uhr kurzfristig eine leichte Blutung auf. Das gegen 12.10 Uhr geschriebene CTG zeigte eine wehensynchrone Dezeleration von 2 Minuten und fetalen Herzfrequenzabfall. Hierauf entschloß sich der Zweitbeklagte mit Einwilligung der Mutter der Klägerin zur Sectio. Die Tokolyse wurde eingestellt. Ein weiteres CTG zwischen 14.15 Uhr und 15.15 Uhr zeigte regelmäßige Wehen und normale Herzfrequenzen des Kindes. Um 15.30 Uhr wurde die Klägerin in der 29. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von 1.230 Gramm durch Sectio entbunden. Nach diversen Komplikationen im Anschluß an die Geburt leidet sie bei normaler geistiger Entwicklung an einer 100 %igen Körperbehinderung als Folge einer Cerebralparese.
Die Klägerin hat den Beklagten mehrere grobe Behandlungsfehler zur Last gelegt. Der Zweitbeklagte habe die Plazentaanomalie zu spät erkannt und die Cerclage verspätet angelegt. Ferner habe er die CTG falsch beurteilt und die Klägerin durch eine unnötige Sectio viel zu früh entbunden. Sie hat Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes - nicht unter 220.000 DM - und einer monatlichen Pflegerente von mindestens 3.500 DM verlangt sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für alle zukünftigen Schäden begehrt, soweit sie nicht auf öffentliche Versicherungsträger übergegangen seien.
Das Landgericht hat unter Klagabweisung gegenüber dem früheren Drittbeklagten dem Feststellungsantrag stattgegeben und die Zahlungsanträge für dem Grunde nach gerechtfertigt erklärt. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zu 1) und 2) unter Neufassung des Feststellungsausspruchs zurückgewiesen und die Sache zur Entscheidung über die Höhe an das Landgericht zurückverwiesen.
Mit der Revision erstreben die Beklagten zu 1) und 2) Klagabweisung.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht ist nach sachverständiger Beratung zur Auffassung gelangt, dem Zweitbeklagten sei ein Behandlungsfehler unterlaufen, weil die vorzeitige Entbindung durch Sectio im Zeitpunkt ihrer Vornahme in keiner Weise medizinisch indiziert gewesen sei. Nach den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen Prof. W. sei keines der CTG, auch nicht das ab 12.10 Uhr geschriebene, ernsthaft pathologisch gewesen, so daß eine erhebliche Gefährdung des Kindes nicht zu besorgen gewesen sei, zumal tatsächlich bis zur Sectio um 15.30 Uhr noch zweieinhalb Stunden vergangen seien. Einen weiteren Behandlungsfehler stelle es dar, daß der Zweitbeklagte das unstreitig nicht pathologische CTG um 14.15 Uhr völlig außer acht gelassen habe, obwohl er nach den Ausführungen des Sachverständigen spätestens in Kenntnis dieses CTG seine Entscheidung zur Sectio hätte überdenken müssen. Dieser Umstand sei ausschlaggebend für die Bewertung des Behandlungsfehlers als grob. Angesichts seines Wissensstandes habe der Zweitbeklagte fahrlässig gehandelt. Hierfür habe der Erstbeklagte nach § 31, § 89 BGB einzustehen.
II. Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht durchweg stand.
1. Mit Erfolg wenden sich die Beklagten gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, der dem Zweitbeklagten zur Last gelegte Behandlungsfehler sei als grob zu bewerten.
a) Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ansatz des Berufungsgerichts zur Frage, wann ein Behandlungsfehler als grob zu beurteilen ist. Das ist nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats nur dann der Fall, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (vgl. Senatsurteil vom 4. Oktober 1994 - VI ZR 205793 - VersR 1995, 46, 47; Senatsurteil vom 13. Februar 1996 - VI ZR 402/94 - VersR 1996, 633 und Senatsurteil vom 11. Juni 1996 - VI ZR 172/95 - VersR 1996, 1148, jeweils m. w. N.). Richtig ist auch die Auffassung des Berufungsgerichts, daß es sich bei der Beurteilung eines Behandlungsfehlers als grob um eine juristische Wertung handelt, die dem Tatrichter obliegt. Indessen muß, wie der erkennende Senat gerade im letztgenannten Urteil hervorgehoben hat, diese wertende Entscheidung auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruhen, die sich in der Regel aus der medizinischen Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen ergeben werden (so auch Senatsurteil vom 13. Februar 1996 - a.a.O. m. w. N.). Das ist schon deshalb erforderlich, weil der Richter den berufsspezifischen Sorgfaltsmaßstab in aller Regel nur mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen ermitteln kann (Senatsurteil vom 29. November 1994 - VI ZR 189/93 - VersR 1995, 659) und deshalb auch bei der Frage, ob ein Fehler nach den dargelegten Kriterien einen groben Behandlungsfehler darstellt, die Würdigung des medizinischen Sachverständigen nicht außer acht gelassen werden kann.
b) Mit Recht macht die Revision geltend, daß die Bewertung des Behandlungsfehlers als grob in den Ausführungen des Sachverständigen keine hinreichende Grundlage findet. Zwar hat der Sachverständige in seinem Gutachten ausgeführt, daß sich die Entscheidung zur Sectio aus dem Krankenblatt nicht mit ausreichender Plausibilität ableiten lasse und nicht nachzuvollziehen sei. In der mündlichen Verhandlung hat er indes eine Frage der Beklagtenseite zur Schwere des Behandlungsfehlers dahingehend beantwortet, daß es sich um keine krasse Fehlentscheidung gehandelt habe; es sei eine Grenzsituation gewesen und er hätte "nicht in der Haut" des Zweitbeklagten "stecken" mögen, selbst allerdings die Sectio nicht angesetzt. Diese Ausführungen hat das Berufungsgericht zwar nicht übersehen, ihre Bedeutung für die Frage, ob der Behandlungsfehler grob war, jedoch nicht ausreichend gewürdigt. Die im Berufungsurteil wiedergegebenen Formulierungen des Sachverständigen bei seiner mündlichen Anhörung - insbesondere "keine krasse Fehlentscheidung" und "Grenzsituation" - rechtfertigen unter den Umständen des Streitfalls nicht die Folgerung des Berufungsgerichts, es handele sich um einen groben Behandlungsfehler, nämlich um einen nicht mehr verständlichen Fehler, wie er einem Arzt schlechthin nicht unterlaufen dürfe.
c) Diese Beurteilung wird, wie die Revision mit Recht rügt, auch nicht durch die vom Berufungsgericht als entscheidend bezeichnete Erwägung getragen, daß der Zweitbeklagte das letzte CTG von 14.15 Uhr überhaupt nicht mehr berücksichtigt habe. Erkennbar legt das Berufungsgericht damit dem Zweitbeklagten zur Last, daß er auf dieses CTG hin seine Entscheidung zur Sectio nicht mehr rückgängig gemacht habe. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen zusätzlichen Gesichtspunkt, den der gerichtliche Sachverständige bei seiner Einschätzung des Behandlungsgeschehens etwa übersehen hätte, sondern gerade um denjenigen Fehler, den er dem Zweitbeklagten angelastet hat, ohne ihn indes als "krasse Fehlentscheidung" zu bewerten. Das Berufungsgericht hat mithin nicht einen zusätzlichen Aspekt gewürdigt, der vielleicht über die Beurteilung des Sachverständigen hinaus die Bewertung des ärztlichen Fehlers als grob zu tragen vermöchte. Vielmehr hat es denjenigen Fehler, den der medizinische Sachverständige erkennbar als nicht krass angesehen hat, unter Anlegung eines eigenen medizinischen Maßstabs als grob bewertet. Diese abweichende Beurteilung durfte das Berufungsgericht ohne Verstoß gegen § 286 ZPO nicht treffen, ohne den Sachverständigen hierzu ausdrücklich zu befragen und gegebenenfalls ein Obergutachten einzuholen, um diesen Punkt hinreichend zu klären (Senatsurteil vom 4. Oktober 1994 und Senatsurteil vom 29. November 1994 - jeweils a.a.O. -; vgl. auch Senatsurteil vom 27. September 1994 - VI ZR 284/93 - VersR 1995, 195). Soweit die Revision allerdings ein Obergutachten auch zur medizinischen Auswertung der CTG für erforderlich hält, zeigt sie nicht hinreichend auf, weshalb sich das Berufungsgericht hierbei entgegen seinen ausführlichen Darlegungen nicht auf die Sachkunde des gerichtlichen Sachverständigen habe verlassen dürfen.
d) Die Revision rügt weiter, das Berufungsgericht habe die extrem ungünstige psychische Verfassung der Mutter der Klägerin nicht genügend berücksichtigt und sei den entsprechenden Beweisanträgen entgegen § 286 ZPO nicht nachgegangen. Das Berufungsgericht hat hierzu ausgeführt, eine mögliche Verunsicherung der Mutter habe im Interesse des Kindes zurückstehen müssen und hätte den Arzt nicht von der Revision einer fehlerhaften Entscheidung abbringen dürfen. Indessen lassen die bisherigen Ausführungen des Sachverständigen Anhaltspunkte dafür erkennen, daß die Situation der Mutter entsprechend dem Klägervortrag in die Entscheidung über eine vorzeitige Sectio einzubeziehen war. Zu einer abschließenden Beurteilung dieser Frage reichen die bisherigen Feststellungen jedoch nicht aus, so daß das Berufungsgericht bei der weiteren Sachaufklärung zu prüfen haben wird, ob die von den Beklagten geltend gemachte Angstsituation der Mutter der Klägerin aus medizinischer Sicht einer Bewertung der Entscheidung zur vorzeitigen Sectio als grober Behandlungsfehler entgegensteht.
2. Ferner zieht die Revision die Ursächlichkeit der vorzeitigen Sectio für die Gesundheitsschäden der Klägerin in Zweifel, weil der Sachverständige über den hypothetischen weiteren Verlauf der Schwangerschaft keine Prognosen habe stellen können. Diesen Punkt hat das Berufungsgericht entgegen der Auffassung der Revision jedoch nicht übersehen, sondern vielmehr den erforderlichen Kausalzusammenhang daraus hergeleitet, daß sich wegen des von ihm angenommenen groben Behandlungsfehlers die Beweislast zugunsten der Klägerin umkehre. Ds ist vom rechtlichen Absatz her nicht zu beanstanden (Senatsurteile vom 4. Oktober 1994, 13. Februar 1996 und 11. Juni 1996 - a.a.O., jeweils m. w. N.) und wird von der Revision im Grundsatz auch nicht in Frage gestellt. Wie der erkennende Senat in den Urteilen vom 24. September 1996 - VI ZR 303/95 und vom 1. Oktober 1996 - VI ZR 10/96 erneut eingehend dargelegt hat, kann ein grober Behandlungsfehler zur Umkehr der Beweislast führen, wenn er zur Herbeiführung des Gesundheitsschadens geeignet ist. Die Revision meint zwar, vorliegend fehle es an der Eignung, weil nach den Ausführungen des Sachverständigen die Sectio mit großer Wahrscheinlichkeit allenfalls um eine Woche hätte hinausgezögert werden können. Indessen hat der Sachverständige ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Verzögerung der Entbindung auch nur um eine Woche das Schadensrisiko für das Kind gemindert haben würde und angesichts des frühen Schwangerschaftsstadiums jeder Zeitgewinn kostbar gewesen wäre. Hiernach konnte das Berufungsgericht jedenfalls auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellung unbedenklich von der Eignung des Behandlungsfehlers zur Herbeiführung des Schadens ausgehen.
Soweit die Klägerin meint, daß Berufungsgericht habe schon bei Annahme eines einfachen Behandlungsfehlers zur Bejahung des Ursachenzusammenhangs gelangen müssen, trifft das nicht zu. Nach den bisherigen Feststellungen ist lediglich davon auszugehen, daß die zu frühe Geburt schadensursächlich war; es steht jedoch nicht fest, daß ohne die Durchführung der Sectio im konkreten Zeitpunkt eine vergleichbare Schädigung der Klägerin vermieden worden wäre. Das steht zur Beweislast der Klägerin, wenn ihr nicht die oben erörterten Beweiserleichterungen zugutekommen.
III. Da die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts die Würdigung des Behandlungsfehlers als grob nicht tragen, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.