Bundesgerichtshof
Urt. v. 21.11.1995, Az.: VI ZR 341/94
Behandlungsunterlagen; Beweiserleichterung
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 21.11.1995
- Aktenzeichen
- VI ZR 341/94
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1995, 15588
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- KHuR 1997, 5-7
- MDR 1996, 261-262 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1996, 779-781 (Volltext mit amtl. LS)
- VersR 1996, 330-332 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
Der Krankenhausträger hat dafür zu sorgen, daß über den Verbleib von Behandlungsunterlagen jederzeit Klarheit besteht. Verletzt er diese Pflicht, dann ist davon auszugehen, daß er es zu verantworten hat, wenn die Unterlagen nicht verfügbar sind. Gerät dadurch der Patient mit seiner Behauptung, dem Arzt sei ein Behandlungsfehler unterlaufen, in Beweisnot, dann kann ihm eine Beweiserleichterung zugute kommen.
Tatbestand:
Der Kläger unterzog sich am 30. August 1984 im Bundeswehrzentralkrankenhaus in K. als Privatpatient einem Eingriff, durch den der Chirurg Prof. Dr. L., ein selbstliquidierender beamteter Arzt, die Gallenblase mit den darin befindlichen Gallensteinen entfernte; außerdem entfernte er einen Stein aus dem Gallengang. Am 4. September 1984 wurde bei einer Röntgenkontrolle ein weiterer Gallenstein im Gallengang festgestellt. Ein am 5. September 1984 unternommener Versuch, diesen Stein durch Spülung und medikamentöse Behandlung zu beseitigen, mißlang. Deshalb wurde am 10. September 1984 gleichfalls unter Leitung des Chefarztes Prof. Dr. L. im Bundeswehrzentralkrankenhaus der Bauchraum des Klägers erneut geöffnet; dabei wurden der Zwölffingerdarm eröffnet und die Gallengangsmündung gespalten. Auch dieser Eingriff führte nicht zur Entfernung des Steins. Am 12. September 1984 kam der Kläger wegen einer inzwischen aufgetretenen Bauchspeicheldrüsenentzündung auf die Intensivstation des Bundeswehrzentralkrankenhauses. An diesem Tag wurde die Wunde erneut eröffnet und am 19. September 1984 wurde eine weitere Bauchoperation vorgenommen. Am 20. September 1984 wurde der Kläger wegen seines schlechten Zustandes in die Universitätsklinik nach B. verlegt; dort wurde er am 22. September 1984 ein weiteres Mal operiert.
Der Kläger verlangt mit seiner gegen die Bundesrepublik Deutschland als Trägerin des Bundeswehrzentralkrankenhauses und Dienstherrin des Chefarztes Prof. Dr. L. gerichteten Klage die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes für den Zeitraum vom 30. August 1984 bis zum 17. Oktober 1986; ferner begehrt er - vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger oder Dritte - die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz der ihm nach diesem Zeitraum durch die ärztliche Behandlung im Bundeswehrzentralkrankenhaus entstandenen und entstehenden materiellen und immateriellen Schäden. Er behauptet, der Operateur Prof. Dr. L. habe bei der Operation am 30. August 1984 den später festgestellten Gallenstein übersehen, obwohl dieser Stein auf den während der Operation gefertigten Röntgenaufnahmen, die - wie unstreitig ist - nicht mehr auffindbar sind, erkennbar gewesen sei. Bei der Operation am 30. August 1984 oder bei der zweiten Operation am 10. September 1984, die überdies zu spät erfolgt sei, sei es zu einer Verletzung der Gallengänge gekommen; dadurch sei Gallenflüssigkeit in den Oberbauch ausgetreten und bis zur Bauchspeicheldrüse gelangt, was zur Entzündung dieses Organs und zur Notwendigkeit seiner teilweisen Entfernung geführt habe. Ein weiterer Haftungsgrund bestehe darin, daß er vor der Operation vom 30. August 1984 über das Risiko einer Bauchspeicheldrüsenentzündung nicht aufgeklärt worden sei; wäre ihm das wirkliche Komplikationsrisiko aufgezeigt worden, dann hätte er sich nicht im Bundeswehrzentralkrankenhaus operieren lassen. Durch die Fehler des Operateurs Prof. Dr. L. habe er dreieinhalb Monate in Krankenhäusern verbringen müssen; er leide an einer bleibenden und fortschreitenden Funktionsbeeinträchtigung der Bauchspeicheldrüse und weiteren durch die Operation eingetretenen Schäden; außerdem sei er durch die Behandlungsfehler des Prof. Dr. L. pflegebedürftig und erwerbsunfähig geworden.
Die Beklagte hat bestritten, daß Prof. Dr. L. bei der Behandlung des Klägers Fehler unterlaufen sind. Nach ihrer Auffassung war es auch nicht geboten, den Kläger vor der Operation vom 30. August 1984, in der es nur um eine Gallenblasenentfernung gegangen sei, über das mit einem Eingriff in die Gallenwege zusammenhängende Risiko einer Bauchspeicheldrüsenentzündung aufzuklären. Außerdem bestreitet die Beklagte, daß bei dem Kläger eine erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung verblieben ist.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Prozeßbegehren weiter.
Entscheidungsgründe
I. Nach Auffassung des - sachverständig beratenen - Berufungsgerichts kann dem Operateur Prof. Dr. L. nicht vorgeworfen werden, daß bei der Operation vom 30. August 1984 ein Reststein im Gallengang zurückgeblieben ist. Zwar habe der Operateur die Gallengänge nicht mit einem Gallenwegendoskop besichtigt; dies sei aber damals kein Fehler gewesen. Es lasse sich auch nicht feststellen, daß Prof. Dr. L. den Reststein schuldhaft übersehen habe. Ein Verschuldensbeweis sei nicht zu führen, weil die intraoperativ angefertigten Röntgenaufnahmen verschwunden seien. Dabei lasse sich nicht aufklären, ob ein schuldhaftes Verhalten der Bediensteten der Beklagten zum Verschwinden der Röntgenaufnahmen, die nach Behauptung der Beklagten bei der Verlegung des Klägers in die Universitätsklinik in B. dorthin mitgeschickt worden seien, geführt habe; deshalb könnten die Grundsätze der Beweisvereitelung nicht zu Gunsten des beweisbelasteten Klägers zur Anwendung kommen. Die Beklagte sei nicht verpflichtet gewesen, von den intraoperativ hergestellten Röntgenaufnahmen eine Mikroverfilmung vorzunehmen. Es sei auch nicht feststellbar, daß dem Operateur im Zusammenhang mit der Operation vom 10. September 1984 ein Behandlungsfehler unterlaufen sei. Der komplikationsbeladene Verlauf des Heilungsprozesses im Anschluß an diese Operation lasse keinen Rückschluß auf einen Behandlungsfehler zu. Die Regeln des Anscheinsbeweises fänden keine Anwendung, weil es hier nicht um einen typischen Geschehensablauf gehe; das gelte insbesondere für die Bauchspeicheldrüsenentzündung, die eine bekannte und gefürchtete Komplikation bei Eingriffen in die Gallenwege sei, die auch auf einem unglücklichen natürlichen Krankheitsverlauf beruhen könne. Auch aus dem zeitlichen Abstand zwischen den beiden Operationen lasse sich nichts herleiten, weil er auf die Bauchspeicheldrüsenentzündung ohne Einfluß sei. Schließlich könnten der Beklagten auch keine Aufklärungsversäumnisse angelastet werden. Vor der Operation vom 10. September 1984 sei der Kläger, wie die Vernehmung des Prof. Dr. L. als Zeuge ergeben habe, über das Risiko einer Bauchspeicheldrüsenentzündung aufgeklärt worden und er habe in Kenntnis dieses Risikos in die Operation eingewilligt. Allerdings sei nicht erwiesen, daß der Kläger auch vor der Operation vom 30. August 1984 über das Risiko einer Bauchspeicheldrüsenentzündung, das mit einer möglicherweise erforderlich werdenden Eröffnung der Gallenwege verbunden sei, aufgeklärt worden sei. Der Hinweis auf dieses Risiko sei indes bei einer Entfernung der Gallenblase - und nur dieser Eingriff sei bei der Operation vom 30. August 1984 geplant gewesen - nicht geboten gewesen, weil die Bauchspeicheldrüsenentzündung bei diesem Eingriff ein unwahrscheinliches Ereignis darstelle. Im übrigen komme eine Haftung der Beklagten aus diesem Gesichtspunkt ohnehin nicht in Betracht, weil sich das Risiko einer Bauchspeicheldrüsenentzündung nicht aufgrund der Operation vom 30. August 1984, sondern erst aufgrund des - durch eine wirksame Einwilligung des Klägers gedeckten - Eingriffs vom 10. September 1984 verwirklicht habe.
II. Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.
1. a) Allerdings bleibt die Revision ohne Erfolg, soweit sie sich dagegen wendet, daß das Berufungsgericht auf der Grundlage der Aussage des Prof. Dr. L. als Zeuge zu der Überzeugung gelangt ist, daß der Kläger vor der Operation vom 10. September 1984 auch über das Risiko einer Bauchspeicheldrüsenentzündung aufgeklärt worden ist. Es ist nicht erkennbar, daß das Berufungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung erhebliche Gesichtspunkte außer acht gelassen hätte. Daß der Zeuge in einem Vermerk über das Aufklärungsgespräch die Aufklärung über das Risiko einer Bauchspeicheldrüsenentzündung nicht ausdrücklich erwähnt hat, bedeutete entgegen der Auffassung der Revision für das Berufungsgericht keinen Hinderungsgrund, in Würdigung der Bekundungen des Zeugen vor dem Senat im Rahmen der freien richterlichen Überzeugungsbildung (§ 286 Abs. 1 ZPO) zu dem Ergebnis zu gelangen, daß eine solche Aufklärung tatsächlich erfolgt ist. Dabei lassen die Erwägungen des Berufungsgerichts erkennen, daß es sich bewußt gewesen ist, daß der Zeuge in einem Prozeß ausgesagt hat, in dem es um einen gegen ihn selbst gerichteten Vorwurf eines Behandlungsfehlers ging. Auch dies mußte das Berufungsgericht aber nicht daran hindern, nach einer ausführlichen Vernehmung des Zeugen die Überzeugung zu gewinnen, daß er die Wahrheit gesagt hat.
b) Vergeblich wendet sich die Revision auch gegen die Überlegungen, mit denen das Berufungsgericht ausgeführt hat, daß ein Behandlungsfehler des Prof. Dr. L. nicht schon darin liegt, daß er es unterlassen hat, im Rahmen der ersten Operation die Gallengänge mit einem Gallenwegendoskop zu besichtigen. Das Berufungsgericht konnte ohne Rechtsfehler auf der Grundlage der Ausführungen der Sachverständigen zu der Überzeugung gelangen, daß die Besichtigung der Gallenwege durch ein Gallenwegendoskop im Zeitpunkt der Operation nicht allgemeine chirurgische Norm gewesen ist. Damit hat das Berufungsgericht entgegen der Auffassung der Revision nicht die Anforderungen des § 276 BGB verkannt, nach denen es auf die Wahrung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ankommt. Entscheidend ist, ob das Unterlassen der Untersuchung mit dem Gallenwegendoskop eine Abweichung vom Standard eines Facharztes bedeutet hat (vgl. Senatsurteil vom 10. Februar 1987 - VI ZR 68/86 - VersR 1987, 686, 687 m.w.N.). Davon, daß dies im Zeitpunkt der Operation der Fall gewesen ist, konnte das Berufungsgericht nach den Erläuterungen der Sachverständigen nicht ausgehen.
2. a) Die Revision ist hingegen erfolgreich, soweit sie sich gegen die Auffassung des Berufungsgerichts wendet, der Kläger sei für seine Behauptung, der Chefarzt Prof. Dr. L. habe den Reststein im Gallengang schuldhaft nicht erkannt, beweisfällig geblieben.
Das Berufungsgericht geht davon aus, daß dem Kläger der Verschuldensbeweis ohne die bei der Operation vom 30. August 1984 angefertigten Röntgenaufnahmen nicht möglich, der Beklagten der Verlust dieser Aufnahmen aber nicht anzulasten ist. Dies beanstandet die Revision zu Recht. Der Senat versteht die Erwägungen des Berufungsgerichts dahin, daß nach seiner Auffassung für die Behauptung der Beklagten, die Röntgenaufnahmen seien bei der Verlegung des Klägers in die Universitätsklinik in B. dorthin mitgeschickt, von dort aber nicht zurückgeschickt worden, zwar einiges spricht, daß sich das Berufungsgericht von der Wahrheit dieser Behauptung aber letztlich nicht hat überzeugen können und den Verbleib der Röntgenaufnahmen als ungeklärt ansieht. Diese Unklarheit darf sich aber nicht zum Nachteil des Klägers auswirken. Vielmehr geht es grundsätzlich beweismäßig zu Lasten des Krankenhausträgers, wenn Krankenunterlagen, die Auskunft über das Behandlungsgeschehen geben, aus ungeklärten Gründen verschwunden sind. Es gehört zu den Organisationsaufgaben des Krankenhausträgers, Unterlagen, die Auskunft über das Behandlungsgeschehen geben, zu sichern. Erweist es sich als geboten, die Behandlungsunterlagen an eine andere Stelle herauszugeben, dann ist es Aufgabe des Krankenhausträgers zu dokumentieren, wann er an welche Stelle für welchen Zweck die Unterlagen weitergeleitet hat. Erhält der Krankenhausträger die Unterlagen zurück, dann hat er auch dies zu vermerken; erhält er sie in angemessener Zeit nicht zurück, dann ist er gehalten, für ihre Rücksendung zu sorgen; auch diese Bemühungen und ihr Erfolg sind zu dokumentieren. In jedem Fall hat der Krankenhausträger dafür zu sorgen, daß über den Verbleib der Behandlungsunterlagen jederzeit Klarheit besteht. Dieser Pflicht hat die Beklagte nicht genügt. Deshalb ist im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts nach den bisher getroffenen Feststellungen davon auszugehen, daß die Beklagte die Nichtverfügbarkeit der Behandlungsunterlagen zu verantworten hat. Daraus folgt, daß der Kläger des Beweises seiner Behauptung, daß der Reststein auf den während der Operation gefertigten Röntgenaufnahmen erkennbar gewesen ist, enthoben ist (vgl. Senatsurteil BGHZ 99, 391, 397 ff.) [BGH 03.02.1987 - VI ZR 56/86].
Dies bedeutet, daß es nunmehr Sache der Beklagten ist, ihre Behauptung zu beweisen, daß der Reststein während der Operation vom 30. August 1984 für den Operateur Prof. Dr. L. nicht erkennbar gewesen ist.
b) Die Revision macht ferner mit Recht geltend, daß der Kläger schon vor der Operation vom 30. August 1984 über das Risiko einer Bauchspeicheldrüsenentzündung hätte aufgeklärt werden müssen.
Zwar trifft es, wie das Berufungsgericht ausführt, zu, daß die Bauchspeicheldrüsenentzündung erst nach der Operation vom 10. September 1984 aufgetreten ist. Das Berufungsgericht übersieht jedoch, worauf die Revision mit Recht hinweist, daß diese Operation mit der vom 30. August 1984 zusammenhängt. Nach den Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. H. und Prof. Dr. O., auf die sich - gestützt auf die Rüge aus § 286 ZPO - die Revision bezieht, ist in 10% aller Fälle, in denen nur eine Entfernung der Gallenblase geplant war, eine Choledochusrevision vorzunehmen. Bei dieser Revision verwirklicht sich infolge der aggressiven Manipulation an den Gallenwegen in 2% der Fälle die Gefahr einer Bauchspeicheldrüsenentzündung.
Bei dieser Sachlage ist der Patient auf das Risiko einer Bauchspeicheldrüsenentzündung schon vor einer Operation hinzuweisen, mit der nur die Gallenblase entfernt werden soll. Hier greift der Grundsatz ein, daß der Patient über schwerwiegende Risiken, die mit einer Operation verbunden sind, auch dann aufzuklären ist, wenn sie sich nur selten verwirklichen. Für die ärztliche Hinweispflicht kommt es nicht entscheidend auf einen bestimmten Grad der Komplikationsdichte, sondern maßgeblich darauf an, ob das in Frage stehende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet (vgl. Senatsurteil vom 2. November 1993 - VI ZR 245/92 - VersR 1994, 104 ff. m.w.N.). Danach handelt es sich bei der Bauchspeicheldrüsenentzündung um ein Risiko, auf das der Kläger schon vor der Operation vom 30. August 1984 hätte hingewiesen werden müssen; daran ändert sich nichts dadurch, daß dieses Risiko im Promille-Bereich liegt (vgl. Senatsurteil vom 2. November 1993 - VI ZR 245/92 - aaO. S. 106).
III. Das Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um ihm Gelegenheit zu geben, den nach der vorliegenden Entscheidung noch offenen Fragen des Sachverhalts - insbesondere der in der Revisionserwiderung aufgestellten Behauptung, daß sich der Kläger auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung nicht anders entschieden hätte (vgl. Senatsurteil vom 2. März 1993 - VI ZR 104/92 - VersR 1993, 749, 750 m.w.N.), sowie der Behauptung der Beklagten, daß der Reststein während der Operation vom 30. August 1984 für den Operateur nicht erkennbar gewesen sei - nachzugehen.