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Bundesgerichtshof
Urt. v. 17.01.1995, Az.: X ZR 82/93

Entkräftung des Anscheinsbeweises; Andere Ursache; Ernsthaftmögliche Kausalität; Vollbeweis

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
17.01.1995
Aktenzeichen
X ZR 82/93
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1995, 15474
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Fundstelle

  • VersR 1995, 723-724 (Volltext mit red. LS)

Amtlicher Leitsatz

1. Zur Entkräftung eines Anscheinsbeweises genügt nicht schon der Hinweis auf einen Geschehensablauf, nach dem der Schaden die typische Folge einer anderen Ursache sein kann. Der Inanspruchgenommene muß vielmehr dartun, daß die andere Ursache ernsthaft in Betracht kommt.

2. Streitige Tatsachen, aus denen die Ernsthaftigkeit der anderen Verursachungsmöglichkeit hergeleitet wird, bedürfen des vollen Beweises.

Tatbestand:

1

Der Kläger, Haftpflichtversicherer des Zweckverbandes A, nimmt die Beklagte nach Regulierung eines Versicherungsschadens aus abgetretenem Recht in Anspruch.

2

Der Zweckverband A hatte die Beklagte beauftragt, ab 1. Januar 1988 die Verbandskanäle und Stauräume einschließlich der Schächte im Verbandsgebiet sowie die Ortskanäle der vertragsschließenden Gemeinden jährlich zu reinigen. Im April 1990 hatte die Beklagte in D am A die Reinigung des Stauraums bei dem Schachtdeckel Nr. 400 im Bereich des Anwesens W, vorgenommen. Hierbei handelt es sich um einen sogenannten Schachtdruckdeckel, der einen verbandeigenen Stauraum abschließt. Der Deckel ist in einem Metallrahmen (Schachtrand) eingelassen und mit Hilfe von drei Haken verriegelt. Für die Durchführung der Reinigungsarbeiten mußte der Schachtdeckel geöffnet und nach Beendigung der Arbeiten wieder verschlossen werden.

3

Bei einem Unwetter am 25. August 1990 hob sich der Deckel. Das ausströmende Wasser ergoß sich über die Straße in das Anwesen K. Der Kläger hat als Haftpflichtversicherer im Wege des Vergleichs 64.375,02 DM an W gezahlt.

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Der Kläger hat von der Beklagten Schadensersatz mit der Behauptung verlangt, ihre Arbeiter hätten den Schacht nach den Reinigungsarbeiten nicht ordnungsgemäß verschlossen.

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Die Beklagte hat Grund und Höhe des Anspruchs bestritten und erwidert, der Deckel sei nach den Arbeiten fachgerecht geschlossen und der Verschluß geprüft worden. Der Schaden sei ausschließlich durch Oberflächenwasser entstanden. Im übrigen seien ihre Arbeiten überprüft worden, wozu der Schachtdruckdeckel Nr. 400 habe geöffnet und geschlossen werden müssen. Dies sei schon deshalb geboten gewesen, weil ein am dortigen Stauraum vorhandener Schieber regelmäßig gewartet werden müsse, was gleichfalls im Zeitraum zwischen April und August 1990 geschehen sei. Die Lockerung des Kanaldeckels könne auch auf den Straßenverkehr zurückzuführen sein. Zudem sei es schon mehrfach vorgekommen, daß Dritte derartige Kanaldeckel geöffnet hätten, um sich ihres Abfalls zu entledigen.

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Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des § 286 ZPO und beantragt,

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unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach den Berufungsanträgen des Klägers zu erkennen.

8

Die Beklagte bittet um Zurückweisung der Revision.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

10

1. Das Berufungsgericht hat einen Schadensersatzanspruch des Klägers aus § 67 Abs. 1 VVG in Verbindung mit §§ 823, 831 BGB oder positiver Forderungsverletzung des Werkvertrags verneint, weil eine Schadensverursachung durch die Beklagte nicht nachgewiesen sei. Mit dem Landgericht hat es aufgrund der Aussage des Zeugen W und nach den Regeln des Anscheinsbeweises als erwiesen angesehen, daß sich bei dem Unwetter am 25. August 1990 der nicht ordnungsgemäß verriegelte Schachtdruckdeckel geöffnet hat und die Überschwemmung im Anwesen K infolge der ausströmenden Wassermassen verursacht worden ist. Das Berufungsgericht hat weiter im wesentlichen ausgeführt: Den Anscheinsbeweis dafür, daß die Beklagte im Zusammenhang mit ihren Arbeiten im April das Verschließen des Schachtdeckels nicht ordnungsgemäß besorgt habe, sei jedoch nicht geführt. Zwar müsse davon ausgegangen werden, daß die Ursache für die mangelnde Verriegelung des Deckels in den zuvor durchgeführten Arbeiten liege. Der typische Geschehensablauf weise die Beklagte als die Verursacherin aus, weil es nicht der Regel entspreche, daß sich Fremde unter Zuhilfenahme entsprechender Werkzeuge an den Deckeln zu schaffen machten. Deshalb spreche der Sachverhalt dafür, daß die Arbeiter der Beklagten den Deckel nach Beendigung der Arbeiten nicht ordnungsgemäß verschlossen hätten. Die Beklagte habe diesen Anscheinsbeweis aber mit Erfolg erschüttert. Sie habe die ernsthafte Möglichkeit einer vom gewöhnlichen Verlauf abweichenden Geschehensfolge bewiesen. Nach der Aussage des Zeugen B seien schon mehrfach derartige Schachtdruckdeckel geöffnet vorgefunden worden. Da für die Entriegelung ein gekröpfter Ringschlüssel entsprechender Größe ausreichend sei, bestehe nicht nur die vage Möglichkeit der Einwirkung durch Dritte.

11

2. Gegen diese Beurteilung des Berufungsgerichts wendet sich die Revision mit Erfolg.

12

a) Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht angenommen, daß dem Zeugen W ein Überschwemmungsschaden entstanden und dieser dadurch verursacht worden ist, daß der vor dem Anwesen W befindliche Schacht der Abwasseranlagen jedenfalls am 25. August 1990 nicht ordnungsgemäß verriegelt war, weil nur einer der drei Verschlußriegel sich in Schließstellung befand. Weiter ist es zutreffend davon ausgegangen, daß der Beklagten dann, wenn ihre Mitarbeiter bei den Reinigungsarbeiten im April 1990 den Schachtdeckel nicht dreifach verriegelt haben sollten, eine Pflichtverletzung aus dem Werkvertrag zur Last fällt und sie dem Abwasserverband wegen dessen Ersatzpflicht gegenüber W aus positiver Forderungsverletzung schadensersatzpflichtig sein würde, und zwar mit der Folge, daß die Schadensersatzforderung nach § 67 Abs. 1 VVG auf den Kläger, der für den Abwasserverband dessen Schadensersatzverpflichtung reguliert hat, übergegangen ist. Das Berufungsgericht hat ferner einen für den Abwasserverband und deshalb für den Kläger streitenden Anschein dafür bejaht, daß die Mitarbeiter der Beklagten bei den Reinigungsarbeiten im April 1990 den Schachtdeckel nicht ordnungsgemäß verriegelt haben. Dies greift die Revision als ihr günstig nicht an.

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b) Mit Recht rügt die Revision jedoch als Verletzung der Grundsätze zum Anscheinsbeweis die Annahme des Berufungsgerichts, die Beklagte habe den gegen sie streitenden Anscheinsbeweis der nicht ordnungsgemäßen Verriegelung des Deckels mit der Folge erschüttert, daß dem Kläger der Beweis der Behauptung nicht gelungen sei, Leute der Beklagten hätten den Überschwemmungsschaden verursacht.

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aa) Spricht für den Kläger ein Anscheinsbeweis, muß der Beklagte zwar nicht das Gegenteil beweisen, er muß aber den Anscheinsbeweis entkräften. Dazu genügt nicht schon der Hinweis auf einen Geschehensablauf, nach dem der Schaden die typische Folge einer anderen Ursache sein kann. Vielmehr muß der Inanspruchgenommene auch dartun, daß diese andere Ursache ernsthaft in Betracht kommt (BGHZ 8, 239, 240; BGH, Urt. v. 20.6.1978 - VI ZR 15/77, NJW 1978, 2032). Die Tatsachen, aus denen eine solche ernsthafte andere Möglichkeit hergeleitet wird, bedürfen, sofern streitig, des vollen Beweises (BGHZ 6, 169, 170, 171) [BGH 23.05.1952 - I ZR 163/51]. Welche Tatsachen zur Entkräftung des typischen Ablaufs ausreichen, um ernsthaft einen atypischen Verlauf wahrscheinlich zu machen, ist zwar in erster Linie Sache der tatrichterlichen Beweiswürdigung. Diese unterliegt der Überprüfung durch das Revisionsgericht jedenfalls aber dann, wenn, wie hier gerügt, die Feststellungen zum Vorliegen anderer Tatsachen verfahrensfehlerhaft gewonnen sind (§ 286 ZPO).

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bb) Das Berufungsgericht hat den Angaben der vom Landgericht vernommenen Zeugen B und B, die den Kanaldeckel nach Beendigung der Arbeiten im April 1990 ordnungsgemäß verschlossen haben wollen, ersichtlich keinen Glauben schenken wollen, und es hat deshalb, anders als das Landgericht, nicht als bewiesen angesehen, daß der Kanaldeckel von den Mitarbeitern der Beklagten nach der Kanalreinigung verriegelt worden ist. Das Berufungsgericht hat vielmehr andere Tatsachen herangezogen, aus denen es die ernsthafte Möglichkeit einer vom typischen Verlauf abweichenden Geschehensfolge und damit die Entkräftung des zugunsten des Klägers streitenden Anscheinsbeweises hergeleitet hat.

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Aufgrund der Aussage des Zeugen B hat das Berufungsgericht festgestellt, die Mitarbeiter der Beklagten hätten schon mehrfach entriegelte Schachtdeckel vorgefunden. Dabei hat es nicht dargelegt, warum es der noch präzisen Schilderung des Zeugen zur Wiederverschließung des Schachtdeckels keinen Glauben schenken wollte, dagegen ihm dessen allgemeine und durch nichts konkretisierte Aussage abnehmen will, "generell" könne er sagen, "daß wir schon mehrmals derartige Schachtdruckdeckel geöffnet vorgefunden haben". Abgesehen von diesem aus den Gründen des Berufungsurteils nicht aufzulösenden Widerspruch hätte das Berufungsgericht auch deshalb nicht ohne weitere Aufklärung der näheren Umstände zu der Feststellung gelangen dürfen, entriegelte Schachtdruckdeckel seien von den Mitarbeitern der Beklagten schon mehrfach vorgefunden worden, weil nach den Angaben des Zeugen B insgesamt nur zwei derartige verriegelbare Deckel vorhanden waren und zur Öffnung des Deckels Nr. 400 wegen schwergängiger Riegel ein mittelschwerer Hammer eingesetzt werden mußte. Dabei hätte das Berufungsgericht auch den Umstand berücksichtigen müssen, daß die Beklagte mit Schreiben vom 16. Januar 1991 dem Kläger mitgeteilt hat, ihre Mitarbeiter hätten keine auftretenden Schwierigkeiten festgestellt, die Deckelbefestigung sei ordnungsgemäß verschlossen worden. Wäre dies zutreffend, könnten gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen B Bedenken bestehen.

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Das Berufungsgericht hat die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs, nämlich die Öffnung eines solchen Deckels durch Dritte, dadurch bestätigt gesehen, daß für die Entriegelung des Kanaldeckels nicht notwendig auf den beim Abwasserverband vorgehaltenen Schlüssel zurückgegriffen werden müsse, vielmehr habe, wie sich aus den vorgelegten Lichtbildern des Privatgutachtens P ergebe, ein gekröpfter Ringschlüssel entsprechender Größe ausgereicht. Auch diese Begründung trägt nicht. Das Berufungsgericht hat bei dieser Beurteilung nicht erkennbar berücksichtigt, daß auch der Privatgutachter P einen Spezialschlüssel für erforderlich gehalten hat und daß nach dem Vortrag des Klägers ein üblicher Ringschlüssel zum Öffnen des derartigen Schachtdruckdeckels untauglich ist. Hätte das Berufungsgericht diese Umstände erwogen, wäre es jedenfalls nicht ohne weitere Aufklärung, gegebenenfalls durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, zu der Annahme gelangt, die Öffnung eines solchen Kanaldruckdeckels durch Dritte sei nicht nur eine vage Möglichkeit. Aufgrund der bisherigen Feststellungen fehlt dem Berufungsgericht jeglicher Anlaß für seine Annahme, daß etwa Dritte den Deckel Nr. 400 entriegelt haben könnten.

18

Mit Recht beanstandet die Revision schließlich, das Berufungsgericht habe auch nicht belegt, weshalb es nicht ausgeschlossen, sondern durchaus naheliegend sein solle, daß im Zusammenhang mit Baumaßnahmen der Schacht Nr. 400 samt Stauraum als Vorfluter für die Einleitung von Abwässern benutzt und deshalb von Dritten entriegelt und geöffnet worden sei. Das Berufungsgericht hat weder festgestellt, daß in der in Betracht kommenden Zeit im Bereich des Kanaldeckels Nr. 400 überhaupt Baumaßnahmen stattgefunden haben, noch daß ein Bauunternehmen bei Baumaßnahmen in der Gemeinde D jemals Abwässer auf diese Art in die Kanalisation eingeleitet hat. Mangels konkreter Feststellungen bewegt sich die Annahme des Berufungsgerichts im Bereich des Spekulativen.

19

3. Da die genannten Feststellungen des Berufungsgerichts von Verfahrensfehlern beeinflußt sind, hat das angefochtene Urteil keinen Bestand. Der Rechtsstreit ist zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

20

Wenn das Berufungsgericht Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugen B und B hat und es deshalb von der Beurteilung des Landgerichts abweichen will, wird es bei der erneuten Befassung mit der Sache diese Zeugen vernehmen müssen, um sich ein unmittelbares Bild von der Glaubwürdigkeit der Zeugen zu verschaffen. Sollte es danach zu der Überzeugung gelangen, daß die Zeugen glaubwürdig sind, wird es, falls sich keine weiteren Gesichtspunkte ergeben, den Schadensersatzanspruch für nicht gegeben ansehen können. Sollten sich bei der erneuten Beweisaufnahme insbesondere unter Berücksichtigung der Lichtbildaufnahmen des Gutachtens des Gutachters P und des Schreibens der Beklagten vom 16. Januar 1991 die Zweifel des Berufungsgerichts gegenüber der Schilderung der Zeugen über die ordnungsgemäße Verschließung des Deckels bestätigen, so wird es im einzelnen feststellen und begründen müssen, ob die zur Erschütterung des Anscheinsbeweises bislang herangezogenen Tatsachen überhaupt an sich geeignet und ob sie aufgrund des Vortrags der Parteien und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme bewiesen sind.