Bundesgerichtshof
Urt. v. 04.10.1994, Az.: VI ZR 205/93
Arztdiagnose; Beweislast; Behandlungsfehler
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 04.10.1994
- Aktenzeichen
- VI ZR 205/93
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1994, 15072
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- JZ 1995, 408-409 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
- MDR 1994, 1187 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1995, 778-779 (Volltext mit amtl. LS)
- VersR 1995, 46-47 (Volltext mit amtl. LS)
- zfs 1994, 434-436 (Volltext mit amtl. LS)
Amtlicher Leitsatz
1. Liegt der ärztliche Behandlungsfehler nicht in der Fehlinterpretation von Befunden, sondern in deren Nichterhebung, so ist dem Arzt nicht nur eine falsche Diagnosestellung vorzuwerfen.
2. Zu den Anforderungen an die Bewertung eines Behandlungsfehlers als grob und an die darauf gegründete Umkehr der Beweislast für die Kausalität.
Tatbestand:
Der am 30. Januar 1985 geborene Kläger nimmt den Beklagten zu 1) (künftig: der Beklagte) als Frauenarzt seiner Mutter auf Ersatz von Schäden in Anspruch, die er durch seine Frühgeburt erlitten hat.
Die Mutter des Klägers wurde während ihrer Schwangerschaft ab Oktober 1984 vom Beklagten betreut. Am 2. Januar 1985 suchte sie ihn wegen vaginaler Blutungen auf. Der Beklagte diagnostizierte eine Zervixverkürzung und einen Harnwegsinfekt. Als am 13. Januar 1985 verstärkt vaginale Blutungen auftraten, veranlaßte der Beklagte die stationäre Aufnahme der Schwangeren im Krankenhaus des früheren Beklagten zu 2). Von dort wurde die Mutter des Klägers am 15. Januar 1985 wieder in die ambulante Behandlung des Beklagten entlassen. Am 25. Januar 1985 schilderte sie ihm starke Schmerzen insbesondere im Rückenbereich. Der Beklagte führte eine weitere Urinuntersuchung durch und diagnostizierte wiederum eine Harnwegsinfektion; eine vaginale Untersuchung erfolgte an diesem Tage nicht. Als am 29. Januar 1985 starke vaginale Blutungen einsetzten, wies der Beklagte die Mutter des Klägers erneut in das Krankenhaus des Beklagten zu 2) ein. Dort erhielt sie wehenhemmende Medikamente. Am 30. Januar 1985 wurde der Kläger in der 26. Schwangerschaftswoche mit einem Gewicht von weniger als.1000 g extrem unreif geboren. Er mußte intubiert und über 55 Tage maschinell beatmet werden.
Der Kläger ist mehrfach behindert und vollständig pflegebedürftig. Er leidet u.a. an beiderseitiger Blindheit, einer Hüftluxation, motorischer Unruhe sowie Sprachentwicklungs- und Verhaltensstörungen; auch besteht der Verdacht auf zerebrale Krampfanfälle.
Der Kläger hat geltend gemacht, die Frühgeburt und seine darauf beruhenden körperlichen und gesundheitlichen Schäden hätten bei sachgerechter Behandlung seiner Mutter durch den Beklagten und im Krankenhaus des Beklagten zu 2) vermieden werden können. Der Beklagte habe schon am 2. Januar 1985 zur Diagnose einer drohenden Frühgeburt gelangen und die Hospitalisierung der Schwangeren, zumindest aber Bettruhe verordnen müssen. Zur Bekämpfung des Harnwegsinfekts sei eine bakteriologische Diagnose erforderlich gewesen. Am 25. Januar 1985 habe der Beklagte eine vaginale Untersuchung durchführen müssen.
Das Landgericht hat die Klage gegen beide Beklagte abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat unter Zurückweisung der gegen den Beklagten zu 2) gerichteten Berufung den gegen den Beklagten geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und festgestellt, daß der Beklagte dem Kläger sämtliche auf die Frühgeburt zurückzuführenden künftigen Vermögensschäden sowie die noch nicht voraussehbaren immateriellen Schäden zu ersetzen habe. Mit der Revision erstrebt der Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht hält den Beklagten sowohl aufgrund des mit der Mutter des Klägers abgeschlossenen Behandlungsvertrages als auch auf deliktischer Grundlage gegenüber dem Kläger für schadensersatzpflichtig. Zwar könne davon ausgegangen werden, daß dem Beklagten bis zum 25. Januar 1985 kein Behandlungsfehler unterlaufen sei; auch könne zu der Behandlung an diesem Tage offen bleiben, ob und welche Folgerungen sich aus dem Unterlassen einer bakteriologischen Urinuntersuchung und aus dem Fehlen eines Karteivermerks zu Angaben der Mutter des Klägers über ziehende Unterbauchschmerzen ergäben. Es sei jedenfalls als grob fehlerhaft zu bewerten, daß der Beklagte die Schwangere am 25. Januar 1985 nicht vaginal auf Anzeichen einer bevorstehenden Frühgeburt untersucht habe. Denn die von ihr an diesem Tage geäußerten heftigen Rückenschmerzen, die sich in einem (wohl dem rechten) stark klopfempfindlichen Nierenlager gezeigt hätten, seien in Verbindung mit dem Harnsedimentbefund vom selben Tage als Anzeichen für eine Nierenbeckenentzündung in Betracht gekommen, die ihrerseits eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Frühgeburt begründe. Unter diesen Umständen sei nach den Angaben des Sachverständigen eine erneute vaginale Untersuchung klar und selbstverständlich notwendig gewesen, so daß sich deren Unterlassen als grober Behandlungsfehler des Beklagten darstelle. Damit werde dem Kläger die Beweislast für , die Schadensursächlichkeit des ärztlichen Fehlverhaltens abgenommen. Der ursächliche Zusammenhang mit den durch die Frühgeburt entstandenen Schäden sei zwar als unwahrscheinlich anzusehen; dem Beklagten sei jedoch nicht der zum Ausschluß seiner Haftung erforderliche Nachweis gelungen, daß eine hochgradige Unwahrscheinlichkeit vorliege.
II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.
1. Rechtlichen Bedenken begegnet bereits die Ansicht des Berufungsgerichts, das Unterlassen einer vaginalen Untersuchung der Schwangeren am 25. Januar 1985 stelle einen groben Behandlungsfehler des Beklagten dar.
a) Entgegen der Rüge der Revision ist dem Beklagten nach den Feststellungen des Berufungsgerichts allerdings nicht nur eine falsche Diagnosestellung vorzuwerfen, die lediglich bei einem nach Ansicht der Revision hier nicht vorliegenden fundamentalen Irrtum als grober Behandlungsfehler bewertet werden könnte (vgl. dazu Senatsurteile vom 14. Juli 1981 - VI ZR 35/79 - VersR 1981, 1033, 1034 = AHRS 6560/4 und vom 10. November 1987 - VI ZR 39/87 - VersR 1988, 293, 294 = AHRS 6562/20). Denn das Berufungsgericht lastet dem Beklagten nicht an, von ihm erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert zu haben, sondern es wirft ihm vor, eine aufgrund der Beschwerden der Schwangeren und des Harnsedimentbefunds "klar und selbstverständlich" erforderliche vaginale Untersuchung unterlassen zu haben. Es geht also nicht um die Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung (vgl. Senatsurteile vom 10. November 1987 = aaO. und vom 23. März 1993 - VI ZR 26/92 - VersR 1993, 836, 838). Diese kann sich bei zweifelsfrei gebotener Befundung durchaus als schwerer. Behandlungsfehler darstellen (vgl. BGHZ 99, 391, 395 [BGH 03.02.1987 - VI ZR 56/86] = AHRS 6590/11; Senatsurteile vom 18. April 1989 - VI ZR 221/88 - VersR 1989, 701 = AHRS 6562/28 und vom 27. November 1990 - VI ZR 30/90 - VersR 1991, 308, 309).
b) Das Berufungsgericht hat jedoch über das ihm zustehende tatrichterliche Ermessen hinaus bei der Beurteilung der Schwere des ärztlichen Behandlungsfehlers das Versäumnis des Beklagten auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen rechtsfehlerhaft als grob angesehen.
aa) Wie das Berufungsgericht selbst darlegt, hat der gerichtliche Sachverständige noch in seinem ersten Ergänzungsgutachten die Notwendigkeit einer vaginalen Untersuchung für den 25. Januar 1985 bzw. einen in deren Unterlassen liegenden groben Behandlungsfehler des Beklagten verneint. In seinem zweiten Ergänzungsgutachten hat der Sachverständige zwar eine vaginale Untersuchung bei Rückenschmerzen für angezeigt, sie aber nur bei ziehenden Schmerzen im Unterbauch, die das Berufungsgericht seiner Entscheidung ausdrücklich nicht zugrunde legt, für stets geboten gehalten. In gewissem Gegensatz dazu hat er es allerdings auf dahin zielende Frage des Einzelrichters des Berufungsgerichts anschließend als für den Beklagten "klar und selbstverständlich" bezeichnet, auch bei Rückenschmerzen eine vaginale Untersuchung vorzunehmen. Bei seiner mündlichen Anhörung vor dem Berufungsgericht hat der Sachverständige sodann ausgeführt, bei festgestelltem Klopfschmerz im Nierenlager sei primär an einen Harnwegsprozeß zu denken gewesen; die Notwendigkeit einer vaginalen Untersuchung sei damit aber "noch nicht ganz vom Tisch" gewesen. Bei durchschnittlicher Sorgfalt hätte man vaginal untersuchen müssen; die in dem Unterlassen der Untersuchung liegende Vernachlässigung der Sorgfalt sei jedoch als eher läßlich zu bezeichnen. Unter Einbeziehung des am 25. Januar 1985 erneut auffälligen Harnsedimentbefunds hat der Sachverständige sodann eine vaginale Untersuchung als "klar und selbstverständlich notwendig" bezeichnet.
bb) Diese Ausführungen des Sachverständigen bieten keine ausreichende Grundlage, um bei der revisionsrechtlichen Nachprüfung feststellen zu können, daß das Berufungsgericht das Unterlassen einer vaginalen Untersuchung durch den Beklagten am 25. Januar 1985 mit Recht als groben Behandlungsfehler bewertet hat (siehe dazu auch Senatsurteil vom 23. März 1993 = aaO.). Den Angaben kann nämlich nicht klar entnommen werden, daß der Beklagte, wie für einen groben Behandlungsfehler erforderlich, eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf (zum Begriff des groben Behandlungsfehlers s. Senatsurteile vom 10. Mai 1983 - VI ZR 270/81 - VersR 1983, 729, 730 = AHRS 6551/7; vom 3. Dezember 1985 - VI ZR 106/84 - VersR 1986, 366, 367 = AHRS 6551/10 und vom 26. November 1991 - VI ZR 389/90 - VersR 1992, 238, 239 = AHRS 6551/21).
cc) Bedenken gegen die Einstufung des Behandlungsfehlers des Beklagten als grob bestehen nicht zuletzt auch deshalb, weil es zum Wesen eines solchen Fehlers gehört, daß er die Aufklärung des Behandlungsverlaufs besonders erschwert (BGHZ 85, 212, 216 = AHRS 6555/6; Senatsurteil vom 28. Juni 1988 - VI ZR 217/87 - VersR 1989, 80 f = AHRS 6555/9). Gerade dies ist nach den Ausführungen des Sachverständigen hier aber fraglich; denn nach seinen Angaben ist,. wie das Berufungsgericht selbst sagt, der vaginale Tastbefund der Zervix äußerst unsicher und einer außerordentlichen Fehlerbreite unterworfen.
2. Das Berufungsurteil erweist sich überdies auch deshalb als rechtsfehlerhaft, weil das Berufungsgericht aus dem seiner Ansicht nach vorliegenden groben Behandlungsversäumnis des Beklagten eine Umkehr der Beweislast für die Frage der Schadensursächlichkeit herleitet.
a) Wie der Senat bereits mehrfach ausgesprochen hat, kann bei der Frage, ob und inwieweit ein grober Behandlungsfehler eine Beweiserleichterung für die Kausalität rechtfertigt, das Gewicht der Möglichkeit nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Fehler zum Mißerfolg beigetragen hat (BGHZ 85, 212, 216 f; Urteil vom 28. Juni 1988 = aaO.). Jedenfalls dann, wenn eine kausale Verknüpfung mit dem Schaden in hohem Maße unwahrscheinlich ist, muß dem bei der Frage nach der gerechten Beweislastverteilung Rechnung getragen werden.
b) Im Streitfall hat es der Sachverständige in seinem Hauptgutachten als hochwahrscheinlich bezeichnet, daß die schweren Schäden des Klägers auch durch eine (nach vaginaler Untersuchung und dabei möglicherweise diagnostizierter drohender Frühgeburt) bereits am 25. Januar 1985 begonnene Tokolyse nicht vermeidbar gewesen wären. Denn durch die tokolytische Behandlung wäre wohl kein realer Zeitgewinn von mehr als zwei Tagen möglich gewesen, und auch dann hätte in jedem Fall mit einem schwerstgeschädigten Kind gerechnet werden müssen. In seinem ersten Ergänzungsgutachten hat der Sachverständige auf gezielte Fragen des Einzelrichters des Berufungsgerichts erklärt, daß er den von ihm genannten hohen Grad an Wahrscheinlichkeit zwar nicht mit medizinischer Literatur belegen könne, daß dieser aber auf seiner klinischen Erfahrung beruhe. Auch in diesem Gutachten hat der Sachverständige erneut einen wesentlich anderen klinischen Verlauf bei früherer Tokolyse für unwahrscheinlich gehalten und gesagt, daß ein Zeitgewinn von wenigen Tagen angesichts der extremen Frühgeburtlichkeit keinen entscheidenden Einfluß auf den Zustand des Klägers und seine weitere Entwicklung gehabt haben dürfte. Bei seiner mündlichen Anhörung vor dem Berufungsgericht hat der Sachverständige sodann erklärt, daß bei einer sich in der 26. Schwangerschaftswoche, wie hier, abzeichnenden Frühgeburt durch eine sofortige Tokolyse durchschnittlich nur ein Gewinn von 2 Tagen erzielt werde und daß die allgemeine Wahrscheinlichkeit im Streitfall gegen ein Erreichen der kritischen Altersgrenze von 30 Wochen spreche. Nach seiner Schätzung lasse sich in 90 % der Fälle die Schwangerschaft durch eine Tokolyse um nicht mehr als 2 Tage verlängern, und der aus einer solchen Verlängerung erwachsende Gewinn sei nicht quantifizierbar.
c) Diesen Ausführungen des Sachverständigen wird das Berufungsgericht nicht gerecht, wenn es trotz der auch nach seiner Ansicht unwahrscheinlichen Vermeidbarkeit der Frühgeburt des Klägers zu Lasten des Beklagten von einer Beweislastumkehr ausgeht. Denn für diese ist die innere Rechtfertigung der Rechtsprechung des erkennenden Senats zu berücksichtigen, die darin liegt, daß wegen der besonderen Schadensneigung des Behandlungsfehlers das Spektrum der für den Mißerfolg in Betracht kommenden Ursachen verbreitert oder verschoben worden ist (BGHZ 85, 212, 216 f; Senatsurteile vom 28. Juni 1988 = aaO. und vom 26. Oktober 1993 - VI ZR 155/92 - VersR 1994, 52, 53). Von einer erheblichen. Verschiebung kann aber nach der eigenen Ansicht des Berufungsgerichts im Streitfall nicht ausgegangen werden.
III. Das Berufungsurteil ist deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit gemäß § 565 Abs. 1 ZPO zur weiteren Verhandlung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.