Bundesgerichtshof
Urt. v. 07.06.1993, Az.: II ZR 141/92
Fehlgebrauch des dem Berufungsgericht eingeräumten Ermessens; Abweichende materiell-rechtliche Beurteilung eines Parteivorbringens des Berufungsgerichts gegenüber dem Erstgericht; Zurückverweisung einer Sache aufgrund eines berechtigten wesentlichen Verfahrensfehlers
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 07.06.1993
- Aktenzeichen
- II ZR 141/92
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1993, 16513
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OLG Bremen - 21.01.1992
- LG Bremen
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- BB 1993, 1692 (Volltext mit amtl. LS)
- BauR 1993, 774 (amtl. Leitsatz)
- JurBüro 1993, 659 (Kurzinformation)
- MDR 1993, 901-902 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1993, 2317-2319 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1993, 2318-2319
- SGb 1993, 625 (amtl. Leitsatz)
Prozessführer
der Kauffrau Ingeborg C., C. straße 37, C.,
Prozessgegner
1. R. E. M.-B. mbH & CO. KG i.L.,
vertreten durch den Liquidator Hans B., L. straße 88, B.,
2. Hans B., L. straße 88, B.,
Amtlicher Leitsatz
- a)
Beurteilt das Berufungsgericht Parteivorbringen materielll-rechtlich anders als das Erstgericht, etwa indem es abweichende Anforderungen an die Schlüssigkeit und Substantiierungslast stellt, und wird infolgedessen eine Beweisaufnahme erforderlich, liegt kein zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache berechtigender wesentlicher Verfahrensfehler vor. Ein solcher Verfahrensfehler kann in diesem Fall auch nicht mit der Verletzung der richterlichen Frage- und Hinweispflicht (§ 139 ZPO) begründet werden.
- b)
Es stellt einen Fehlgebrauch des dem Berufungsgericht nach §§ 539, 540 ZPO eingeräumten Ermessens dar, wenn es von der eigenen Sachentscheidung allein mit der Begründung absieht, die Beweiserhebung sei ihm nicht zumutbar und obliege vornehmlich dem erstinstanzlichen Gericht, obwohl der Rechtsstreit bereits seit mehr als zehn Jahren anhängig ist, in der Sache schon mehrfach zurückverweisende Entscheidungen ergangen sind und die noch offenen Fragen durch eine Vernehmung der vorbereitend geladenen Zeugen im Termin zur mündlichen Verhandlung von dem Berufungsgericht geklärt werden können.
In dem Rechtsstreit
hat der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes
auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juni 1993
durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Boujong und
die Richter Dr. Hesselberger, Röhricht, Stodolkowitz und Dr. Goette
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom 21. Januar 1992 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Architekt D. war seit 1977 mit der Beklagten zu 1 gesellschaftsrechtlich bei der gemeinsamen Errichtung eines Terassenwohnhauses verbunden und hatte Anspruch auf eine Gewinnbeteiligung von 40 %. Er schuldet der Klägerin 100.000,00 DM nebst 10 % Zinsen seit dem 1. Dezember 1981. Wegen dieser in vollstreckbarer notarieller Urkunde niedergelegten Forderung ließ die Klägerin die angeblichen Ansprüche ihres Schuldners gegen die Beklagte zu 1 auf "Zahlung des Gewinnanteils und des Auseinandersetzungsguthabens" bis zur Höhe der titulierten Forderung pfänden und sich zur Einziehung überweisen. Mit ihrer im Mai 1982 eingereichten Klage hat die Klägerin diese Forderung gegen die Beklagte zu 1, die sich inzwischen in Liquidation befindet, und gegen deren früheren Komplementär, den Beklagten zu 2, geltend gemacht.
Das Landgericht hat durch Teilurteil vom 12. Juni 1984 die Beklagten verurteilt, an die Klägerin 56.778,10 DM nebst 10 % Zinsen zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten zu 1 hat das Oberlandesgericht dieses Urteil aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen; nachdem die Verwerfung der Berufung des Beklagten zu 2 keinen Bestand gehabt, der Senat durch Urteil vom 24. Juni 1985 (II ZR 69/85, VersR 1985, 1140) die Berufungsentscheidung vielmehr aufgehoben und die Sache zu anderweiter Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückverwiesen hat, hat das Berufungsgericht auch hinsichtlich des Beklagten zu 2 unter Aufhebung des erstinstanzlichen Teilurteils die Sache an das Landgericht zurückverwiesen. Dieses hat durch Urteil vom 26. März 1991 die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 100.000,00 DM nebst 10 % Zinsen verurteilt.
Die hiergegen eingelegte Berufung der Beklagten führte zur erneuten Aufhebung des landgerichtlichen Urteils einschließlich des zugrundeliegenden Verfahrens und zur Zurückverweisung der Sache. Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht das Urteil des Landgerichts wegen eines schweren Verfahrensfehlers aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen. Es hat gemeint, dem Landgericht seien bei seinem Schlußurteil vom 26. März 1991 insgesamt vier Verfahrensfehler unterlaufen: Zunächst sei übersehen worden, daß ein Teilbetrag von 30.000,00 DM von den Diederich gegen die Beklagten zustehenden Forderungen vorrangig an die Stadtsparkasse C. abgetreten worden war; werde diese Summe in die Abrechnung eingestellt, reiche der verbleibende Baranspruch D. nicht mehr aus, die titulierte Forderung der Klägerin zu decken, ohne daß die von dem Landgericht mit Recht für beweisbedürftig erachteten Gegenforderungen der Beklagten in Höhe von insgesamt 52.400,00 DM geklärt würden. Ferner hat das Berufungsgericht dem Landgericht vorgehalten, angetretenen Zeugenbeweis zu zwei Abrechnungspositionen nicht erhoben zu haben, obwohl der Sachvortrag der Beklagten - anders als das Landgericht angenommen habe - schlüssig gewesen sei. Schließlich hat das Oberlandesgericht einen Verfahrensfehler darin erblickt, daß das Landgericht ein von den Beklagten zum Nachweis angefallener Gewerbesteuer vorgelegtes Schreiben des Steuerberaters der Gesellschaft für nicht ausreichend erachtet, gleichwohl aber weder von seinem Fragerecht nach § 139 ZPO Gebrauch gemacht noch die Vernehmung des Steuerberaters als Zeugen veranlaßt habe.
Ob diese Beurteilung - wie die Revision meint - in allen vier Punkten unrichtig ist und ob etwaige Verfahrensfehler überhaupt Einfluß auf das Urteil des Landgerichts gehabt haben (vgl. dazu BGH. Urt. v. 19. Oktober 1989 - I ZR 22/88, LM Nr. 16 zu § 539 ZPO), braucht der Senat nicht abschließend zu entscheiden. Ein Fehler im Sinne des § 539 ZPO ist nur dann gegeben, wenn das Verfahren des ersten Rechtszuges an einem so erheblichen Mangel leidet, daß es keine ordnungsgemäße Grundlage für eine instanzbeendende Entscheidung sein kann (st. Rspr. vgl. zuletzt BGH, Urt. v. 7. März 1991 - I ZR 157/89, LM Nr. 20 zu § 539 ZPO = BGHR § 539 ZPO "Verfahrensmangel 9" m.w.N.). Dies schließt es aus, einen Fehler bei der Anwendung des materiellen Rechts zur Grundlage einer auf § 539 ZPO gestützten, das erstinstanzliche Urteil aufhebenden und die Sache zurückverweisenden Entscheidung zu machen. Vielmehr ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes die Frage, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, allein aufgrund des materiell-rechtlichen Standpunkts des erstinstanzlichen Gerichts zu beantworten, und zwar auch dann, wenn er verfehlt ist und wenn das Berufungsgericht ihn nicht teilt (Sen.Urt. v. 14. März 1988 - II ZR 302/87, LM Nr. 15 zu § 539 ZPO = BGHR § 539 ZPO "Verfahrensmangel 2 und 3"; BGH, Urt. v. 30. Oktober 1990 - XI ZR 173/89, LM Nr. 19 zu § 539 ZPO = BGHR § 539 ZPO "Verfahrensmangel 7 und 8" jeweils m.w.N.).
Dies hat das Berufungsgericht bei zwei der von ihm beanstandeten Verfahrensverstößen eindeutig nicht beachtet. Sein Vorwurf, das Landgericht habe Beweisangebote der Beklagten zum zusätzlichen Honorar für die Herren K. und H. und zu den Zinsausgaben (Pos. 45) übergangen, beruht nämlich darauf, daß es die Frage, wie weit bei der Schlüssigkeit des Parteivorbringens die Substantiierungslast der Parteien und daran anschließend die Fragepflicht des Gerichts reichen, anders als das Landgericht beantwortet. Sollte die Beurteilung des Erstgerichts unzutreffend sein, so kann dies, da das Landgericht den Sachvortrag der Parteien samt den von ihnen vorgelegten Unterlagen auch nach Ansicht des Berufungsgerichts vollständig verwertet hat, nur auf einer verfehlten materiell-rechtlichen Beurteilung beruhen (Sen.Urt. v. 14. Oktober 1988 a.a.O.). Sie kann auch nicht - wie zu Pos. 45 geschehen - auf dem Umweg über eine angebliche Hinweis- und Fragepflicht (§ 139 Abs. 1 ZPO) in einen Verfahrensmangel umgedeutet werden (BGH. Urt. v. 30. Oktober 1990, LM Nr. 19 zu § 539 a.a.O.), weil das Berufungsgericht bei der Prüfung der Frage, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wie oben ausgeführt, den Rechtsstandpunkt des Erstgerichts, selbst wenn er unrichtig ist, einzunehmen hat.
Dagegen ist hinsichtlich der beiden anderen von dem Oberlandesgericht aufgezeigten Verfahrensfehler zweifelhaft, ob lediglich die Schlüssigkeit des Vorbringens von beiden Gerichten unterschiedlich beurteilt worden ist, wie die Revision meint, also kein Verfahrensfehler im Sinne von § 539 ZPO vorliegt, oder ob der Prozeßstoff nicht ausgeschöpft und entscheidungserheblicher Vortrag übergangen worden ist. Einer Klärung dieser Frage bedarf es indessen nicht.
Das angefochtene Urteil hält nämlich deswegen der rechtlichen Überprüfung nicht stand, weil das Berufungsgericht sein ihm nach §§ 539, 540 ZPO eingeräumtes Ermessen, ob es das nach seiner Beurteilung verfahrensfehlerhafte Urteil aufhebt und die Sache an die Vorinstanz zurückverweist, unrichtig ausgeübt hat und sich von einer unzutreffenden Vorstellung über die ihm nach den §§ 537 ff. ZPO obliegenden Aufgaben hat leiten lassen.
Nach § 537 ZPO setzt das Berufungsverfahren das erstinstanzliche Verfahren fort. Das Berufungsgericht hat deswegen grundsätzlich sowohl in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht über den gesamten Streitstoff ein neues eigenes Urteil zu fällen (BGH, Urt. v. 7. März 1991, LM Nr. 20 zu § 539 a.a.O.). Die für diese eigene Entscheidung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen hat das Berufungsgericht selbst zu treffen. Dies wird in dem Berufungsurteil verkannt, wenn entscheidend darauf abgestellt wird, dem Senat sei die weitere Sachaufklärung einschließlich der zu erhebenden Beweise "nicht zumutbar" (vgl. auch Münchener Kommentar z. ZPO/Rimmelspacher § 539 Rdn. 30), diese Aufgabe obliege vielmehr "vornehmlich" dem Landgericht.
Von dieser verfehlten Sicht der dem Berufungsgericht als Tatsachengericht obliegenden Aufgabe abgesehen, ist auch die im Revisionsrechtszug auf ihre Voraussetzungen und Grenzen zu überprüfende (BGHZ 23, 36, 50 f. [BGH 20.12.1956 - III ZR 97/55]; Münchener Kommentar z. ZPO/Rimmelspacher § 540 Rdn. 9; Zöller/Schneider, 17. Aufl. § 540 Rdn. 8) Ermessensausübung rechtlich unhaltbar. Das Berufungsgericht hat die gebotene Abwägung zwischen der mit einer Zurückverweisung verbundenen Verzögerung und Verteuerung des Verfahrens auf der einen und dem Interesse an der Wahrung des vollen Instanzenzuges auf der anderen Seite vermissen lassen (vgl. Rimmelspacher a.a.O. § 539 Rdn. 28). Es hat insbesondere nicht beachtet, daß bei Erlaß seiner Entscheidung der Rechtsstreit bereits seit mehr als zehn Jahren anhängig war, daß durch das zweimalige Berufungs- sowie das Revisionsverfahren erhebliche Kosten entstanden waren und mit Rücksicht auf die finanzielle Situation der Beklagten die Aussicht für die Klägerin immer geringer wurde, bei Fortdauer des Rechtsstreits ihre Forderung realisieren zu können. Auf der anderen Seite konnte das Berufungsgericht die von der Klärung weniger, gut überschaubarer Fragen abhängige Entscheidungsreife durch Vernehmung der von ihm vorsorglich zum Termin zur mündlichen Verhandlung geladenen - am Tag vor dem Termin jedoch fernmündlich abbestellten - drei Zeugen unschwer herbeiführen, so daß bei einer pflichtgemäßen Prüfung der Sachdienlichkeit eine Zurückverweisung ausschied.
Dr. Hesselberger,
Röhricht,
Stodolkowitz,
Dr. Goette