Bundesgerichtshof
Beschl. v. 26.05.1993, Az.: XII ZB 70/93
Fristlauf; Kostenarmut; Notfristen; Berufung; Prozeßkostenhilfe; Wiedereinsetzung; Beschluß
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 26.05.1993
- Aktenzeichen
- XII ZB 70/93
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1993, 15334
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OLG Schleswig
- LG Kiel
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- FamRZ 1993, 142
- FamRZ 1993, 1428-1429 (Volltext mit red. LS)
Redaktioneller Leitsatz
1. Eine unter Kostenarmut leidende Partei trägt kein Verschulden an der Versäumung der Notfristen im Berufungsverfahren bei Beantragung von Prozeßkostenhilfe vor Ablauf der Berufungsfrist.
2. Der Fristlauf nach § 234 ZPO beginnt für eine unter Kostenarmut leidende Partei erst nach einer Überlegungsfrist, die bis zu vier Tagen gewährt werden kann; entscheidender Zeitpunkt ist daher nicht die Zustellung des die Gewährung von Prozeßkostenhilfe ablehnende Beschluß. Nach Ablauf dieser Frist beginnt der Fristlauf des § 234 ZPO mit dem Zeitpunkt der Behebung des Hindernisses für die Stellung eines Wiedereinsetzungsantrages mit gleichzeitiger Einlegung der Berufung.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt den Beklagten, ihren geschiedenen Ehemann, auf Ausgleich für die jahrelange alleinige Nutzung eines Weidegrundstücks in Anspruch, das den Parteien bis 1988 zu gleichen Teilen gehörte. Nachdem ihr am 20. Dezember 1991 das klageabweisende Urteil des Landgerichts Kiel vom 31. Oktober 1991 zugestellt worden war, beantragte die Klägerin - die seit Februar 1992 Sozialhilfe bezieht - am 20. Januar 1992 Prozeßkostenhilfe für das Berufungsverfahren unter Beiordnung eines beim Oberlandesgericht zugelassenen Prozeßbevollmächtigten. Durch einen der Klägerin am 20. Juli 1992 (Montag) zugestellten Beschluß wies das Oberlandesgericht den Antrag zurück, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. Am 6. August 1992 (Donnerstag) bestellte sich Rechtsanwalt Dr. C. für die Klägerin als Prozeßbevollmächtigter beim Oberlandesgericht, legte Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil ein und beantragte, der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist zu gewähren.
Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen.
II. Die gemäß § 519b Abs. 2 ZPO statthaft und in rechter Form und Frist eingelegte sofortige Beschwerde der Klägerin ist begründet.
Die Klägerin hat zwar die Berufungsfrist von einem Monat (§ 516 ZPO) nicht eingehalten. Diese Frist endete am 20. Januar 1992, durch die erst am 6. August 1992 eingelegte Berufung wurde sie nicht gewahrt. Der Klägerin ist jedoch auf ihren am 6. August 1992 gestellten Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erteilen, denn sie war ohne ihr oder ihrer Prozeßbevollmächtigten Verschulden verhindert, die Notfrist einzuhalten (§§ 233, 85 Abs. 2 ZPO).
1. Das Oberlandesgericht hat die beantragte Wiedereinsetzung versagt, weil sie nicht innerhalb einer Frist von zwei Wochen nach Behebung des Hindernisses beantragt worden sei (§ 234 ZPO). Diese Frist habe mit der Zustellung des die Prozeßkostenhilfe verweigernden Beschlusses am 20. Juli 1992 zu laufen begonnen. Die Auffassung, daß die Frist sich um eine Überlegungszeit von einigen Werktagen verlängere, treffe nicht zu; denn das führe zu einer nicht vertretbaren Unsicherheit über den Fristbeginn; auch bestehe kein Grund für die Besserstellung der armen gegenüber einer Partei, die keinen Antrag auf Prozeßkostenhilfe gestellt habe; entgegenstehender Rechtsprechung und Literatur sei nicht zu folgen.
2. Diesen Ausführungen vermag der Senat nicht zuzustimmen.
a) Zunächst steht der Überprüfung der Entscheidung zur Wiedereinsetzungsfrage nicht entgegen, daß das Oberlandesgericht sie nur in den Gründen des gemäß § 519b Abs. 1 ZPO ergangenen Verwerfungsbeschlusses behandelt hat. Entgegen der Auffassung der sofortigen Beschwerde fehlt es nicht deshalb an einer Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag, weil insoweit ein gesonderter Ausspruch im Beschlußtenor unterblieben ist. Das Gericht kann das Verfahren zwar zunächst auf die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag beschränken; es darf vor einer Erledigung des bereits vorliegenden Wiedereinsetzungsantrages jedoch nicht über die Prozeßhandlung selbst entscheiden (vgl. Senatsbeschluß vom 7. Oktober 1981 - IVb ZB 825/81 - NJW 1982, 887). Das ist hier auch nicht geschehen; vielmehr hat das Oberlandesgericht, der in § 238 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorgesehenen Regel folgend, das Verfahren über den Wiedereinsetzungsantrag mit dem Verfahren über die nachgeholte Prozeßhandlung verbunden.
b) Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts hat die Klägerin die Wiedereinsetzung fristgerecht beantragt. Es trifft zwar zu, daß die Zwei-Wochen-Frist des § 234 Abs. 1 ZPO als gesetzliche Frist nicht durch richterliche. Verfügungen ausgedehnt werden kann. Es geht hier jedoch nicht um eine Fristverlängerung, sondern um die Frage, wann in Fällen der vorliegenden Art. das der Fristwahrung entgegenstehende Hindernis behoben ist und demgemäß die Zwei-Wochen-Frist nach § 234 Abs. 2 ZPO zu laufen beginnt.
Das unverschuldete Hindernis an einer fristgerechten Einlegung der Berufung bestand für die Klägerin zunächst nicht allein in ihrer Bedürftigkeit, sondern darin, daß das Oberlandesgericht über ihr rechtzeitig vor Ablauf der Berufungsfrist gestelltes Prozeßkostenhilfegesuch noch nicht entschieden hatte, denn die Klägerin durfte darauf vertrauen, daß die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die erbetene Prozeßkostenhilfe vorlagen und es gereichte ihr auch nicht zum Verschulden, wenn sie wegen der gegen das Urteil vorgetragenen Angriffe mit einem Erfolg ihres Rechtsmittels rechnete. Mit der Zustellung des die Prozeßkostenhilfe verweigernden Beschlusses entfiel zwar dieses Vertrauen. Gleichwohl begann die Frist des § 234 ZPO nicht sofort zu laufen. Denn in den Fällen, in denen wie hier die Prozeßkostenhilfe wegen mangelnder Erfolgsaussicht verweigert wird, ist die Bedürftigkeit der Partei damit nicht behoben. Die arme Partei muß nunmehr überlegen, ob sie sich mit der Entscheidung, die sie angreifen wollte, doch abfinden will oder ob sie auf eigenes Kostenrisiko - etwa mit Hilfe von Krediten oder unter Einsatz von Mitteln, die sie gemäß § 115 ZPO aufzuwenden nicht verpflichtet ist - das beabsichtigte Rechtsmittel einlegen soll. Sie muß somit Überlegungen anstellen, die eine bemittelte Partei nicht berühren und die auch der armen Partei nicht schon während der Laufzeit des Prozeßkostenhilfegesuches abverlangt werden. Daher entspricht es dem verfassungsrechtlichen Gebot der prozessualen Chancengleichheit von bemittelten und bedürftigen Parteien, wenn letzterer eine wenn auch kurze zusätzliche. Überlegungsfrist zugebilligt wird, ehe die Frist des § 234 Abs. 1 ZPO zu laufen beginnt. Auf diesen Grundsätzen beruht die ständige, auch vom erkennenden Senat geteilte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der eine solche Überlegungsfrist von bis zu vier Werktagen zuzubilligen ist (seit BGHZ 4, 55, 57; vgl. die weiteren Nachweise in den Senatsbeschlüssen vom 28. November 1984 - IVb ZB 119/84 - FamRZ 1985, 370 , vom 9. Januar 1985 - IVb ZB 142/84 - EzFamR Nr. 1. zu § 234 ZPO und vom 8. November 1989 - IVb ZB 110/89 - FamRZ 1990, 279, 280). Daran ist weiter festzuhalten mit der Folge, daß die Zwei-Wochen-Frist des § 234 Abs. 1 ZPO hier nicht vor dem 23. Juli 1992 begonnen hat und der am 6. August 1992 gestellte Wiedereinsetzungsantrag noch fristgerecht war.
c) Es kommt danach nicht mehr auf die Frage an, ob der Klägerin nicht für den Fall, daß sie die Frist des § 234 Abs. 1 ZPO versäumt hätte, die Wiedereinsetzung in diese Frist auch ohne förmlichen Antrag (§ 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO) hätte gewährt werden müssen, weil sie unverschuldet auf die weitere Anwendung einer ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vertraut hat.
3. Wegen der Kosten der Wiedereinsetzung wird auf § 238 Abs. 4 ZPO hingewiesen.