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Bundesgerichtshof
Urt. v. 14.03.1990, Az.: XII ZR 56/89

Mehrverkehrszeugen; Biostatische Methode; Vaterschaftswahrscheinlichkeit

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
14.03.1990
Aktenzeichen
XII ZR 56/89
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1990, 14042
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Fundstellen

  • FamRZ 1990, 615-616 (Volltext mit amtl. LS)
  • MDR 1990, 919 (Volltext mit amtl. LS)
  • NJW 1990, 2312-2313 (Volltext mit amtl. LS)
  • NJW 1990, 2312-2313 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

Zur Frage, ob (weitere) Mehrverkehrszeugen, die als Vater (noch) nicht ausgeschlossen sind, in die Begutachtung nach biostatistischen Methoden einbezogen werden müssen, wenn ein bereits erholtes Gutachten eine hohe Vaterschaftswahrscheinlichkeit (hier: 99,94 bis 99,95 %) für den Beklagten ergibt.

Tatbestand:

1

Der Kläger wurde am 8. August 1986 nichtehelich geboren. Er nimmt den Beklagten auf Feststellung der Vaterschaft und Zahlung des Regelunterhalts in Anspruch. Zur Begründung hat er geltend gemacht, der Beklagte habe der Mutter des Klägers während der gesetzlichen Empfängniszeit (10. Oktober 1985 bis 8. Februar 1986) wiederholt beigewohnt und sei sein Erzeuger. Daran ändere nichts, daß seine Mutter in der genannten Zeit auch einmal mit Detlef E. Geschlechtsverkehr gehabt habe.

2

Das Amtsgericht hat die Mutter des Klägers und Detlef E. als Zeugen vernommen und Blutgruppengutachten, ein HLA-Gutachten sowie ein biostatistisches Gutachten nebst Zusatzgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. eingeholt. Aufgrund dieser Beweisaufnahme hat es der Klage stattgegeben. Mit seiner Berufung hat der Beklagte insbesondere beanstandet, daß Detlef E. und ein weiterer, von der Kindesmutter genannter Mann namens Klaus K. nicht als Mehrverkehrer in die Gutachten einbezogen worden sind, und hat eine entsprechende Ergänzung der Gutachten beantragt. Das Oberlandesgericht ist dem nicht gefolgt, sondern hat die Berufung ohne weitere Beweisaufnahme zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Aufhebung des Berufungsurteils und die Abweisung der Klage.

Entscheidungsgründe

3

1. Das Berufungsgericht hat den Beklagten gemäß § 1600 o Abs. 1 BGB als Vater des Klägers festgestellt und dazu ausgeführt: Die eingeholten Gutachten, nach denen der Beklagte aufgrund der serologischen Befunde als Erzeuger des Klägers nicht auszuschließen sei und die biostatistische Auswertung der Befunde im Normgutachten und im HLA-System eine Vaterschaftswahrscheinlichkeit des Beklagten von 99, 94 bis 99, 95% ergebe, ermöglichten eine Vaterschaftsfeststellung nach § 1600 o Abs. 1 BGB; denn damit sei die Abstammung voll, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, bewiesen. Die naturwissenschaftliche Hypothese, daß ab einem Wahrscheinlichkeitswert von 99,73% die Vaterschaft "praktisch erwiesen" sei, stelle einen Erfahrungssatz mit absolutem Beweiswert dar. Bei dem hohen Wert, der hier ermittelt worden sei, sei sicher, daß unter den für die Empfängniszeit als Geschlechtsverkehrspartner der Kindesmutter in Betracht kommenden Männern mit dem Beklagten der wirkliche Vater des Klägers ermittelt worden sei. Es stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, daß eine Blutuntersuchung bei Detlef E. und Klaus K., wie sie der Beklagte fordere, nicht zur Feststellung der für den Kindeserzeuger unerläßlichen Blutmerkmale, sondern zum Ausschluß dieser Männer als Erzeuger des Klägers führen werde. Unter diesen Umständen habe kein Anlaß bestanden, die Beweisaufnahme fortzusetzen, weil dadurch nur unnötige zusätzliche Kosten entständen, die den Beklagten träfen.

4

2. Hiergegen wendet sich die Revision, die Unvollständigkeit der Beweisaufnahme und Vorwegnahme der Beweiswürdigung rügt, zu Recht.

5

a) Das in Kindschaftssachen geltende Amtsermittlungsprinzip (§§ 640, 616 Abs. 1 ZPO) verpflichtet das Gericht, alle Beweise zu erheben, die zur möglichst sicheren Klärung der Vaterschaft des in Anspruch genommenen Mannes führen. Dabei ist es allerdings nicht gehalten, alle nur irgendwie denkbaren Beweismöglichkeiten auszuschöpfen, sondern braucht die Ermittlungen nur solange fortzuführen, bis es die volle Überzeugung von der Vaterschaft des Mannes erlangt hat. Um diese Überzeugung gewinnen zu können, muß das Gericht alle zur Verfügung stehenden, eine weitere Aufklärung versprechenden Beweise erheben (ständige Rechtsprechung des BGH, vgl. zuletzt Senatsurteil vom 13. Juli 1988 - IVb ZR 77/87 - BGHR § 1600 o Abs. 1 BGB, Gerichtliches Verfahren 1 = FamRZ 1988, 1037, 1038 m.w.N.).

6

Dieser Pflicht ist das Berufungsgericht nicht in der gebotenen Weise nachgekommen. Seine Annahme, aufgrund der von dem Sachverständigen Prof. Dr. S. errechneten Wahrscheinlichkeit sei die Vaterschaft des Beklagten erwiesen und eine weitere Beweisaufnahme nicht veranlaßt, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

7

Der Beklagte hat vorgetragen, die Mutter des Klägers habe in der gesetzlichen Empfängniszeit außer mit ihm auch mit den Zeugen Thomas B. und Detlef E. sowie mit Klaus K. Geschlechtsverkehr gehabt. Den Geschlechtsverkehr mit B. und E. hat die Kindesmutter bei ihrer Vernehmung eingeräumt. Sie hat ferner bekundet, daß sie im Februar 1986, als sie bereits schwanger gewesen sei, geschlechtliche Beziehungen zu Klaus K. aufgenommen habe, die möglicherweise noch in der bis 8. Februar 1986 dauernden gesetzlichen Empfängniszeit begonnen hätten. Über die Richtigkeit dieser Angaben, insbesondere darüber, daß die Schwangerschaft der Kindesmutter bei Beginn ihrer geschlechtlichen Beziehungen zu K. bereits bestanden habe, hat das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen. Damit ist für die Revisionsinstanz davon auszugehen, daß die Kindesmutter in der einrechnungsfähigen Zeit außer mit dem Beklagten und mit B., der durch ein Blutgruppengutachten als Vater ausgeschlossen worden ist, auch mit E. und K. geschlechtlich verkehrt hat und die beiden letztgenannten an sich als Vater des Klägers in Betracht kommen.

8

Dem vom Amtsgericht erholten Gutachten läßt sich nicht entnehmen, daß es den Mehrverkehr der Kindesmutter mit den genannten, serologisch (bisher) nicht ausgeschlossenen Zeugen bei der biostatistischen Auswertung berücksichtigt hat. Das Amtsgericht hat in seinem Auftrag an den Sachverständigen nicht mitgeteilt, daß dieser von einem entsprechenden "Mehrmannfall" ausgehen solle. Es hat ihm lediglich aufgetragen, nach der Untersuchung des Beklagten außer dem - später ausgeschlossenen - B. auch den Zeugen E. serologisch zu begutachten und, falls er als Vater nicht ausgeschlossen sei, die bei ihm erhobenen Befunde auch biostatistisch auszuwerten. Insoweit ist der Gutachtensauftrag jedoch nicht ausgeführt worden. Von Klaus K. ist in dem Gutachtensauftrag nirgends die Rede. Das Gutachten selbst enthält über die Berücksichtigung des genannten Mehrverkehrs keine Ausführungen. In einem beigefügten "Merkblatt über statistische Gutachten" heißt es lediglich allgemein, Grundlage der Berechnungen sei die Merkmalsverteilung in der Bevölkerung; hilfsweise werde unterstellt, daß Väter und Nichtväter im Untersuchungsgut im Verhältnis 50: 50 vorkämen, eine Voraussetzung, die weder allgemein noch im Einzelfall exakt zutreffen könne.

9

Unter diesen Umständen ist der Wahrscheinlichkeitswert, zu dem das Gutachten für die Vaterschaft des Beklagten gelangt, möglicherweise zu hoch; denn es ist nicht auszuschließen, daß der Mehrverkehr mit E. und K. Auswirkungen auf den Rechenansatz, insbesondere die a-priori-Wahrscheinlichkeit, und damit auf das Ergebnis der biostatistischen Auswertung hat (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 1982 - IX ZR 38/81 - FamRZ 1982, 691, 692 m.w.N., insbesondere Spielmann/Seidel NJW 1973, 2228, 2232 f.;  1978, 2333, 2334;  1980, 1322 [BVerfG 06.02.1980 - 2 BvR 1070/79];  ferner BGB-RGRK/Böckermann, 12. Aufl. Rdn. 46 f. vor § 1591). Damit ist die Grundlage der tatrichterlichen Beurteilung in Frage gestellt, die Vaterschaft des Beklagten sei aufgrund des anzunehmenden Wahrscheinlichkeitswertes voll bewiesen. Der Senat ist nicht in der Lage zu beurteilen, wie hoch der Wert unter Berücksichtigung des Mehrverkehrs der Kindesmutter unbedenklich angenommen werden kann und ob dieser Wert ausreicht, um einen positiven Vaterschaftsbeweis, wie er an sich bei hoher Wahrscheinlichkeit in Betracht kommen kann (vgl. Senatsurteil vom 18. März 1987 - IVb ZR 21/86 - BGHR aaO. Amtsermittlung 1 = FamRZ 1987, 583, 584), als geführt anzusehen.

10

b) Der festgestellte Wahrscheinlichkeitswert für eine Vaterschaft des Beklagten gestattete es dem Berufungsgericht auch deswegen nicht, von einer weiteren Beweisaufnahme abzusehen, weil der Beklagte formelle Beweisanträge auf Einbeziehung der Mehrverkehrer E. und K. in die Gutachten gestellt hat, und diese Anträge, wie die Revision mit Recht rügt, aufgrund einer unzulässigen vorweggenommenen Würdigung nicht erhobener Beweise abgelehnt worden sind.

11

Mit dem bereits erwähnten Urteil vom 13. Juli 1988 hat der Senat entschieden, daß ein Beweisantrag auf Vernehmung von Zeugen, die für einen Mehrverkehr der Kindesmutter benannt sind, grundsätzlich nicht mit der Begründung zurückgewiesen werden darf, die Vaterschaft des beklagten Mannes sei aufgrund hoher biostatistischer Wahrscheinlichkeit, die im dort entschiedenen Fall 99,9996% betrug, bereits bewiesen. Er hat ausgeführt, die Benennung eines Mehrverkehrszeugen sei in aller Regel nicht schon deshalb ein völlig ungeeignetes Beweismittel im Sinne der entsprechend anzuwendenden Vorschrift des § 244 StPO, weil das bereits vorliegende biostatistische Wahrscheinlichkeitsgutachten eine hohe Plausibilität für den in Anspruch genommenen Mann ergebe; die Vernehmung könne deshalb nicht abgelehnt werden. Anders als der Ausschluß der Vaterschaft durch ein serologisches Gutachten lasse sich der positive Nachweis der Vaterschaft eines bestimmten Mannes mit biostatistischen Methoden nur aufgrund einer Wahrscheinlichkeitsrechnung führen, die die - wenn auch unter Umständen äußerst geringe - Möglichkeit einer anderen Abstammung des Kindes nicht völlig ausschließen könne. Deshalb könnten andere Beweismittel, die ihrer Art nach generell geeignet seien, Erkenntnisse für die Klärung der Vaterschaft zu vermitteln, nicht von vornherein als untauglich abgelehnt werden.

12

Das gilt auch für einen Antrag auf serologische Untersuchung eines nicht ausgeschlossenen Mehrverkehrszeugen und biostatistische Auswertung der Befunde zur Feststellung, ob sich für den Zeugen eine derartige Vaterschaftswahrscheinlichkeit ergibt, daß die Vaterschaft des in Anspruch genommenen Mannes in Zweifel gezogen wird. Ein solches Beweismittel kann auch bei hohem Wahrscheinlichkeitswert für den in Anspruch Genommenen in der Regel nicht als völlig ungeeignet angesehen werden (vgl. auch Schlosser FamRZ 1976, 6, 10). Die Ansicht des Kammergerichts, bei einem Plausibilitätswert von mehr als 99,73% könne sich für einen Mehrverkehrer nur ein serologischer Ausschluß als Erzeuger des Kindes ergeben, trifft nicht zu. Im Schrifttum wird sogar von Fällen berichtet, in denen zwei Eventual-Väter isolierte Wahrscheinlichkeitswerte von über 99,73% erreicht haben (vgl. BGB-RGRK/Böckermann aaO. Rdn. 51 m.w.N.).

13

Hiernach durfte das Berufungsgericht die auf Einholung eines weiteren (ergänzenden) biostatistischen Gutachtens gerichteten Beweisanträge des Beklagten nicht mit der Begründung zurückweisen, das Gegenteil der zu beweisenden Behauptung stehe bereits aufgrund erhobener Beweise fest.

14

Das angefochtene Urteil kann daher mit der bisherigen Begründung nicht bestehenbleiben. Vielmehr ist es aufzuheben und die Sache an das Kammergericht zurückzuverweisen.