Bundesgerichtshof
Beschl. v. 12.10.1989, Az.: VII ZB 4/89
Einführung in den Sach- und Streitstand durch den Vorsitzenden nach Eröffnung der Verhandlung; Rücknahme des Rechtsmittels durch den Berufungskläger noch vor Stellung der Anträge; Verlust der Wirkung der Anschlussberufung des Gegners durch Rücknahme des Rechtsmittels durch den Berufungskläger; Statthaftigkeit der Beschwerde gegen den die Verhandlungsleitung des Vorsitzenden billigenden Gerichtsbeschluss gemäß § 140 Zivilprozessordnung (ZPO); Statthaftigkeit der Beschwerde gegen einen Beschluss gemäß § 515 Abs. 3 Zivilprozessordnung (ZPO)
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 12.10.1989
- Aktenzeichen
- VII ZB 4/89
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1989, 15108
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- OLG München - 26.09.1988
- LG München I
Rechtsgrundlagen
Fundstellen
- AnwBl 1990, 169-170 (Volltext mit amtl. LS)
- MDR 1990, 144-145 (Volltext mit amtl. LS)
- NJW 1990, 840-841 (Volltext mit amtl. LS)
- VersR 1990, 325-326 (Volltext mit amtl. LS)
- WM 1990, 40-41 (Volltext mit amtl. LS)
Prozessführer
1. Geschäftsführer Karl D., R.-P.-Straße 24, M.
2. Betriebsleiterin Ingrid D., ebenda
Prozessgegner
Firma D. D. B. GmbH & Co.,
vertreten durch ihre persönlich haftende Gesellschafterin, die Firma D. D. G. GmbH,
diese vertreten durch den Geschäftsführer Dr. Edgar H., R.straße 1, M.
Amtlicher Leitsatz
Führt der Vorsitzende nach Eröffnung der Verhandlung zunächst in den Sach- und Streitstand ein und nimmt daraufhin der Berufungskläger noch vor Stellung der Anträge sein Rechtsmittel zurück, wodurch die Anschlußberufung des Gegners ihre Wirkung verliert, so ist weder gegen den die Verhandlungsleitung des Vorsitzenden billigenden, gem. § 140 ZPO ergangenen Gerichtsbeschluß noch gegen den nachfolgenden Beschluß gem. § 515 Abs. 3 ZPO Beschwerde statthaft (im Anschluß an BGH NJW 1986, 852).
In dem Rechtsstreit
hat der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs
durch
den Vorsitzenden Richter Dr. Girisch sowie
die Richter Prof. Quack, Dr. Thode, Dr. Haß und
Hausmann
am 12. Oktober 1989
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Beschlüsse des 28. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 26. September 1988 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagten haben die Kosten der Beschwerde zu tragen.
Beschwerdewert: 28.040,41 DM
Gründe
I.
Die Klägerin hatte von den Beklagten aus einem Treuhandverhältnis 52.872,09 DM zuzüglich Zinsen gefordert. Das Landgericht hat der Klage in Höhe von 28.040,41 DM nebst Zinsen stattgegeben und sie im übrigen abgewiesen. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien rechtzeitig Berufung eingelegt. Die Beklagten haben ihr Rechtsmittel jedoch nicht fristgerecht begründet. Sie haben ihre (Haupt-)Berufung zurückgenommen und sich dem Rechtsmittel der Klägerin angeschlossen mit dem Antrag, das landgerichtliche Urteil abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht hat der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten unmittelbar nach Aufruf der Sache verlangt, seinen Antrag aus der Anschlußberufungsbegründung zu verlesen. Der Vorsitzende des Berufungsgerichts hat ihm dies nicht gestattet mit dem Hinweis, die Zivilprozeßordnung sähe jetzt zunächst eine Einführung in den Sach- und Streitstand sowie einen Güteversuch vor.
Die gegen die Verhandlungsführung des Vorsitzenden gerichtete Beanstandung hat das Berufungsgericht durch sogleich verkündeten Beschluß zurückgewiesen. Sodann hat der Vorsitzende in den Sach- und Streitstand eingeführt und dabei der Klägerin die Rücknahme ihrer Berufung empfohlen. Die Klägerin ist dem gefolgt und hat ihr Rechtsmittel zurückgenommen. Auf Antrag der Beklagten hat das Berufungsgericht sodann beschlossen, die Klägerin sei des Rechtsmittels der Berufung verlustig und habe die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der durch die Anschließung der Beklagten entstandenen Kosten zu tragen.
Gegen diese in der mündlichen Verhandlung vom 26. September 1988 verkündeten Beschlüsse richtet sich das Rechtsmittel der Beklagten vom 10. Oktober 1988, das sie als "sofortige Beschwerde" bezeichnen und mit dem sie eine Entscheidung über ihre Anschlußberufung in der Sache verfolgen.
Sie sind der Ansicht, ihr Rechtsmittel sei zulässig. Die angefochtenen Beschlüsse hätten im Ergebnis die gleichen Rechtsfolgen wie die Verwerfung der Anschlußberufung als unzulässig: \ beiden Fällen werde der Anschlußberufung die Entscheidung in der Sache versagt. Die Verwerfung der Anschlußberufung ihrerseits unterliege indessen gemäß §§ 522 a Abs. 3, 519 b Abs. 2, 567 Abs. 3 Satz 2, 547 ZPO der sofortigen Beschwerde. Deshalb müßten solche Entscheidungen, die die gleiche prozessuale Wirkung wie die Verwerfung der Anschlußberufung hätten, ebenfalls einer rechtlichen Überprüfung zugänglich sein.
In der Sache machen die Beklagten geltend, die Verhandlungsführung durch den Vorsitzenden des Berufungsgerichts sei fehlerhaft gewesen und habe ihr Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzt. Das Berufungsgericht sei gehalten gewesen, ihren Antrag aus der Anschlußberufungsbegründungsschrift unmittelbar nach Aufruf der Sache und auch noch vor der Antragstellung der (Haupt-)Berufungsführerin entgegenzunehmen.
II.
Das Rechtsmittel ist unzulässig.
Eine Beschwerde findet weder gegen den die Verhandlungsleitung des Vorsitzenden billigenden Beschluß gemäß § 140 ZPO noch gegen den Verlustigkeits- und Kostenbeschluß gemäß § 515 Abs. 3 ZPO statt.
1.
Der Beschluß, durch den das Berufungsgericht die Verhandlungsleitung seines Vorsitzenden gebilligt hat, ist einer Anfechtung entzogen. Eine gegen ihn gerichtete Beschwerde unterliegt den Beschränkungen nach § 567 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 ZPO und ist deshalb nicht statthaft.
a)
Nach § 567 Abs. 1 ZPO ist eine Beschwerde - abgesehen von den Fällen, in denen die Zivilprozeßordnung die Beschwerde ausdrücklich zuläßt - nur statthaft, wenn die angefochtene Maßnahme ohne notwendige mündliche Verhandlung ergangen ist. Bereits daran fehlt es im vorliegenden Fall. Das Berufungsgericht hat über die Verhandlungsleitung seines Vorsitzenden prozessual richtig aufgrund notwendiger mündlicher Verhandlung entschieden (§ 140 ZPO). Eine Beschwerde gegen diese Entscheidung findet schon deshalb nicht statt.
b)
Unabhängig davon unterliegen Entscheidungen der Oberlandesgerichte grundsätzlich nicht der Beschwerde (§ 567 Abs. 3 Satz 1 ZPO). Eine Durchbrechung dieses Grundsatzes sieht das Gesetz für eine Entscheidung nach § 140 ZPO nicht vor; denn die Billigung der Verhandlungsleitung gemäß § 140 ZPO gehört nicht zu den in § 567 Abs. 3 Satz 2 ZPO im einzelnen aufgeführten Vorschriften, nach denen eine Beschwerde ausnahmsweise statthaft ist.
c)
Auch die sog. außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit ist gegen den angefochtenen Beschluß nicht gegeben. Ein nach gesetzlichen Vorschriften unanfechtbarer Beschluß unterliegt ausnahmsweise dann der Beschwerde, wenn die angefochtene Entscheidung jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und inhaltlich dem Gesetz fremd ist. Die Möglichkeit, eine nach geltendem Recht unanfechtbare Entscheidung gleichwohl mit einem Rechtsmittel anzugreifen, ist jedoch auf die Ausnahmefälle des greifbaren Gesetzesverstoßes beschränkt, in denen es darum geht, eine Entscheidung zu beseitigen, die mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist (BGHZ 28, 349, 350, 351; BGH NJW 1988, 49, 51; Beschluß vom 1. Oktober 1985 - VI ZB 13/85 = LM ZPO § 567 Nr. 18 = WM 1986, 178).
Die Nichtbeachtung wesentlicher Verfahrensvorschriften allein rechtfertigt noch nicht die außerordentliche Anfechtung solcher Entscheidungen, die nach der gesetzlichen Regelung keinem Rechtsmittel unterliegen (BGH Beschluß vom 4. Dezember 1974 - VIII ZB 30/74 = VersR 1975, 343, 344). Ob die Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör eine weitere Instanz eröffnet und die außerordentliche Beschwerde rechtfertigen kann (verneinend BGHZ 43, 12; BGH Beschlüsse vom 1. Oktober 1985 aaO; vom 16. April 1986 - IVb ZB 14/86 = NJW-RR 1986, 1263 [BGH 16.04.1986 - IVb ZB 14/86]; BayObLG NJW 1988, 72; bejahend OLG Schleswig NJW 1988, 67 [OLG Schleswig 11.06.1987 - 14 U 20/86] und 69), kann offenbleiben. Der angegriffene Nichtbeanstandungsbeschluß ist frei von Verfahrensfehlern und verletzt nicht das Grundrecht der Beklagten auf rechtliches Gehör.
d)
Nach Eröffnung der Verhandlung (§ 136 Abs. 1 ZPO) bestimmt sich deren Ablauf von Fall zu Fall danach, was der Vorsitzende nach pflichtgemäßem Ermessen für sachdienlich hält. In Ausübung dieses Ermessens war der Vorsitzende des Berufungsgerichts nicht gehalten, unmittelbar nach Aufruf der Sache dem Prozeßbevollmächtigten der Beklagten das Wort zur Verlesung seines Antrags aus der Anschlußberufungsschrift zu erteilen. Der Termin zur mündlichen Verhandlung muß nicht stets mit der Antragstellung beginnen (§ 137 Abs. 1 ZPO). Vielmehr können zunächst eine Einführung in den Sach- und Streitstand sowie ein Güteversuch angebracht sein, ohne daß das Gesetz hierfür eine zeitliche Reihenfolge vorsieht (BGHZ 100, 383, 389 [BGH 06.05.1987 - IVb ZR 51/86]; Stein/Jonas/Leipold ZPO 20. Auflage, § 137 Rdn. 2 m.w.N.). Davon unabhängig war aber bei fehlerfreier Verfahrensweise ohnehin erst dem Prozeßbevollmächtigten der Berufungsklägerin das Wort zu erteilen, bevor dem Prozeßbevollmächtigten der Gegner Gelegenheit zur Antragstellung gegeben werden mußte. Der Gegenstand des Berufungsverfahrens wird nämlich vorrangig durch den Berufungsführer bestimmt, der durch seinen Antrag die Grenzen des Streitstoffes absteckt.
An dieser als allein sachdienlich gebotenen Reihenfolge, die sich aus der Stellung der Parteien im Berufungsverfahren ergibt, ändert der Umstand nichts, daß die Beklagten sich dem Rechtsmittel der Klägerin angeschlossen hatten. Die unselbständige Anschlußberufung ist kein Rechtsmittel. Bei ihr handelt es sich um ein Angriffsmittel innerhalb eines vom Berufungskläger eingelegten Rechtsmittels. Sie eröffnet die Möglichkeit im Rahmen der fremden Berufung auch einen angriffsweise wirkenden Antrag zu stellen (Senatsurteil BGHZ 83, 371, 376/377 m.w.N.). Solange aber die Berufungsführerin ihren Berufungsantrag noch nicht gestellt und damit die Grenzen des Berufungsverfahrens noch nicht festgelegt hatte, war das Berufungsgericht nicht verpflichtet, den insoweit nachrangigen Antrag der Berufungsbeklagten und Anschlußberufungsführer entgegenzunehmen.
2.
Die gegen den Verlustigkeits- und Kostenbeschluß gerichtete Beschwerde ist ebenfalls unzulässig.
a)
Sie ist durch § 515 Abs. 3 Satz 3 zweiter Halbsatz ZPO und § 567 Abs. 3 ZPO ausgeschlossen.
b)
Für die Zulassung einer sog. außerordentlichen Beschwerde besteht hier ebenfalls kein Raum; auch dieser Beschluß des Berufungsgerichts ist frei von Verfahrensmängeln ergangen. Die Berufungsrücknahme war wirksam. Nach dem Wiedereintritt in die Sitzung hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin sofort die Rücknahme des Rechtsmittels erklärt, ohne daß er seinen Berufungsantrag bereits verlesen hatte. Die mündliche Verhandlung über seine Berufung hatte daher noch nicht begonnen (vgl. BGHZ 100, 383, 389) [BGH 06.05.1987 - IVb ZR 51/86]. In dieser Verfahrenslage konnte die Klägerin noch ohne Zustimmung ihrer Prozeßgegner ihre Berufung zurücknehmen.
c)
Die Statthaftigkeit der (sofortigen) Beschwerde folgt auch nicht aus den §§ 567 Abs. 3 Satz 2, 522 a Abs. 3, 519 b Abs. 2, 547. Der Anfechtbarkeit steht zwar nicht entgegen, daß der angefochtene Beschluß in der Entscheidungsformel die Wirkungslosigkeit der Anschlußberufung nicht ausdrücklich ausspricht. Entscheidend ist allein seine Auswirkung in der Sache (BGH NJW 1986, 852).
Die Durchbrechung der grundsätzlichen Unanfechtbarkeit der vom Oberlandesgericht getroffenen Entscheidung setzt aber voraus, daß dieses Gericht die Anschlußberufung ohne gesetzliche Grundlage für wirkungslos erachtet hat, mithin die Voraussetzung des § 522 Abs. 1 ZPO nicht gegeben sind, so daß die Entscheidung des Berufungsgerichts konstitutiver Natur ist. Spricht dagegen das Berufungsgericht die Unwirksamkeit einer unselbständigen Anschlußberufung aus, bei der diese Rechtsfolge kraft Gesetzes eingetreten ist, so wirkt dieser Ausspruch nur deklaratorisch. Liegen die Voraussetzungen des § 522 Abs. 1 ZPO vor, so findet gegen die Feststellung der Unwirksamkeit der Anschlußberufung kein Rechtsmittel statt (BGH aaO; Beschluß vom 25. März 1981 - IVb ZB 824/80 = FamRZ 1981, 657).
Das Berufungsgericht hat die Anschlußberufung nicht durch eine konstitutive Entscheidung als unzulässig verworfen. Es hat lediglich die Rechtsfolge festgestellt, die nach § 522 Abs. 1 ZPO schon kraft Gesetzes bei Rücknahme der Hauptberufung eintritt. Mit Wirksamkeit der Berufungsrücknahme erlischt von Gesetzes wegen die durch die unselbständige Anschließung herbeigeführte Befugnis, in einem Berufungsverfahren durch Anträge die Grenzen zu bestimmen, in denen der Rechtsstreit im zweiten Rechtszug neu zu verhandeln ist. Die lediglich deklaratorische Feststellung dieser Rechtsfolge unterliegt keiner Anfechtung.
III.
Die Beschwerde der Beklagten ist nach alledem mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen.
Streitwertbeschluss:
Beschwerdewert: 28.040,41 DM
Quack
Thode
Haß
Hausmann