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Bundesgerichtshof
Urt. v. 17.02.1988, Az.: IVa ZR 277/86

Verursachung eines tödlichen Sturzes eines Versicherten durch einen Schlaganfall; Zusammenhang einer intercerebralen Massenblutung mit einer traumatisch ausgelösten Schädel-Hirnverletzung; Zusammentreffen einer intercerebralen Massenblutung mit einer traumatisch ausgelösten Schädel-Hirnverletzung; Regeln des Strengbeweises; Regeln des Anscheinsbeweises

Bibliographie

Gericht
BGH
Datum
17.02.1988
Aktenzeichen
IVa ZR 277/86
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1988, 13406
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
OLG Koblenz - 14.07.1986

Fundstelle

  • NJW-RR 1988, 789-790 (Volltext mit red. LS)

Amtlicher Leitsatz

Ist es zweifelhaft, ob ein Versicherter stürzte und sich dadurch eine Gehirnblutung zuzog, oder ob er aufgrund einer Gehirnblutung gestürzt ist, dann genügt es noch nicht, daß eine dieser Möglichkeiten wahrscheinlicher ist als die andere, um einen Anscheinsbeweis anzunehmen.

Der IVa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat
durch
den Vorsitzenden Richter Dr. Hoegen und
die Richter Rottmüller, Dehner, Dr. Ritter und Dr. v. Ungern-Sternberg
auf die mündliche Verhandlung vom 17. Februar 1988
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin zu 1) wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 14. Juli 1986 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als auch die Klage der Klägerin zu 1. abgewiesen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird der Rechtsstreit zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Ehemann der Klägerin zu 1) (im folgenden als "Versicherter" bezeichnet) war bei der Beklagten unfallversichert, und zwar mit einer Summe von 50.000 DM. Dem Versicherungsvertrag lagen die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB) zugrunde. Als bezugsberechtigt ist im Versicherungsschein entsprechend der Erklärung des Versicherten im Antrag die Ehefrau, die Klägerin zu 1), bezeichnet. Der Versicherte suchte am 12. Mai 1983 während eines Aufenthalts in einer Gaststätte in Rüdesheim-Aufhausen die Toilette auf. Dort stürzte er und zog sich dabei schwere Schädel-Hirn-Verletzungen zu. Im Krankenhaus in Rüdesheim wurde er zunächst vorläufig ärztlich versorgt und sodann am 13. Mai 1983 in die Neuro-Chirurgische Universitätsklinik in Mainz verlegt. Dort verstarb er am 23. Mai 1983. Bei der anschließenden Obduktion wurden zwei voneinander unabhängige Blutungsherde festgestellt, und zwar ein durch die Schädel-Hirnverletzungen infolge des Sturzes verursachter und ein durch eine intercerebrale Massenblutung infolge eines Schlaganfalls hervorgerufener.

2

Die Klägerin zu 1) als Ehefrau sowie die Kläger zu 2) und 3) als Kinder des Versicherten sind dessen Erben. Sie haben die Beklagte, die Versicherungsleistungen verweigert hat, auf Zahlung der Versicherungssumme in Höhe von 50.000 DM mit der Behauptung in Anspruch genommen, der Versicherte sei an den Folgen des Sturzes aus ungeklärter Ursache, eines Unfalles im Sinne der AUB, verstorben. Der Sturz sei nicht die Folge eines Schlaganfalles gewesen und der Versicherte sei auch nicht wegen Trunkenheit bewußtseinsgestört gewesen und dadurch zu Fall gekommen.

3

Die Beklagte hat vorgetragen:

4

Nach den Feststellungen der Universitätsklinik in Mainz bei der Obduktion sei gesichert, daß der Versicherte infolge eines Schlaganfalles auf der Toilette gestürzt sei und hierdurch den zu seinem Tode führenden Schaden davongetragen habe. Eine andere Ursache für den Sturz des Versicherten als der Schlaganfall sei ausgeschlossen. Es spreche daher ein Anscheinsbeweis dafür, daß der Sturz des Versicherten die Folge eines Schlaganfalles gewesen sei. Im übrigen habe der Versicherte mindestens acht große Glas Wein getrunken, was einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,6 bis 1,7 Promille entspreche. Die Bewußtseinsbeeinträchtigung durch Trunkenheit sei mindestens mitursächlich für den Sturz gewesen. Die Beklagte sei daher nach § 3 Abs. 4 AUB leistungsfrei.

5

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat sie abgewiesen. Da es die Abweisung der Klage hinsichtlich der Kläger zu 2) und 3) damit begründet hat, diese seien nicht aktivlegitimiert, weil die Klägerin zu 1) in dem Versicherungsschein als alleinige Bezugsberechtigte genannt ist, hat die Klägerin zu 1) allein Revision eingelegt, mit der sie ihre Klageforderung weiter verfolgt.

Entscheidungsgründe

6

Die Revision führt hinsichtlich der Klägerin zu 1) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.

7

Hinsichtlich der Klage der Klägerin zu 1) hat das Berufungsgericht ausgeführt, sie sei unbegründet, weil sich die Beklagte zu Recht auf den Ausschlußtatbestand nach § 3 Abs. 4 AUB berufe. Sie habe durch das Gutachten des Sachverständigen Dr. M. nachgewiesen, daß der tödliche Sturz des Versicherten durch einen Schlaganfall - intercerebrale Massenblutung im Zentrum der linken Gehirnhälfe infolge einer Gefäßruptur - verursacht worden sei. Zwar habe der Sachverständige nicht mit letzter Sicherheit feststellen können, ob der Versicherte infolge des Schlaganfalls gestürzt sei. Jedoch sprächen nach seinen Ausführungen die bei der Obduktion festgestellten Tatsachen aufgrund allgemein-medizinischer und speziell neurochirurgischer Erfahrung mit hohem Wahrscheinlichkeitsgrad für die Verursachung des Sturzes durch den Schlaganfall. Der Sachverständige habe glaubwürdig und einleuchtend dargelegt, daß es praktisch ausgeschlossen sei, daß die ausgedehnten traumatischen Schäden der Schädeldecke und die dadurch hervorgerufenen Blutungen erst die intercerebrale Massenblutung im Gehirn ausgelöst hätten. Aus medizinischer Erfahrung sei nach den Obduktionsbefunden niemals an ein Zusammentreffen und an einen Zusammenhang der intercerebralen Massenblutung, wie sie hier festgestellt worden sei, mit der traumatisch ausgelösten Schädel-Hirnverletzung zu denken. Ein solches zeitliches Zusammentreffen sei, so habe der Sachverständige weiter erläutert und eindeutig erklärt, nur eine theoretische Möglichkeit. Hierin stimme er mit der Stellungnahme von Dr. B. überein, wonach eine gleichzeitig mit der durch das Trauma hervorgerufenen Blutung auftretende, in der Tiefe des Gehirns gelegene intercerebrale Massenblutung aus traumatischer Genese als sehr unwahrscheinlich und der neuropathologischen Erfahrung widersprechend ausscheide. Eine derartige Massenblutung traumatischer Genese habe weder Dr. B., noch, nach seiner Bekundung vor dem Senat, der auf 30-jährige Berufserfahrung als Neurochirurg beim Bundeswehrkrankenhaus Koblenz zurückblickende Dr. M. jemals beobachtet. Sie seien den beiden Medizinern auch nicht aus Erfahrungsberichten bekannt. Erst recht hielten beide Sachverständige die Entstehung der intercerebralen Massenblutung sekundär nach dem Unfallgeschehen im Verlauf der posttraumatischen Phase für extrem unwahrscheinlich und den Erfahrungen widersprechend. Als wahrscheinlichster typischer Geschehensablauf bleibe damit nach der Erfahrung der Medizin die Verursachung des Sturzes durch die beim Schlaganfall schlagartig eingetretenen Lähmungserscheinungen übrig.

8

Damit habe die Beklagte bewiesen, daß der Versicherte zunächst einen Schlaganfall erlitten habe und dieser auf keinen Fall umgekehrt erst durch den Sturz hervorgerufen worden sei. Nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins sprächen die Umstände, insbesondere die diagnostischen Feststellungen über das Alter der intercerebralen Gehirnblutung nach der allgemeinen medizinischen Lebenserfahrung dafür, daß die Ursache des Sturzes der Schlaganfall gewesen sei.

9

Die Kläger hätten keine konkreten Tatsachen vorgetragen, aus denen sich die naheliegende Möglichkeit eines anderen, von dem aufgezeigten gewöhnlichen Geschehensablauf abweichenden Geschehensablaufes ernstlich ergebe. Sowohl die Möglichkeit einer gleichzeitigen Entstehung beider Blutungen - der traumatischen und der durch den Schlaganfall hervorgerufenen - als erst recht die Möglichkeit einer dem Schlaganfall vorausgegangenen traumatisch verursachten Blutung seien nach den getroffenen Feststellungen rein theoretischer Natur und daher nicht geeignet, den geführten Anscheinsbeweis zu entkräften.

10

Dem kann nicht gefolgt werden.

11

Das Berufungsgericht bezeichnet das gleichzeitige Eintreten der traumatisch, durch den Sturz bedingten Blutung und der durch den Schlaganfall bedingten intercerebralen Blutung in der Tiefe des Gehirns (BU 10 oben) in Würdigung der Äußerungen der Sachverständigen als "theoretische" Möglichkeit (BU 9 unten), die Entstehung der intercerebralen gar nach der traumatischen Blutung als "extrem unwahrscheinlich" (BU 10 Abs. 1), als "rein theoretisch" (BU 11 Abs. 1). Diese Ausführungen besagen nicht, das Berufungsgericht habe den für die Beweisführung notwendigen Grad der Gewißheit dafür erlangt, daß der Versicherte einen Schlaganfall erlitten hat und deshalb gestürzt ist. Es ist ihnen auch nicht mit Sicherheit zu entnehmen, daß sich das Berufungsgericht von einem Schlaganfall vor dem Sturz nach den Regeln des Strengbeweises überzeugt und den Anscheinsbeweis nur für die Kausalität zwischen dem Schlaganfall und dem Sturz angewendet habe. Das ergibt sich nämlich aus den unmittelbar nachfolgenden Ausführungen zum Anscheinsbeweis. Sie sind nicht frei von Rechtsirrtum.

12

Die Frage, ob ein Anscheinsbeweis eingreift, unterliegt der Prüfung durch das Revisionsgericht (BGH, Urteil vom 4.10.1983 - VI ZR 98/82 - VersR 1984, 40, 41 und vom 2.12.1986 - VI ZR 252/85 - BGHR ZPO § 286 Anscheinsbeweis 1 - Schutzgesetz).

13

Der Anscheinsbeweis ist bei typischen Geschehensabläufen anwendbar zum Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs und des Verschuldens. Er erlaubt es, in solchen Fällen aufgrund einer bestimmten Wirkung eine bestimmte Ursache und umgekehrt, sowie das Verschulden beteiligter Personen als erwiesen anzusehen. Er setzt jedoch voraus, daß ein Tatbestand feststeht, bei dem der behauptete ursächliche Zusammenhang oder das behauptete Verschulden typischerweise gegeben ist, beruht also auf der Auswertung von Wahrscheinlichkeiten, die aufgrund der Lebenserfahrung anzunehmen sind (BGH, Urteil vom 28.4.1966 - III ZR 197/64 - LM ZPO § 286 (C) Nr. 54 = NJW 1966, 1263 = MDR 1966, 663; Urteil vom 2.12.1986, aaO; Senatsurteil vom 18.3.1987 - IVa ZR 205/85 - VersR 1987, 503 = NJW 1987, 1944). Es muß sich also um ein Geschehen gehandelt haben, bei dem die Regeln des Lebens und die Erfahrung des Üblichen und Gewöhnlichen dem Richter die Überzeugung (§ 286 ZPO) vermitteln, daß auch in dem von ihm zu entscheidenden Fall der Ursachenverlauf so gewesen ist, wie in den vergleichbaren Fällen (vgl. zuletzt Weber, NJW 1986, 2667, 2670 unter Hinweis auf BGH, Urteil vom 4.10.1983 - VI ZR 98/82 - VersR 1984, 40, 41). Um derartiges handelt es sich hier indessen nicht, sondern darum, welche von mehreren tatsächlichen Möglichkeiten gegeben ist, nämlich insbesondere, ob der Versicherte infolge der festgestellten Gehirnblutungen gestürzt ist oder ob er sich diese Blutungen bei dem Sturz zugezogen hat. Daß die eine Möglichkeit wahrscheinlicher ist als die andere, genügt noch nicht, um den Anscheinsbeweis anzuwenden (BGH, Urteil vom 28.4.1966 a.a.O. m.w.N.). Es fehlt an einem allgemeinen Lebenserfahrungssatz für solche Fälle. Auch das Berufungsgericht hat das Bestehen eines solchen Erfahrungssatzes nicht behauptet. Es hat vielmehr aus den medizinischen Gutachten die Überzeugung gewonnen, als wahrscheinlichster Geschehensablauf bleibe der Schlaganfall als Ursache des Sturzes, und an diese Erkenntnis den Anscheinsbeweis angeschlossen. Das war unzulässig.

14

Das Berufungsgericht wird daher erneut zu prüfen haben, ob es aus den Sachverständigengutachten den für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit davon gewinnen kann, daß der Schlaganfall die Ursache des Sturzes des Versicherten war. Falls das verneint wird, hat das Berufungsgericht zu prüfen, ob die Beklagte wegen der von ihr behaupteten alkoholbedingten Bewußtseinsstörung des Versicherten leistungsfrei ist. Dabei wird es zu beachten haben, daß bei Unfällen, die sich außerhalb der Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr ereignen, bei der Prüfung der Frage, ob eine alkoholbedingte Bewußtseinsstörung vorlag, nach einer fallbezogenen Betrachtungsweise zu entscheiden ist, ob die Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit des Versicherten so herabgesetzt war, daß er der jeweiligen Gefahrenlage nicht gewachsen war (Senatsurteil vom 10.2.1982 - IVa ZR 194/80 - VersR 1982, 463).

Dr. Hoegen
Rottmüller
Dehner
Dr. Ritter
Dr. v. Ungern-Sternberg