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Bundesarbeitsgericht
Urt. v. 15.12.2016, Az.: 8 AZR 612/15
Sozialplanprivilegierung bei Neugründung eines Betriebs; Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers beim Betriebsübergang; Beginn der Widerspruchsfrist beim Betriebsübergang bei fehlender Information über die Sozialplanprivilegierung; Parallelentscheidung zu BAG; 8 AZR 613/15; v. 15.12.2016
Gericht: BAG
Entscheidungsform: Urteil
Datum: 15.12.2016
Referenz: JurionRS 2016, 34842
Aktenzeichen: 8 AZR 612/15
ECLI: [keine Angabe]

Fundstellen:

BAGE 157, 317 - 335

AP-Newsletter 2017, 137-139

ArbR 2017, 307

ArbRB 2017, 201-202

AuUR 2017, 312

BB 2017, 1332

BB 2017, 2041-2046

DB 2017, 6

EWiR 2017, 413

EzA-SD 12/2017, 12

FA 2017, 220

JR 2018, 543

NZA 2017, 783-790

ZInsO 2017, 1380-1381

ZIP 2017, 1129-1136

BAG, 15.12.2016 - 8 AZR 612/15

Orientierungssatz:

1. Die einmonatige Widerspruchsfrist nach § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB wird nur durch eine ordnungsgemäße Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB in Lauf gesetzt.

2. Die Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB ist teleologisch auf das Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB ausgerichtet. Sie soll den Arbeitnehmern eine ausreichende Wissensgrundlage verschaffen, um eine sachgerechte Entscheidung darüber treffen zu können, ob sie dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf den neuen Inhaber widersprechen wollen.

3. Aus § 613a Abs. 5 BGB folgt in der Regel keine Verpflichtung, die Arbeitnehmer im Einzelnen über die wirtschaftliche und finanzielle Lage des neuen Inhabers zu unterrichten.

4. Eine Unterrichtung über die wirtschaftliche Lage des neuen Inhabers ist aber dann erforderlich, wenn dessen wirtschaftliche Notlage offensichtlich ist, wie zB bei einem bereits eingeleiteten Insolvenzverfahren.

5. Zu den wirtschaftlichen Folgen iSv. § 613a Abs. 5 Nr. 3 BGB gehören auch die ökonomischen Rahmenbedingungen des Betriebsübergangs, sofern diese zu einer so gravierenden Gefährdung der wirtschaftlichen Absicherung der Arbeitnehmer bei dem neuen Inhaber führen, dass sie als ein wesentliches Kriterium für einen möglichen Widerspruch der Arbeitnehmer gegen den Übergang ihrer Arbeitsverhältnisse anzusehen sind.

6. Die Sozialplanprivilegierung des neuen Inhabers nach § 112a Abs. 2 Satz 1 BetrVG ist eine mit dem Betriebsübergang verbundene veränderte rechtliche Situation, die nach § 613a Abs. 5 Nr. 3 BGB im Unterrichtungsschreiben mitgeteilt werden muss, weil sich hieraus wirtschaftliche Folgen für die betroffenen Arbeitnehmer ergeben.

7. Eine fehlende Information über die Sozialplanprivilegierung des neuen Inhabers nach § 112a Abs. 2 Satz 1 BetrVG führt dazu, dass die einmonatige Widerspruchsfrist nach § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB nicht in Lauf gesetzt wird. Dieser Mangel der Unterrichtung begründet aber kein zeitlich unbegrenztes Widerspruchsrecht, das ggf. bis zur Grenze der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) ausgeübt werden könnte. Vielmehr tritt mit dem Ablauf des Privilegierungszeitraums von vier Jahren seit der Gründung des neuen Inhabers eine rechtliche Zäsur ein. Danach besteht kein wechselseitiger Bezug mehr zwischen der Verpflichtung, über eine Sozialplanprivilegierung des Erwerbers nach § 112a Abs. 2 BetrVG zu unterrichten und dem Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB. Dies führt dazu, dass mit Ablauf des Privilegierungszeitraums nach § 112a Abs. 2 Satz 1 BetrVG dieser Unterrichtungsfehler kraft Gesetzes geheilt ist und im Hinblick auf diesen Unterrichtungsfehler entsprechend § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB eine Widerspruchsfrist von einem Monat anläuft.

8. Die im Fall der nicht ordnungsgemäßen Unterrichtung über die Sozialplanprivilegierung des neuen Inhabers geltende einmonatige Widerspruchsfrist entsprechend § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB beginnt mit Ablauf des Privilegierungszeitraums von vier Jahren seit der Gründung des neuen Betriebsinhabers. Gründung iSv. § 112a Abs. 2 Satz 1 BetrVG ist gemäß § 112a Abs. 2 Satz 3 BetrVG der Zeitpunkt der Aufnahme der Erwerbstätigkeit, die nach § 138 AO dem Finanzamt mitzuteilen ist. Diese ist jedenfalls mit der Übernahme des Betriebes anzunehmen.

9. Diese Rechtsfolgen gelten allerdings nur bezogen auf die fehlende Information über die Sozialplanprivilegierung des neuen Inhabers und lassen die Auswirkungen sonstiger Mängel der Unterrichtung auf den Lauf der Widerspruchsfrist nach § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB unberührt.

Amtlicher Leitsatz:

1. Eine fehlende Information über die Sozialplanprivilegierung nach § 112a Abs. 2 Satz 1 BetrVG des neuen Inhabers führt dazu, dass die Widerspruchsfrist nach § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB nicht in Lauf gesetzt wird.

2. Mit dem Ablauf des Privilegierungszeitraums von vier Jahren seit der Gründung des neuen Inhabers ist dieser Fehler in der Unterrichtung kraft Gesetzes geheilt. Zu diesem Zeitpunkt beginnt im Hinblick auf diesen Unterrichtungsfehler entsprechend § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB eine Widerspruchsfrist von einem Monat zu laufen.

Hinweis des Senats:

Führende Entscheidung zu einer Parallelsache - 8 AZR 613/15 -

Verhältnis zu bisheriger Rechtsprechung:

Zu OS 1: st. Rspr., vgl. etwa BAG 19. November 2015 - 8 AZR 773/14 - Rn. 27, BAGE 153, 296; 10. November 2011 - 8 AZR 430/10 - Rn. 23; 22. Januar 2009 - 8 AZR 808/07 - Rn. 23 mwN

Zu OS 2: vgl. BAG 19. November 2015 - 8 AZR 773/14 - Rn. 20, BAGE 153, 296

Zu OS 3 und OS 4: vgl. BAG 31. Januar 2008 - 8 AZR 1116/06 - Rn. 33

Zu OS 5: vgl. etwa BAG 14. November 2013 - 8 AZR 824/12 - Rn. 30; 31. Januar 2008 - 8 AZR 1116/06 - Rn. 32

Zu OS 6: vgl. etwa BAG 26. März 2015 - 2 AZR 783/13 - Rn. 30; 14. November 2013 - 8 AZR 824/12 - Rn. 29 f.

Zu OS 8: vgl. BAG 14. November 2013 - 8 AZR 824/12 - Rn. 27

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