Einleitung – Fehlbelehrung und zeitlich unbegrenztes Widerrufsrecht
Lebensversicherungen, die zwischen 1994 und 2007 abgeschlossen wurden, enthalten häufig fehlerhafte Widerrufsbelehrungen, die den Beginn der Widerrufsfrist unbestimmt lassen. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in mehreren Urteilen klargestellt, dass solche Formalfehler dem Versicherungsnehmer selbst Jahrzehnte nach Vertragsschluss ein unbegrenztes Widerrufsrecht sichern – vorausgesetzt, der Versicherer kann nicht nachweisen, dass der Kunde uneingeschränkt über sein Recht informiert war. Damit eröffnen sich für viele Betroffene neue Perspektiven auf Rückerstattungen, die weit über den üblichen Rückkaufswert hinausgehen.
Gesetzliche Grundlagen – BGB, VVG und EGBGB
Nach § 355 BGB steht Verbrauchern grundsätzlich ein Widerrufsrecht bei Fernabsatzverträgen zu. Für Lebensversicherungen konkretisiert § 8 VVG die Formvorschriften, während Art. 246a EGBGB die Pflichtinhalte der Widerrufsbelehrung vorgibt. Unterbleiben Pflichtangaben – etwa zum Fristbeginn oder zur Adresse des Widerrufsempfängers – oder werden falsche Formvorgaben („Schriftform“ statt Textform) verwendet, bleibt das Widerrufsrecht wirksam, bis eine ordnungsgemäße Nachbelehrung erfolgt ist.
Wegweisende BGH‑Urteile 2023–2025
Der BGH hat in drei Entscheidungen die Rechte der Versicherten gestärkt:
- IV ZR 353/21 (15.02.2023): Selbst geringfügige Formfehler (Begriffe „Schriftform“ vs. „Textform“) sind nur unschädlich, wenn sie die praktische Ausübung des Widerrufsrechts nicht behindern – andernfalls bleibt das Recht bestehen.
- IV ZR 297/22 (21.02.2024): Unklare Formulierungen zum Fristbeginn („nach Erhalt der Police“) verankern ein sogenanntes ewiges Widerrufsrecht, da kein klarer Laufzeitstart erkennbar ist.
- IV ZR 357/21 (19.06.2024): In 13 Parallelverfahren bestätigte der BGH, dass Policen auch nach mehr als zehn Jahren Laufzeit wirksam widerrufen werden können.
Diese Rechtsprechung verlagert die Beweislast konsequent auf den Versicherer: Er muss nachweisen, dass der Versicherungsnehmer tatsächlich und vollständig belehrt wurde.
Typische Fehler in Widerrufsbelehrungen
Versicherer begehen immer wieder dieselben Fehler:
- Unpräziser Fristbeginn: Formulierungen wie „nach Erhalt des Versicherungsscheins“ ohne Datum.
- Falsche Formvorgabe: Verwendung des Begriffs „Schriftform“, obwohl Textform (z. B. Fax, E‑Mail) ausreichend wäre.
- Fehlender Hinweis auf Nutzungsherausgabe: Keine Klarstellung, dass bereits gezogene Zinsen herauszugeben sind.
- Unklare Empfängerangabe: Keine eindeutige Adresse oder Faxnummer für den Widerruf.
Erfüllt Ihre Belehrung einen dieser Fehler, können Sie Ihr Widerrufsrecht weiterhin ausüben.
Wirtschaftlicher Nutzen – Beiträge, Zinsen, Liquiditätsgewinn
Ein erfolgreicher Widerruf führt zur Rückzahlung aller eingezahlten Prämien plus gesetzlicher Verzugszinsen (§ 288 BGB). Da Abschluss‑ und Verwaltungskosten nicht abgezogen werden dürfen, liegen Auszahlungen laut Verbraucherzentrale oft 30 – 150 % über dem regulären Rückkaufswert. In der Praxis bedeutet das beträchtliche Liquiditätsgewinne, die Sie zur Schuldentilgung, als Notreserve oder für neue Investitionen verwenden können.
Praktische Umsetzung – Schritt für Schritt zum Widerruf
Zunächst digitalisieren Sie Police, Allgemeine Versicherungsbedingungen und die Widerrufsbelehrung. Mithilfe einer Checkliste identifizieren Sie Frist‑ und Formfehler. Anschließend formulieren Sie Ihren Widerruf schriftlich per Einschreiben oder Fax, benennen den konkreten Belehrungsfehler und setzen eine 14‑tägige Frist zur Rückabwicklung. Um Verzögerungen und Einwände des Versicherers abzuwehren, empfiehlt sich die Begleitung durch einen Fachanwalt für Bank‑ und Kapitalmarktrecht, der die Ansprüche (Beiträge, Zinsen, Nutzungen) präzise berechnet.
Rechtsschutz und Prozessfinanzierung
Sollte der Versicherer den Widerruf abweisen, bringt der Weg vor Gericht gute Erfolgsaussichten. Viele spezialisierte Kanzleien arbeiten auf Erfolgsbasis oder nutzen Prozessfinanzierer, die das Kostenrisiko übernehmen. Die durchschnittliche Verfahrensdauer beträgt 6–12 Monate, je nach Instanz.
Steuerliche Behandlung
Erstattete Beiträge gelten als steuerfrei, während die zugesprochenen Verzugszinsen als Kapitalerträge der Abgeltungsteuer unterliegen. Eine Prüfung durch einen Steuerberater ist ratsam, um eine mögliche Günstigerprüfung durch das Finanzamt zu beantragen.
Ausblick und strategische Empfehlungen
Versicherer werden auf Basis der BGH‑Rechtsprechung zunehmend Nachbelehrungen versenden. Um Ihre Rechte nicht zu verlieren, sollten Sie schnell handeln. Prüfen Sie Ihre Verträge jetzt, um noch vor einer möglichen ordnungsgemäßen Nachbelehrung Ihren Widerruf zu erklären. Die Kombination aus hohem Auszahlungsvolumen und minimalem Eigenaufwand macht den Widerruf zu einer der effektivsten Maßnahmen zur finanziellen Neuordnung.
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Quellen
- BGH, IV ZR 353/21 (15.02.2023)
- BGH, IV ZR 297/22 (21.02.2024)
- BGH, IV ZR 357/21 (19.06.2024)
- Verbraucherzentrale Bundesverband: Recht auf ewigen Widerspruch
- Kanzlei Kaufmann: Rückerstattung Lebensversicherung
Link zum Rechtsanwalt:
Weiterführende Artikel:
- https://rechtsanwaltkaufmann.de/bank-und-kapitalmarktrecht/vorfaelligkeitsentschaedigung-kredit
- https://rechtsanwaltkaufmann.de/zivilrecht/tesla-widerruf
- https://rechtsanwaltkaufmann.de/zivilrecht/widerrufsrecht-digitale-inhalte-2024
- https://rechtsanwaltkaufmann.de/zivilrecht/omnibus-richtlinie-widerrufsrecht-digitaler-gueter