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Bundesverwaltungsgericht
Beschl. v. 20.12.2023, Az.: BVerwG 8 B 11.23
Wiederaufgreifen eines vermögensrechtlichen Verfahrens wegen verfolgungsbedingter Veräußerung des Bankgeschäfts
Gericht: BVerwG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 20.12.2023
Referenz: JurionRS 2023, 50961
Aktenzeichen: BVerwG 8 B 11.23
ECLI: ECLI:DE:BVerwG:2023:201223B8B11.23.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

VG Berlin - 08.12.2022 - AZ: 29 K 713.17

BVerwG, 20.12.2023 - BVerwG 8 B 11.23

Redaktioneller Leitsatz:

Die Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung ist erst dann überschritten, wenn das Gericht seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen oder sonst von objektiver Willkür geprägt sind. Dabei ist die Frage, ob das vorinstanzliche Verfahren an einem Verfahrensmangel leidet, vom materiell-rechtlichen Standpunkt des Verwaltungsgerichts aus zu beurteilen, ohne dass es auf die Richtigkeit von dessen Rechtsauffassung ankommt.

In der Verwaltungsstreitsache
hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 20. Dezember 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Held-Daab,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Hoock und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Meister
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 8. Dezember 2022 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 500 000 € festgesetzt.

Gründe

1

Die Klägerin begehrt das Wiederaufgreifen eines vermögensrechtlichen Verfahrens.

2

Die Klägerin war ein jüdisches Unternehmen im Sinne der NS-Rassengesetze. Bis zur verfolgungsbedingten Veräußerung ihres Berliner Bankgeschäfts im Jahr 1938 war sie mit 49,7 % am Grundkapital der A. AG beteiligt, die wiederum 70,327 % der Anteile an der H. AG hielt. Die A. AG veräußerte im Jahr 1935 aufgrund eines "Reorganisationsplans für die A. AG" ihre Beteiligung an der H. AG. Die H. AG war zu diesem Zeitpunkt Alleingesellschafterin einer Gesellschaft, die Eigentümerin des 1 299 m2 großen Grundstücks U. d. L. 2 (später 75)/Ecke W. in B. war. Letztgenannte Gesellschaft wurde im März 1936 aufgelöst und ihr Vermögen auf die H. AG übertragen, die anschließend als Eigentümerin des Grundstücks im Grundbuch eingetragen wurde. Im Rahmen der besatzungshoheitlichen Enteignung der H. AG wurde das Grundstück 1950 in Eigentum des Volkes überführt. In den 1990er Jahren wurde es auf der Grundlage von Investitionsvorrangbescheiden zusammen mit einem Nachbargrundstück an eine Kommanditgesellschaft veräußert, die seitdem Eigentümerin ist. Anschließend wurde das Grundstück mit Teilen des Hotels A. überbaut.

3

Die Klägerin beantragte 1992 die Bruchteilsrestitution des Grundstücks wegen des Verlusts ihrer mittelbaren Beteiligung an der H. AG durch die Veräußerung der Anteile der A. AG an der H. AG im Jahr 1935. Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 9. Juli 2009 - 29 A 274.07 - (juris) ab. Mit Beschluss vom 29. Juli 2010 - 8 B 105.09 - (ZOV 2010, 225) wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurück.

4

Im Jahr 2012 beantragte die Klägerin unter Bezugnahme auf eine Reihe bisher nicht bekannter Unterlagen das Wiederaufgreifen des Verfahrens. Die Beklagte lehnte den Antrag ab. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Ein Grund für das Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens liege nicht vor. Die vorgelegten neuen Beweismittel belegten zwar, dass die A. AG ein jüdisches Unternehmen gewesen sei. Nach der insoweit maßgeblichen materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Urteils vom 9. Juli 2009 hätten sie aber zu keinem der Klägerin günstigeren Ergebnis geführt, weil die Vermutung der verfolgungsbedingten Veräußerung widerlegt sei. Das Urteil vom 9. Juli 2009 habe für die Angemessenheit des Kaufpreises allein auf die geltenden Börsenkurse abgestellt, sodass es in Kenntnis der vorgelegten neuen Beweismittel zu keiner anderen Einschätzung gelangt wäre. Im Ergebnis komme es auf die Frage, ob ein Wiederaufgreifensgrund vorliegt nicht an, weil der von der Klägerin begehrte sogenannte "dreifache Durchgriff" nicht zulässig sei. Das Verwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.

5

Die auf alle Zulassungsgründe gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die Rügen der Klägerin gegen die das Urteil selbstständig tragende Annahme des Verwaltungsgerichts, ein Grund für das Wiederaufgreifen des Verfahrens liege nicht vor, greifen nicht durch (1.). Auf die übrigen Rügen kommt es danach nicht an (2.).

6

1. Die von der Klägerin wegen des Verneinens eines Wiederaufgreifensgrundes geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen, soweit sie substantiiert dargetan wurden, nicht vor.

7

Eine Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes legt die Klägerin nicht dar. Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Vermeintliche Fehler in der Sachverhalts- oder Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich grundsätzlich dem sachlichen Recht und nicht dem Verfahrensrecht zuzuordnen. Die Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung ist erst dann überschritten, wenn das Gericht seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen oder sonst von objektiver Willkür geprägt sind (BVerwG, Beschluss vom 21. August 2023 - 8 B 20.23 - juris Rn. 16). Dabei ist die Frage, ob das vorinstanzliche Verfahren an einem Verfahrensmangel leidet, vom materiell-rechtlichen Standpunkt des Verwaltungsgerichts aus zu beurteilen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Januar 2016 - 8 B 11.15 - juris Rn. 18 m. w. N.), ohne dass es auf die Richtigkeit von dessen Rechtsauffassung ankommt.

8

Die Klägerin macht geltend, das Verwaltungsgericht habe mehrere der von ihr vorgelegten und im Einzelnen bezeichneten Unterlagen zum Beleg der Unangemessenheit des Übernahmepreises der Anteile der A. AG an der H. AG bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Dabei geht die Klägerin davon aus, dass für die Bestimmung der Angemessenheit des Kaufpreises nicht allein der damalige Börsenkurs, sondern auch andere den Unternehmenswert bestimmende Faktoren maßgeblich sind.

9

Diese Rüge greift nicht durch, weil das Verwaltungsgericht seiner Prüfung einen anderen materiell-rechtlichen Ausgangspunkt zugrunde legt. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Erheblichkeit der neuen Beweismittel nach der materiell-rechtlichen Rechtsauffassung des Urteils vom 9. Juli 2009 zu bestimmen und danach allein der Börsenkurs der Aktien für die Angemessenheit des Kaufpreises maßgeblich sei. Das ergibt sich zum einen aus der auszugsweisen Wiedergabe der Entscheidung des beschließenden Senats vom 29. Juli 2010 - 8 B 106.09 -, in der diese seinerzeit für die revisionsgerichtliche Prüfung der damaligen Verfahrensrügen maßgebliche Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts referiert wird, und zum anderen aus der Formulierung im angegriffenen Urteil, dass "das Verwaltungsgericht - zu Recht (...) - allein auf die geltenden Börsenkurse abgestellt [hat], sodass es in Kenntnis der (...) vorgelegten Beweismittel zu keiner anderen Einschätzung gelangt wäre". Soweit sich das Verwaltungsgericht daneben teilweise auch mit den von der Klägerin vorgelegten Unterlagen befasst hat, ist dies vor dem Hintergrund der das Urteil tragenden Rechtsauffassung als bloßes obiter dictum zu verstehen. Dass sich aus den von der Klägerin vorgelegten neuen Unterlagen für das Jahr 1935 ein höherer Börsenkurs für die Aktien der H. AG, als der im Urteil vom 9. Juli 2009 angenommene ergäbe, hat die Klägerin nicht dargelegt.

10

Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs liegt ebenfalls nicht vor. Das Verwaltungsgericht hatte von seinem eben dargestellten materiell-rechtlichen Standpunkt aus keine Veranlassung, in weitergehendem Umfang als im Urteil geschehen, auf das Vorbringen der Klägerin und die von ihr vorgelegten Unterlagen einzugehen.

11

Der Vorwurf der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe gegen den Grundsatz "der Mündlichkeit nach § 101 VwGO" verstoßen, ist nicht nachvollziehbar, da in der Vorinstanz eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat.

12

Schließlich führt auch die Rüge einer willkürlichen Entscheidung nicht auf einen Verfahrensfehler. Zur Darlegung eines Verstoßes gegen das Willkürverbot reicht der Vortrag, die Auffassung des Verwaltungsgerichts sei materiell-rechtliche fehlerhaft, nicht aus.

13

2. Auf die weiteren, gegen die Ablehnung des sogenannten "dreifachen Durchgriffs" bezogenen Rügen der Klägerin kommt es nicht an.

14

Bei der Mehrfachbegründung einer Entscheidung kann die Revision nur zugelassen werden, wenn gegen jede der tragenden Begründungen mindestens ein Beschwerdegrund geltend gemacht wird, der die Zulassung rechtfertigt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Juni 2023 - 8 B 42.22 - juris Rn. 26 m. w. N.). Die selbstständig tragende Erwägung des Verwaltungsgerichts, dass kein Grund für das Wiederaufgreifen des Verfahrens vorliegt, hat die Klägerin - wie unter 1. ausgeführt - nicht wirksam angegriffen.

15

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 und 4 Nr. 3 GKG.

Dr. Held-Daab

Hoock

Dr. Meister

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