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Bundesverwaltungsgericht
Beschl. v. 12.12.2023, Az.: BVerwG 2 B 36.22
Rügeverlust durch Verwertung eines zu einem anderen Zweck erstellten medizinischen Gutachtens durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen; Feststellung der begrenzten Dienstfähigkeit eines Beamten
Gericht: BVerwG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 12.12.2023
Referenz: JurionRS 2023, 50407
Aktenzeichen: BVerwG 2 B 36.22
ECLI: ECLI:DE:BVerwG:2023:121223B2B36.22.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

VG München - 10.03.2020 - AZ: M 5 K 18.2084

VGH Bayern - 06.07.2022 - AZ: 3 B 20.2778

BVerwG, 12.12.2023 - BVerwG 2 B 36.22

Amtlicher Leitsatz:

Die Verwertung eines zu einem anderen Zweck erstellten medizinischen Gutachtens durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen fällt in den Anwendungsbereich des Rügeverlusts aus § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 295 Abs. 1 ZPO.

In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. Dezember 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kenntner
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hartung und Dr. Hissnauer
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 6. Juli 2022 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstands für das Beschwerdeverfahren wird auf 11 956,48 € festgesetzt.

Gründe

1

Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung der begrenzten Dienstfähigkeit.

2

1. Der 1976 geborene Kläger stand bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand als Verwaltungshauptsekretär im Dienst der Beklagten. Nach amtsärztlicher Untersuchung stellte die Beklagte im März 2012 die beschränkte Dienstfähigkeit des Klägers fest und reduzierte seine wöchentliche Arbeitszeit. Den daraufhin erhobenen Widerspruch wies sie zurück. Hiergegen erhob der Kläger im Juli 2012 Klage.

3

Das Verwaltungsgericht ordnete in der Folge das Ruhen des Verfahrens an, weil die Beklagte zwischenzeitlich aufgrund der Ergebnisse einer Nachuntersuchung den Kläger mit Bescheid vom Juli 2013 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt hatte. Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit rechtskräftigem Urteil vom Juni 2016 ab.

4

Nach Wiederanrufung des ruhenden Verfahrens hat das Verwaltungsgericht die sich gegen die Feststellung der beschränkten Dienstfähigkeit richtende Klage wegen fehlendem Rechtsschutzbedürfnis abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof nach Einholung eines ergänzenden psychiatrischen Gutachtens und der Aussage des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Berufungsgericht unter anderem ausgeführt, zum für die Feststellung der begrenzten Dienstfähigkeit maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung sei der Kläger nur begrenzt dienstfähig gewesen.

5

2. Die auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) gestützte Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.

6

a) Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor.

7

Die von der Beschwerde bezeichnete Frage,

"inwieweit im Rahmen eines Verfahrens über die Beurteilung der (Teil-)Dienstfähigkeit eines Beamten Erkenntnisse aus Vorverfahren, insbesondere Strafverfahren, berücksichtigt werden dürfen",

führt nicht zur Zulassung der Revision, weil sie sich im angestrebten Revisionsverfahren mangels Entscheidungserheblichkeit nicht stellen würde.

8

Die Beschwerde rügt, das Berufungsgericht sei an der Verwertung des Gutachtens des Sachverständigen Dr. P. und dessen Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung gehindert gewesen, insbesondere soweit dieser sich auf die Einschätzungen der Dres. D. und H. gestützt hat. Hierauf käme es in einem Revisionsverfahren indes nicht an.

9

Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Hierbei hat es jede mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist. Dabei entscheidet das Tatsachengericht über die Art der heranzuziehenden Beweismittel und den Umfang der Beweisaufnahme im Rahmen seiner Pflicht zur Sachverhaltsermittlung von Amts wegen nach Ermessen. Dies gilt auch für die Einholung von Gutachten oder die Ergänzung vorhandener Gutachten oder Arztberichte (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 30. Juni 2010 - 2 B 72.09 - juris Rn. 4 und vom 16. Mai 2018 - 2 B 12.18 - Buchholz 239.1 § 36 BeamtVG Nr. 3 Rn. 6). Die gerichtliche Pflicht zur Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts besteht jedoch nicht schrankenlos. Die Gerichte haben die Rechte der Beteiligten auch bei der Erforschung des entscheidungserheblichen Sachverhalts zu achten und zu wahren. Dies gilt bei der Erhebung von personenbezogenen Daten (vgl. Art. 4 Nr. 1 der Verordnung [EU] 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG [Datenschutz-Grundverordnung - DSGVO] - ABl. L 119/1) in besonderer Weise.

10

Sofern das Prozessrecht nicht selbst ausdrücklich datenschutzrechtliche Bestimmungen enthält (vgl. etwa § 55 VwGO i. V. m. § 171b GVG, § 99 und § 100 VwGO), kommen im Grundsatz die bundes- und landesrechtlichen Vorschriften (vgl. zum Bundesdatenschutzgesetz BT-Drs. 18/11655 S. 4, 27), namentlich das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) i. d. F. der Bekanntmachung vom 30. Juni 2017 (BGBl. I S. 2097), zuletzt geändert durch Art. 10 des Gesetzes vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1858; 2022 I S. 1045), und das Bayerische Datenschutzgesetz (BayDSG) i. d. F. der Bekanntmachung vom 15. Mai 2018 (GVBl. S. 230), zuletzt geändert durch § 3 des Gesetzes vom 24. Juli 2023 (GVBl. S. 374), sowie die Datenschutz-Grundverordnung ergänzend zur Anwendung.

11

Es bedarf mangels Entscheidungserheblichkeit im vorliegenden Verfahren jedoch keiner Klärung, welche rechtlichen Vorgaben bei der Erhebung personenbezogener Daten im Hinblick auf Anforderung und Beiziehung medizinischer Unterlagen (auch aus anderen Verfahren) und deren Verwertung im Einzelnen zu beachten sind. Denn selbst wenn man zugunsten des Klägers annimmt, das Berufungsgericht sei aufgrund eines Beweisverwertungsverbots daran gehindert gewesen, das Gutachten des Sachverständigen Dr. P. und seine hierauf aufbauenden Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung zum Gegenstand seiner rechtlichen Würdigung zu machen, würde sich die vom Kläger bezeichnete Rechtsfrage nicht stellen. Denn der Kläger hat versäumt, einen aus seiner Sicht bestehenden Verfahrensmangel rechtzeitig zu rügen.

12

Nach § 295 Abs. 1 ZPO, der über § 173 Satz 1 VwGO im Verwaltungsprozess ebenfalls anwendbar ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Dezember 1980 - 6 C 110.79 - ZBR 1982, 30 f. und vom 12. November 2014 - 4 C 37.13 - <insoweit in BVerwGE 150, 286 nicht abgedruckt>, juris Rn. 19 m. w. N.; Beschlüsse vom 6. Juli 1998 - 9 B 562.98 - Buchholz 303 § 391 ZPO Nr. 1 S. 2 und vom 18. Juli 2019 - 2 B 7.19 - Buchholz 303 § 295 ZPO Nr. 18 Rn. 9), kann die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozesshandlung betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet, oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die aufgrund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste. Unter der nächsten mündlichen Verhandlung ist auch der Teil der mündlichen Verhandlung zu verstehen, die sich unmittelbar an den Verfahrensabschnitt anschließt, in dem der Verfahrensrechtsverstoß geschehen sein soll (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1998 - 9 C 45.97 - BVerwGE 107, 128 <132>; Beschlüsse vom 30. September 1988 - 9 CB 47.88 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 84, vom 21. Juli 1997 - 7 B 175.97 - juris Rn. 5 und vom 31. März 2022 - 2 B 52.21 - Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 69 Rn. 14). Der eingetretene Verlust des Rügerechts gilt nach § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 556 ZPO auch für die Revisionsinstanz (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 2014 - 4 C 37.13 - <insoweit in BVerwGE 150, 286 nicht abgedruckt>, juris Rn. 19; Beschlüsse vom 28. Juli 2004 - 2 B 67.04 - juris Rn. 3 und vom 1. Juli 2021 - 2 B 71.20 - juris Rn. 15).

13

Ausgehend hiervon hat der im Berufungsverfahren anwaltlich und damit rechtskundig vertretene Kläger (§ 67 Abs. 4 Satz 1 VwGO), der einen Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) auch mit der Beschwerde nicht geltend gemacht hat, sein Rügerecht verloren. Ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung am 6. Juli 2022 vor dem Berufungsgericht hat er die Verletzung eines Beweisverwertungsverbots nicht gerügt, obwohl - wie die Beschwerde selbst einräumt - der Gutachter in der mündlichen Verhandlung die amtsärztliche Einschätzung Dr. D. und das Gutachten Dr. H. aufgegriffen hatte. Vielmehr hat es der Bevollmächtigte des Klägers nach Entlassung des Sachverständigen und der vorübergehenden Unterbrechung der Sitzung dabei belassen, einen Sachantrag zu stellen.

14

Eine Anwendbarkeit des § 295 Abs. 1 ZPO ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Verletzung einer Vorschrift in Rede steht, auf deren Befolgung der Kläger nicht hätte verzichten können (§ 295 Abs. 2 ZPO). Ob der Kläger in die Verwertung eines medizinischen Gutachtens einwilligt, obliegt grundsätzlich seiner Entscheidung. Anhaltspunkte dafür, dass Schutzvorschriften verletzt sein könnten, auf die wegen ihrer Bedeutung für ein den rechtsstaatlichen Anforderungen gerecht werdendes gerichtliches Verfahren nicht verzichtet werden kann (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. Juli 2019 - 2 B 7.19 - Buchholz 303 § 295 ZPO Nr. 18 Rn. 11 m. w. N. und vom 1. Juli 2021 - 2 B 71.20 - juris Rn. 14), sind weder ersichtlich noch mit der Beschwerde vorgetragen.

15

b) Die Revision ist nicht wegen der von der Beschwerde geltend gemachten Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen.

16

Die Beschwerde genügt bereits nicht den Darlegungsanforderungen. Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann i. S. d. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, der im Widerspruch zu einem Rechtssatz steht, den das Bundesverwaltungs- oder ein anderes divergenzfähiges Gericht - im Bereich des Beamtenrechts auch ein anderes Oberverwaltungsgericht (§ 127 Nr. 1 BRRG i. V. m. § 63 Abs. 3 Satz 2 BeamtStG) - in Anwendung derselben Rechtsvorschrift aufgestellt hat (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 7. November 2017 - 2 B 19.17 - Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 84 Rn. 6, vom 27. Juni 2019 - 2 B 7.18 - Buchholz 245 LandesBesR Nr. 21 Rn. 44 und vom 20. Oktober 2020 - 2 B 36.20 - Buchholz 451.90 Sonstiges Europäisches Recht Nr. 238 Rn. 13).

17

Eine solche Rechtssatzdivergenz zeigt die Beschwerde nicht auf. Sie macht zwar eine Abweichung des angegriffenen Urteils von Rechtsprechung des Bundesverfassungs- wie auch des Bundesverwaltungsgerichts geltend. Sich widersprechende Rechtssätze werden von der Beschwerde jedoch nicht herausgearbeitet.

18

Im Übrigen betrifft weder der Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2005 - 2 BvR 1502/04 - (NVwZ 2005, 1175) noch das Urteil des 2. Wehrdienstsenats des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2008 - 2 WD 16.07 - (BVerwGE 132, 100) die vorliegende Fallgestaltung.

19

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.

Dr. Kenntner

Dr. Hartung

Dr. Hissnauer

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