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Bundesverwaltungsgericht
Beschl. v. 11.07.2023, Az.: BVerwG 4 B 4.23
Fehler der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts; Überschreitung der Grenzen der Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung
Gericht: BVerwG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 11.07.2023
Referenz: JurionRS 2023, 31444
Aktenzeichen: BVerwG 4 B 4.23
ECLI: ECLI:DE:BVerwG:2023:110723B4B4.23.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

OVG Nordrhein-Westfalen - 20.12.2022 - AZ: 10 A 1459/20

BVerwG, 11.07.2023 - BVerwG 4 B 4.23

In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Juli 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Külpmann und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Emmenegger
beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Dezember 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten, soweit über die Kosten nicht bereits rechtskräftig entschieden ist.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das erstinstanzliche Verfahren auf 10 000 € und für das Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht und das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt. Die Festsetzung des Streitwertes in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Dezember 2021 bleibt hiervon unberührt, soweit der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung verworfen worden ist.

Gründe

1

Die Beschwerde hat mit der Verfahrensrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO Erfolg. Der Senat hebt den Beschluss auf und verweist den Rechtsstreit nach § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück, soweit das Urteil des Verwaltungsgerichts nicht nach § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig geworden ist.

2

1. Allerdings durfte das Oberverwaltungsgericht im Wege des Beschlusses nach § 130a VwGO entscheiden, obwohl es die Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten zugelassen hatte. Denn die Grenzen des von § 130a Satz 1 VwGO eröffneten Ermessens werden insoweit erst überschritten, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht außergewöhnlich große, das Maß des § 124 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 VwGO übersteigende Schwierigkeiten aufweist (BVerwG, Urteile vom 30. Juni 2004 - 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <217> und vom 9. Dezember 2010 - 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 24 sowie Beschluss vom 24. Oktober 2018 - 6 B 151.18 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 435 Rn. 16). Solche außergewöhnlichen Schwierigkeiten warf der Fall nicht auf. Sie ergaben sich auch nicht daraus, dass der Kläger im Jahr 2018 bei der - insoweit unzuständigen - Gemeinde den Verzicht auf die Baulasten beantragt hatte und die Gemeinde diese Anträge an den Beklagten als Träger der nach § 85 Abs. 3 Satz 1 BauO NRW zuständigen Bauaufsichtsbehörde weitergeleitet hat.

3

2. Die Beschwerde macht ebenso erfolglos geltend, das Oberverwaltungsgericht habe Beweis darüber erheben müssen, ob die Bebauung auf dem Flurstück-Nr. ... mit dem materiellen Baurecht in Übereinstimmung steht. Insoweit verfehlt sie die Anforderungen, die § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO an die Bezeichnung eines Aufklärungsmangels stellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2019 - 4 CN 8.18 - BVerwGE 166, 378 Rn. 29 und Beschluss vom 2. März 2023 - 4 B 16.22 - Rn. 7). Hiervon unabhängig liegt auch kein Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vor. Denn nach der - insoweit maßgeblichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2015 - 4 C 7.14 - BVerwGE 153, 361 Rn. 22 und Beschluss vom 22. Juni 2015 - 4 B 59.14 - juris Rn. 43) - materiellen Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts (BA S. 11) kam es nicht darauf an, ob die Bebauung auf dem Flurstück-Nr. ... baurechtswidrig ist.

4

3. Die Beschwerde rügt der Sache nach einen Verstoß gegen den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Diese Rüge hat Erfolg und führt zur Zurückverweisung an das Oberverwaltungsgericht.

5

Fehler der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Tatsachengerichts, die dem Überzeugungsgrundsatz gemäß § 108 Abs. 1 VwGO genügen muss, sind regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Die Grenzen der Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung sind mit der Folge des Vorliegens eines Verfahrensfehlers aber dann überschritten, wenn das Gericht seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen oder sonst von objektiver Willkür geprägt sind (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 15, vom 23. August 2021 - 4 BN 7.21 - Rn. 3 m. w. N. und vom 2. März 2023 - 4 B 16.22 - Rn. 26), ferner auch, wenn es Umstände übergeht, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätten aufdrängen müssen (BVerwG, Beschluss vom 30. Dezember 2016 - 9 BN 3.16 - NVwZ-RR 2017, 1037 Rn. 12).

6

Ein solcher Verfahrensfehler liegt vor. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts durfte der Beklagte bei seiner Ermessensausübung von einem Fortbestand des öffentlichen Interesses für die Baulast ausgehen (BA S. 10). Ein Eigentümer, der sich von einer mit der Baulast übernommenen Verpflichtung befreien wolle, müsse einen entsprechenden Löschungsanspruch gegenüber der Behörde geltend machen. In diesem auf Löschung der Baulast gerichteten Verfahren sei zu klären, ob die Eintragung gelöscht werden müsse oder fortbestehe. "Hier", also im Falle des Klägers, fehle es an der "Geltendmachung eines Löschungsanspruchs" (BA S. 11). Das Oberverwaltungsgericht hat seinen Beschluss damit auf die Annahme gestützt, der Kläger habe keine Verfahren zur Löschung der Baulasten betrieben. Dies trifft indes nicht zu. Das bestätigt der vom Beklagten als Anlage B 7 übersandte Verwaltungsvorgang, der den Antrag auf Löschung der Baulast zu Gunsten des ehemaligen Flurstücks-Nr. ... (jetzt ...) enthält. Eines Hinweises des Klägers auf die Einleitung des Verfahrens bedurfte es nicht. Denn bereits das erstinstanzliche Urteil hatte den Antrag des Klägers zur Löschung der Baulast zu Gunsten des (inzwischen vereinigten) Grundstücks Flurstück-Nr. ... (ehemals Flurstücke-Nr. ... und ...) (UA S. 8) erwähnt und der Beklagte im Berufungszulassungsverfahren auf "drei Anträge auf Löschung der Baulasten" hingewiesen (Schriftsatz vom 28. Mai 2020, Bl. 20 der OVG-Akte; vgl. auch Schriftsatz vom 7. Oktober 2022, Bl. 132 der OVG-Akte).

7

Über die Anträge des Klägers, die Baulasten zu löschen, war noch nicht entschieden. Auf diesen Umstand kam es aber nach der materiell-rechtlichen Auffassung des Oberverwaltungsgerichts nicht an. Es hat sich darauf gestützt, dass ein solcher Anspruch nicht geltend gemacht worden sei. Diese Formulierung lässt keinen Raum für die Auslegung, es komme auf eine wirksame oder bestandskräftige Entscheidung an, auf die Baulast zu verzichten. Ob und unter welchen Voraussetzungen die (bloße) Geltendmachung des Anspruchs auf Löschung Bedeutung für das von dem Beklagten auszuübende Ermessen hat, hat das Oberverwaltungsgericht in eigener Zuständigkeit nach Maßgabe des Landesrechts zu prüfen.

8

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG. Der Senat hat Anlass gesehen, die Festsetzung des Streitwertes durch das Verwaltungsgericht nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 GKG von Amts wegen zu ändern, um der wirtschaftlichen Bedeutung der Angelegenheit Rechnung zu tragen. § 63 Abs. 1 Satz 2 GKG steht dieser Änderung nicht entgegen, da die Entscheidung in der Hauptsache noch nicht in vollem Umfang Rechtskraft erlangt hat und das Verwaltungsgericht bei seiner Streitwertfestsetzung zwischen den einzelnen Regelungen des Bescheides nicht unterschieden hat. Bei der abschließenden Kostenentscheidung wird das Oberverwaltungsgericht zu berücksichtigen haben, dass der Kläger in erster Instanz zu einem Teil rechtskräftig obsiegt hat, über die Kosten des Verfahrens auf Berufungszulassung zu einem Teil bereits rechtskräftig entschieden ist und nur ein Teil des ursprünglichen Streitgegenstandes Gegenstand des Berufungs- und Beschwerdeverfahrens geworden ist.

Schipper

Prof. Dr. Külpmann

Dr. Emmenegger

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