Suche

Nutzen Sie die Schnellsuche, um nach den neuesten Urteilen in unserer Datenbank zu suchen!

Bundesverwaltungsgericht
Beschl. v. 08.05.2023, Az.: BVerwG 4 B 17.22
Abwägung der Lärmschutzbelange hinsichtlich der Bestimmung der Geringfügigkeitsschwelle für die Nacht für den Verkehrsflughafen München; Festlegung der Geringfügigkeitsschwelle mit einem nächtlichen Dauerschallpegel LAegNacht von 45 dB(A)
Gericht: BVerwG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 08.05.2023
Referenz: JurionRS 2023, 22545
Aktenzeichen: BVerwG 4 B 17.22
ECLI: ECLI:DE:BVerwG:2023:080523B4B17.22.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

OVG Nordrhein-Westfalen - 26.01.2022 - AZ: 20 D 71/18.AK

BVerwG, 08.05.2023 - BVerwG 4 B 17.22

In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. Mai 2023
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt und Dr. Decker
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. Januar 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 75 000 € festgesetzt.

Gründe

1

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist jedenfalls unbegründet.

2

Das Oberverwaltungsgericht hat die Abwägung der Lärmschutzbelange hinsichtlich der Bestimmung der Geringfügigkeitsschwelle für die Nacht beanstandet. Soweit in der Änderungsgenehmigung die Geringfügigkeitsschwelle mit einem nächtlichen Dauerschallpegel LAegNacht von 45 dB(A) in Bezug auf das nächtliche Dauerschallpegelkriterium im Sinne von § 2 Abs. 2 Satz 2 FluglärmG festgelegt worden sei, entbehre die Genehmigung hinreichend tragfähiger Feststellungen. Darin sei lediglich mitgeteilt worden, welche Geringfügigkeitsschwelle zugrunde gelegt werde. Im Übrigen werde nur noch ausgeführt, dass dieser Wert auch für die Nachtflugregelung in der Änderungsgenehmigung vom 23. März 2001 für den Verkehrsflughafen München gewählt und in den verwaltungsgerichtlichen Verfahren hierzu vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof und vom Bundesverwaltungsgericht nicht beanstandet worden sei. Diese Ausführungen genügten nicht für eine tragfähige Begründung (UA S. 129 ff.). Unbeschadet dessen fehle es der Änderungsgenehmigung zudem an einer hinreichenden Feststellung und Einbeziehung sowohl der konkreten örtlichen Verhältnisse und Begebenheiten als auch der Vorbelastung der relevanten Flughafenumgebung (UA S. 130 f.). Schließlich sei die Geringfügigkeitsschwelle nächtlicher Lärmbetroffenheit jedenfalls deshalb rechtsfehlerhaft bestimmt worden, weil sie nicht zusätzlich anhand eines Häufigkeits-Maximalpegelkriteriums festgelegt worden sei (UA S. 136 ff.).

3

Ist die vorinstanzliche Entscheidung - wie hier - auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, so kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Revisionszulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt. Denn ist nur bezüglich einer Begründung ein Zulassungsgrund gegeben, dann kann diese hinweggedacht werden, ohne dass sich der Ausgang des Verfahrens ändert (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 11. Mai 2022 - 4 BN 7.22 - juris Rn. 4 m. w. N.). Jedenfalls in Bezug auf die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, für die Bestimmung der Geringfügigkeitsschwelle beim nächtlichen Dauerschallpegelkriterium fehlten hinreichende Feststellungen und damit eine tragfähige Begründung, ist ein Revisionszulassungsgrund nicht gegeben. Die insoweit allein geltend gemachten Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen nicht vor.

4

1. Der Vorwurf der Aktenwidrigkeit geht fehl.

5

Die Verfahrensrüge, das Gericht habe den Sachverhalt aktenwidrig festgestellt, betrifft den Grundsatz der freien Beweiswürdigung und das Gebot der sachgerechten Ausschöpfung des vorhandenen Prozessstoffes (§ 86 Abs. 1, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sie verlangt den schlüssigen Vortrag, zwischen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen Annahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt sei ein Widerspruch gegeben, und zudem eine genaue Darstellung des Verstoßes durch konkrete Angaben von Textstellen aus dem vorinstanzlichen Verfahren, aus denen sich der Widerspruch ergeben soll. Dieser Widerspruch muss offensichtlich sein, so dass es einer weiteren Beweiserhebung zur Klärung des richtigen Sachverhalts nicht bedarf (stRspr, BVerwG, Urteile vom 23. November 2016 - 4 CN 2.16 - BVerwGE 156, 336 Rn. 23 und vom 27. Februar 2020 - 7 C 3.19 - Buchholz 406.25 § 47 BImSchG Nr. 8 Rn. 28; Beschluss vom 10. Februar 2022 - 4 B 20.21 - juris Rn. 14).

6

Die Beschwerde rügt, die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, wonach die in der Änderungsgenehmigung festgelegte Geringfügigkeitsschwelle für den nächtlichen Dauerschallpegel von 45 dB(A) nicht ausreichend begründet worden sei, beruhe auf einer unzureichenden Ermittlung des Sachverhalts und stehe im Widerspruch zum Inhalt der beigezogenen Verfahrens- und Gerichtsakten. Die vom Oberverwaltungsgericht vermissten Feststellungen und Begründungen fänden sich in ihrem Antrag auf Einleitung des ergänzenden Verfahrens vom 30. Dezember 2016 sowie den lärmmedizinischen Stellungnahmen von Prof. Scheuch vom 29. November 2010 und von Prof. Penzel vom 22. Oktober 2015, ergänzt mit Stellungnahme vom 19. August 2021. Diese Unterlagen bestätigten, dass die Geringfügigkeitsschwelle für das nächtliche Dauerschallpegelkriterium mit dem Wert von 45 dB(A) zutreffend bestimmt worden sei.

7

Aktenwidrige Feststellungen zeigt die Beschwerde damit nicht auf. Sie missversteht den rechtlichen Ansatz des angefochtenen Urteils. Das Oberverwaltungsgericht hat angenommen, dass die Änderungsgenehmigung vom 1. August 2018 u. a. deshalb an einem erheblichen Abwägungsmangel leidet, weil die Festlegung der Geringfügigkeitsschwelle für das nächtliche Dauerschallpegelkriterium auf 45 dB(A) darin nicht ausreichend begründet worden sei (UA S. 129 ff., 140 f., 164 f.). Mit ihrem Vorbringen, das Oberverwaltungsgericht hätte insoweit auf die o. g. Unterlagen zurückgreifen und gegebenenfalls nachfragen müssen, wendet sich die Beschwerde der Sache nach gegen die zugrundeliegende Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, dass es zuvörderst der zuständigen Genehmigungsbehörde obliegt, die vorgelegten sachverständigen Stellungnahmen und sonstigen Antragsunterlagen auszuwerten und ihre Abwägungsentscheidung nachvollziehbar zu begründen. Dazu stehen die nachfolgenden Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts u. a. zur Stellungnahme von Prof. Penzel von 2021, der NORAH-Studie und dem Fluglärmbericht des Umweltbundesamtes von 2017 (UA S. 132 bis 136) entgegen der Beschwerde nicht in Widerspruch. Sie weisen lediglich darauf hin, dass es "konkretere Feststellungen im vorstehenden Sinne und deren Berücksichtigung vorausgesetzt, vom Grundsatz her nicht ausgeschlossen (erscheint)", die Geringfügigkeitsschwelle für das nächtliche Dauerschallpegelkriterium auf 45 dB(A) festzulegen (UA S. 132). Damit sind erkennbar die (bisher) fehlenden konkreteren Feststellungen und deren Berücksichtigung im Rahmen der Abwägung durch die Genehmigungsbehörde gemeint.

8

2. Ein § 108 Abs. 2 und § 86 Abs. 3 VwGO verletzendes Überraschungsurteil liegt nicht vor.

9

Eine Entscheidung stellt sich als eine das rechtliche Gehör verletzende Überraschungsentscheidung dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 28. Mai 2019 - 4 BN 44.18 - juris Rn. 12 und vom 15. Juli 2022 - 4 B 32.21 - juris Rn. 24). Das zeigt die Beschwerde nicht auf. Sie rügt eine unzulässige Überraschungsentscheidung, weil angesichts der eindeutigen Aussagen in den lärmmedizinischen Stellungnahmen von Prof. Scheuch und Prof. Penzel weder erkennbar gewesen sei noch das Oberverwaltungsgericht darauf hingewiesen habe, inwieweit hinsichtlich der Geringfügigkeitsschwelle für das nächtliche Dauerschallpegelkriterium noch Aufklärungsbedarf bestehe und worauf es seine Entscheidung stützen werde. Auch diese Rüge geht am Inhalt des Urteils vorbei, das insoweit auf einen erheblichen Abwägungsmangel wegen der unzulänglichen Begründung des festgesetzten Werts von 45 dB(A) gestützt ist (siehe vorstehend unter 1.).

10

Die Frage, ob der Beklagte in der Änderungsgenehmigung den nächtlichen Dauerschallpegel mit 45 dB(A) zutreffend festgelegt und abwägungsfehlerfrei begründet hat, war schon in der Klagebegründung vom 5. November 2018 (S. 30 ff.) ausführlich thematisiert worden. Sie ist von den Beteiligten schriftsätzlich kontrovers diskutiert und - ausweislich des Protokolls - auch in der mündlichen Verhandlung vom 25. Januar 2022 erörtert worden. Das stellt die Beigeladene nicht in Abrede. Vor diesem Hintergrund bedurfte es insofern keines zusätzlichen Hinweises an die anwaltlich vertretene Beigeladene durch das Oberverwaltungsgericht.

11

Das Oberverwaltungsgericht war auch nicht gehalten, die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffes hinzuweisen. Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung des Spruchkörpers (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Juli 2022 - 4 B 32.21 - Rn. 22 m. w. N.).

12

3. Im Übrigen beziehen sich die Verfahrensrügen, insbesondere die Gehörsrüge, sowie die Grundsatzrüge auf die Ausführung des Oberverwaltungsgerichts zum Häufigkeits-Maximalpegelkriterium. Ob diese Rügen den Darlegungsanforderungen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) genügen und durchgreifen, bedarf aus den vorstehenden Gründen keiner Entscheidung.

13

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 und 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.

Schipper

Brandt

Dr. Decker

Hinweis: Das Dokument wurde redaktionell aufgearbeitet und unterliegt in dieser Form einem besonderen urheberrechtlichen Schutz. Eine Nutzung über die Vertragsbedingungen der Nutzungsvereinbarung hinaus - insbesondere eine gewerbliche Weiterverarbeitung außerhalb der Grenzen der Vertragsbedingungen - ist nicht gestattet.