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Bundesverfassungsgericht
Beschl. v. 07.09.2023, Az.: 2 BvR 1233/23
Aussetzung einer Zwangsvollstreckung in einem Räumungsverfahren nach Maßgabe einer Folgenabwägung wegen zumindest nicht offensichtlicher Rechtswidrigkeit
Gericht: BVerfG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 07.09.2023
Referenz: JurionRS 2023, 41537
Aktenzeichen: 2 BvR 1233/23
ECLI: ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20230907.2bvr123323

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG München - 15.06.2022 - AZ: 461 C 6326/21

LG München I - 19.10.2022 - AZ: 14 S 7692/22

LG München I - 20.07.2023 - AZ: 14 T 8623/23

Fundstellen:

WM 2023, 2023-2024

WuM 2023, 699-700

ZfIR 2024, 177

BVerfG, 07.09.2023 - 2 BvR 1233/23

Tenor:

Die Zwangsvollstreckung aus dem Endurteil des Amtsgerichts München vom 15. Juni 2022 - 461 C 6326/21 - sowie dem Endurteil des Landgerichts München I vom 19. Oktober 2022 - 14 S 7692/22 - wird einstweilen bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt, soweit die Beschwerdeführerin zur Räumung und Herausgabe der von ihr innegehabten Wohnung einschließlich zugehöriges Kellerabteil verurteilt worden ist.

Gründe

1

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

2

Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Hoheitsakte angeführt werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen abwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 76, 253 [BVerfG 23.07.1987 - 1 BvR 825/87] <255>; 99, 57 <66>; stRspr).

3

2. Nach diesen Maßstäben hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Erfolg.

4

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

5

aa) Die Verfassungsbeschwerde ist nicht wegen fehlender Rechtswegerschöpfung unzulässig.

6

(1) Wird mit der Verfassungsbeschwerde (auch) eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) geltend gemacht, so gehört eine Anhörungsrüge an das Fachgericht zu dem Rechtsweg, von dessen Erschöpfung die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG im Regelfall abhängig ist. Erhebt der Beschwerdeführer in einem solchen Fall keine Anhörungsrüge, obwohl sie statthaft und nicht offensichtlich aussichtslos wäre, hat das zur Folge, dass die Verfassungsbeschwerde insgesamt unzulässig ist, sofern die damit gerügten Grundrechtsverletzungen denselben Streitgegenstand betreffen wie der geltend gemachte Gehörsverstoß (vgl. BVerfGE 134, 106 <113 Rn. 22>). Die Anhörungsrüge nach § 321a ZPO ist auch im Eilrechtsschutzverfahren statthaft (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 27. September 2017 - 1 BvR 1979/17 -, Rn. 2 m.w.N.).

7

(2) Die Beschwerdeführerin rügt mit ihrer Verfassungsbeschwerde unter anderem, dass der angegriffene Beschluss des Landgerichts, mit dem ihr weiterer Vollstreckungsschutz versagt wurde, sie in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. Eine Anhörungsrüge nach § 321a ZPO hat die Beschwerdeführerin jedoch nicht erhoben, obwohl eine solche statthaft gewesen wäre. Die Erhebung einer Anhörungsrüge wäre mit der von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Begründung aber offensichtlich aussichtlos gewesen, sodass eine Erschöpfung des Rechtswegs anzunehmen ist.

8

Die Beschwerdeführerin hat gerügt, dass das Landgericht ihr Begehren auf Verlängerung des Räumungsschutzes vom 31. Mai 2023 als Änderungsantrag im Sinne des § 765a Abs. 4 ZPO ausgelegt habe und nicht als sofortige Beschwerde gegen den ursprünglichen Beschluss des Amtsgerichts, mit dem der Räumungsschutz nur für drei Monate und nicht, wie von der Beschwerdeführerin beantragt, für sechs Monate gewährt worden sei. Mit einer solchen Begründung wäre eine Anhörungsrüge offensichtlich aussichtslos gewesen, denn es ist nicht erkennbar, wieso das Landgericht aufgrund der eindeutigen Formulierungen der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin, wonach "die Abänderung des Beschlusses gemäß § 765a Abs. 4 ZPO" beantragt werde, von der Einlegung einer sofortigen Beschwerde hätte ausgehen müssen und hierdurch das Recht der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör verletzt hätte. Im Übrigen ist auch nicht erkennbar, dass das Landgericht zu einer inhaltlich anderen Beurteilung gelangt wäre, wenn es bereits das Begehren der Beschwerdeführerin vom 31. Mai 2023 und nicht erst den Schriftsatz vom 14. Juni 2023 als sofortige Beschwerde aufgefasst hätte.

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bb) Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet.

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(1) Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen ? beim Fehlen eigener Sachkunde ? zur Achtung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 2. Senats vom 29. Juni 2022 - 2 BvR 447/22 -, Rn. 40 m.w.N.).

11

(2) Auch wenn in dem im Vollstreckungsschutzverfahren vorgelegten Entlassungsbericht vom 14. Juni 2023 des Krankenhauses, in das die Beschwerdeführerin stationär aufgenommen worden war, eine akute Suizidalität der Beschwerdeführerin verneint wurde, erscheint es jedenfalls nicht fernliegend, dass die Gerichte angesichts des in dem ebenfalls im Vollstreckungsschutzverfahren vorgelegten aktuelleren Befundbericht des behandelnden Facharztes für Psychiatrie vom 13. Juli 2023 geschilderten schlechten Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin und eines nur wenige Monate zuvor stattgefundenen Suizidversuchs zur weiteren Sachaufklärung verpflichtet gewesen wären.

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b) Über den Antrag auf einstweilige Anordnung ist deshalb nach Maßgabe einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese fällt zugunsten der Beschwerdeführerin aus.

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Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, wäre nicht auszuschließen, dass aufgrund der Durchführung des Räumungstermins möglicherweise nicht rückgängig zu machende Folgen für Leib und Leben der Beschwerdeführerin einträten. Erginge demgegenüber die einstweilige Anordnung, bliebe die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde aber später ohne Erfolg, so verzögerte sich der Räumungstermin voraussichtlich nur um wenige Monate. Dies wiegt insgesamt weniger schwer als die der Beschwerdeführerin drohenden Nachteile.

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3. Gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG wurde wegen der besonderen Dringlichkeit im Hinblick auf den kurzfristig bevorstehenden Räumungstermin davon abgesehen, den Begünstigten des Ausgangsverfahrens und weiteren Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu geben.

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