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Bundesverfassungsgericht
Beschl. v. 23.01.2023, Az.: 2 BvR 1343/22
Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde in einem Haftverfahren; Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer des Haftverfahrens
Gericht: BVerfG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 23.01.2023
Referenz: JurionRS 2023, 39075
Aktenzeichen: 2 BvR 1343/22
ECLI: ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20230123.2bvr134322

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Tiergarten - 23.01.2019 - AZ: (352 Gs) 254 Js 48/18 (251/19)

LG Berlin - 01.10.2021 - AZ: (533 KLs) 254 Js 48/18 (13/19)

LG Berlin - 24.05.2022 - AZ: (533 KLs) 254 Js 48/18 (13/19)

LG Berlin - 10.05.2022 - AZ: (533 KLs) 254 Js 48/18 (13/19)

BGH - 28.09.2022 - AZ: 5 StR 153/22

BGH - 30.08.2022 - AZ: 5 StR 153/22

Fundstellen:

NStZ-RR 2023, 80

StRR 2023, 29-30

BVerfG, 23.01.2023 - 2 BvR 1343/22

In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (...),
- Bevollmächtigter:
(...) -
gegen 1. a) AR den 148/22 Beschluss -, des Kammergerichts vom 5. Juli 2022 - 2 Ws 112/22 - 161
b) den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 24. Mai 2022 - (533 KLs) 254 Js 48/18 (13/19) -,
c) den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 10. Mai 2022 - (533 KLs) 254 Js 48/18 (13/19) -,
d) den Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. Januar 2019 - (352 Gs) 254 Js 48/18 (251/19) -,
2. a) 153/22 den Beschluss -, des Bundesgerichtshofs vom 28. September 2022 - 5 StR
b) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 30. August 2022 - 5 StR 153/22 -,
c) das Urteil des Landgerichts Berlin vom 1. Oktober 2021 - (533 KLs) 254 Js 48/18 (13/19) -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterinnen Kessal-Wulf,
Wallrabenstein
und den Richter Offenloch
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 23. Januar 2023 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).

Gründe

1

Soweit der Beschwerdeführer sich gegen den im Haftbeschwerdeverfahren ergangenen Beschluss des Kammergerichts vom 5. Juli 2022 wendet, ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet.

2

1. Zwar hat das Kammergericht zutreffend einen Verstoß des Landgerichts gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO angenommen. Erachtet das Gericht oder der Vorsitzende, dessen Entscheidung angefochten wird, eine Beschwerde für begründet, so haben sie ihr abzuhelfen. Andernfalls ist die Beschwerde nach § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO sofort, spätestens vor Ablauf von drei Tagen, dem Beschwerdegericht vorzulegen. Dies ist vorliegend nicht geschehen.

3

2. Allerdings führt nicht jeder Verstoß gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO in einem Haftbeschwerdeverfahren schon für sich genommen zur Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer von Untersuchungshaft (vgl. KG, Beschluss vom 27. Oktober 2014 - 2 Ws 360/14 -, NStZ-RR 2015, S. 18; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 12. Juni 2019 - 18 Qs 20/19 -, BeckRS 2019, S. 41863, Rn. 16; OLG Naumburg, Beschluss vom 8. August 2000 - 1 Ws 359/00 -, juris, Rn. 6; KG, Beschluss vom 15. März 2019 - 4 Ws 24/19 - 121 AR 47/19 -, BeckRS 2019, S. 4693, Rn. 39). Die Ausführungen des Kammergerichts lassen hinreichend erkennen, dass ihm bei Beurteilung dieser Frage Inhalt und Tragweite des Anspruchs des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bewusst waren und es diese in seine Abwägung miteinbezogen hat. Es hat ausgeführt, die verspätete Vorlage von rund einem Monat sei offensichtlich versehentlich erfolgt und nicht ausschließbar einer unübersichtlichen Zusammenstellung des Beschwerdekonvoluts geschuldet. Ein sachlicher Grund für die verzögerte Bearbeitung sei genauso wenig ersichtlich wie "strukturelle Defizite auf Seiten des Gerichts". Da die Weiterleitung vom Gericht über die Staatsanwaltschaft an die Generalstaatsanwaltschaft am Tag der verspäteten Nichtabhilfeentscheidung und der entsprechenden Vorlageverfügung erfolgt sei, sei der festgestellte Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot "bei einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umständ e" noch nicht geeignet, den Bestand des Haftbefehls in Frage zu stellen. Dagegen ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern, zumal die Nichtabhilfeentscheidung ihrerseits unverzüglich nach Feststellung des Versäumnisses getroffen worden ist und die Kammervorsitzende in ihrer Vorlageverfügung mit der Bitte "um schnellstmögliche Weiterleitung" auf das Beschleunigungsbedürfnis besonders hingewiesen hat.

4

3. In Anbetracht der Verfahrensabläufe hat sich die eingetretene Verzögerung des Rechtsschutzes auf die Fortdauer der Untersuchungshaft zudem nicht entscheidend ausgewirkt. Die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers hat sich aufgrund der verzögerten Aktenvorlage im Haftbeschwerdeverfahren im Ergebnis nicht verlängert. Es kann ausgeschlossen werden, dass das Kammergericht, wäre es früher mit der Sache befasst worden, eine dem Beschwerdeführer hinsichtlich der Fortdauer der Untersuchungshaft günstigere Entscheidung getroffen hätte. Eine auf der verspäteten Vorlage beruhende Verfahrensverzögerung im - parallel zum Haftbeschwerdeverfahren durchgeführten - Revisionsverfahren ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.

5

4. Im Übrigen ist auch für das besondere Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass eine verspätete Aktenvorlage an das Oberlandesgericht unter Überschreitung der sogenannten Sechsmonatsfrist für sich genommen noch keine Pflicht zur Aufhebung des Haftbefehls oder zu dessen Außervollzugsetzung begründet (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2022 - 3 StR 181/21 -, Rn. 39; OLG Hamm, Beschluss vom 21. August 2007 - 3 OBL 86/07 <42> <3 Ws 486/07> -, NJW 2007, S. 3220 [OLG Hamm 21.08.2007 - 3 OBL 86/07 (42)] <3221>; Gärtner, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 121 Rn. 41). Das Bundesverfassungsgericht hat diese fachgerichtliche Rechtsauffassung unbeanstandet gelassen (vgl. BVerfGE 42, 1 [BVerfG 09.03.1976 - 2 BvR 618/75] <9 f.>). Es ist nicht ersichtlich, weshalb für die Überschreitung der Vorlagepflicht aus § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO im Haftbeschwerdeverfahren strengere Maßstäbe gelten sollten. Dies gilt umso mehr, als gegen den Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der angegriffenen Haftentscheidung bereits ein (noch nicht rechtskräftiges) Strafurteil vorlag, wohingegen im Verfahren der besonderen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht gerade noch kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil ergangen ist (vgl. § 121 Abs. 1 StPO).

6

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

7

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Kessal-Wulf

Wallrabenstein

Offenloch

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