Bundessozialgericht
Beschl. v. 14.04.2025, Az.: B 2 U 21/23 BH
Rücknahme der Ankerkennung einer Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit nach Nr 2301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung; Ablehnung des Antrag auf Bewilligung von PKH und Beiordnung eines Rechtsanwalts
Bibliographie
- Gericht
- BSG
- Datum
- 14.04.2025
- Aktenzeichen
- B 2 U 21/23 BH
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2025, 14125
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:BSG:2025:140425BB2U2123BH0
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Dortmund - 22.08.2022 - AZ: S 21 U 480/18
- LSG Nordrhein-Westfalen - 18.09.2023 - AZ: L 15 U 418/22
Rechtsgrundlagen
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Auf eine Verletzung des § 103 SGG kann eine Nichtzulassungsbeschwerde nur gestützt werden, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Dafür ist entscheidend, ob sich das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben, weil nach den ihm vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen Sachverhalt aus seiner sachlich-rechtlichen Sicht erkennbar offengeblieben sind. Allein das Vorliegen divergierender Feststellungen und Ansichten gehörter Sachverständiger begründet indes keine Verpflichtung des Gerichts zur Einholung eines neuen Gutachtens.
- 2.
Die Garantie rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte lediglich, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht aber auch, ihnen inhaltlich zu folgen.
Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat am 14. April 2025 durch den Richter Karmanski als Vorsitzenden, die Richterin Dr. Karl und den Richter Dr. Wahl
beschlossen:
Tenor:
Der Antrag des Klägers, ihm für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. September 2023 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin Bärtschi, Kassel, beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten im wiederholten Überprüfungsverfahren darüber, ob die Rücknahme der Ankerkennung einer Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit nach Nr 2301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BK 2301) rechtmäßig war, sowie über die Gewährung einer Verletztenrente und die Versorgung mit Hörhilfen. Die nach Ablehnung des erneuten Überprüfungsantrags (Bescheid vom 22.11.2017, Widerspruchsbescheid vom 19.6.2018) erhobene Klage hat das SG abgewiesen (Urteil vom 22.8.2022); das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Beschluss vom 18.9.2023).
Für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des LSG beantragt der Kläger, ihm Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung von Rechtsanwältin Bärtschi, Kassel, zu bewilligen.
II
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von PKH und Beiordnung eines Rechtsanwalts ist abzulehnen, weil eine Nichtzulassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs 1 Satz 1, § 121 Abs 1 ZPO).
Nach § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), das angefochtene Urteil von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) oder des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3). Ein solcher Zulassungsgrund ist weder vom Kläger aufgezeigt noch nach Durchsicht der Akten aufgrund der im PKH-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung des Streitstoffs zu erblicken. Es ist nicht erkennbar, dass ein nach § 73 Abs 4 SGG zugelassener Prozessbevollmächtigter in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers erfolgreich zu begründen.
1. Es ist nicht ersichtlich, dass eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision auf eine Grundsatzrüge (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) gestützt werden könnte. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Die Frage muss außerdem klärungsbedürftig sein. Das ist grundsätzlich nicht der Fall, wenn die Antwort darauf von vornherein praktisch außer Zweifel steht oder die Frage bereits höchstrichterlich entschieden ist (zum Ganzen vgl BSG Beschluss vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70). Rechtsfragen, die in diesem Sinne grundsätzliche Bedeutung haben könnten, sind nicht erkennbar. Dies gilt auch hinsichtlich der im Unfallversicherungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung (BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 13 ff).
2. Der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) könnte ebenfalls nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. Divergenz (Abweichung) bedeutet Widerspruch im Rechtssatz oder - anders ausgedrückt - das Nichtübereinstimmen tragender abstrakter Rechtssätze, die den miteinander zu vergleichenden Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat (BSG Beschluss vom 25.9.2002 - B 7 AL 142/02 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 72 mwN). Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Der angefochtene Beschluss des LSG stellt sich auf den Boden der Rechtsprechung des BSG und lässt keinen Willen zur Abweichung erkennen.
3. Schließlich lässt sich auch kein Verfahrensmangel feststellen, der gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG in einem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren zur Zulassung der Revision führen könnte. Nach Halbsatz 2 dieser Bestimmung kann der geltend gemachte Verfahrensmangel auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG nicht und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Zwar hat der im Berufungsverfahren nicht rechtskundig vertretene Kläger im Rahmen der Anhörung nach § 153 Abs 4 SGG beantragt, ein Gutachten nach § 106 SGG einzuholen, falls das LSG dem Gutachten von H nicht folgen wolle. Doch selbst wenn dieser Antrag den verminderten Anforderungen an Präzisierung und Formulierung eines Beweisantrags bei unvertretenen Beteiligten genügen sollte (dazu BSG Beschlüsse vom 6.11.2023 - B 2 U 170/22 B - juris RdNr 17, vom 20.12.2016 - B 5 R 242/16 B - juris RdNr 14 und vom 2.6.2003 - B 2 U 80/03 B - juris RdNr 4), ließe sich nicht hinreichend substantiiert darlegen, dass das LSG ihm ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Entscheidend hierfür ist, ob sich das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben, weil nach den ihm vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen Sachverhalt aus seiner sachlich-rechtlichen Sicht erkennbar offengeblieben sind (BSG Beschlüsse vom 6.9.2023 - B 2 U 90/22 B - juris RdNr 14, vom 15.8.2022 - B 2 U 141/21 B - juris RdNr 15 und vom 31.7.1975 - 5 BJ 28/75 - SozR 1500 § 160 Nr 5 S 6 = juris RdNr 2). Allein das Vorliegen divergierender Feststellungen und Ansichten gehörter Sachverständigen - hier von H einerseits und von B andererseits - begründet keine Verpflichtung des Gerichts zur Einholung eines neuen Gutachtens. Denn die Würdigung voneinander abweichender Gutachtenergebnisse gehört wie die anderer sich widersprechender Beweisergebnisse zu der Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), die als solche gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG von einer Rüge als Verfahrensmangel ausgeschlossen ist (BSG Beschlüsse vom 6.9.2023 - B 2 U 90/22 B - juris RdNr 21 und vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 = juris RdNr 10). Ebenso wenig besteht ein allgemeiner Anspruch auf Überprüfung eines oder mehrerer Sachverständigengutachten durch ein sog Obergutachten (BSG Beschlüsse vom 9.6.2023 - B 2 U 7/23 B - juris RdNr 10 und vom 14.12.2022 - B 2 U 1/22 B - juris RdNr 7). Dessen ungeachtet ist auch nicht erkennbar, dass sich grobe Mängel in dem 2014 von B erstatteten Sachverständigengutachten aufzeigen ließen. Soweit der Kläger einen solchen aus der Königsteiner Empfehlung der DGUV zur Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit herleiten will, weil danach bei schwankenden und/oder grenzwertigen Befunden Untersuchungen wiederholt werden müssten, verkennt er, dass dies für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt - hier Aufgabe der gehörgefährdenden Arbeit im Jahr 2003 - nicht möglich ist.
Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) könnte mit einer Nichtzulassungsbeschwerde ebenfalls nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. Soweit der Kläger meint, in seinem Gehörsrecht dadurch verletzt zu sein, dass das LSG seinen Einwänden gegen das Gutachten von B nicht gefolgt sei, verkennt er, dass die Garantie rechtlichen Gehörs die Gerichte verpflichtet, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht aber auch, ihnen inhaltlich zu folgen (BVerfG Kammerbeschluss vom 30.9.2022 - 2 BvR 2222/21 - juris RdNr 26 f mwN). Eine unzureichende Sachrüge könnte mit einer Gehörsrüge im Übrigen nicht umgangen werden (BSG Beschluss vom 19.4.2022 - B 2 U 70/21 B - juris RdNr 15 mwN).
Auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG kann kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung ein Verfahrensmangel nicht - dh weder unmittelbar noch mittelbar - gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG), was verfassungsrechtlich unbedenklich ist (BVerfG Kammerbeschluss vom 12.9.1991 - 1 BvR 765/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 6 S 11). Soweit der Kläger die inhaltliche Richtigkeit der Berufungsentscheidung angreift, ließe sich hierauf nach dem eindeutigen Wortlaut des § 160 Abs 2 Nr 1 bis 3 SGG eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht stützen (vgl BSG Beschluss vom 26.6.1975 - 2 BJ 12/75 - SozR 1500 § 160a Nr 7).
Ebenso wenig könnte mit Erfolg gerügt werden, das LSG habe hinsichtlich der erstmals im Berufungsverfahren begehrten Versorgung mit Hörhilfen fehlerhaft durch Prozess- statt durch Sachurteil entschieden. Darin kann zwar ein Verfahrensmangel liegen, weil Prozess- und Sachurteil eine jeweils qualitativ andere Entscheidung darstellen und damit sowohl ein Entscheidungs- als auch ein Verfahrensmangel gegeben sein kann (BSG Beschlüsse vom 12.4.2023 - B 2 U 30/22 B - juris RdNr 5, vom 15.12.2020 - B 2 U 142/20 B - juris RdNr 6 und vom 9.12.1969 - 9 RV 358/69 - SozR Nr 191 zu § 162 SGG = juris RdNr 26 f). Dass hier das LSG trotz Fehlens einer vorherigen Verwaltungsentscheidung (zu deren Erforderlichkeit: BSG Beschlüsse vom 27.2.2024 - B 2 U 110/23 B - juris RdNr 8 und vom 7.12.2022 - B 4 AS 167/22 BH - juris RdNr 5) zu Unrecht von der Unzulässigkeit der Klage ausgegangen sein könnte, ist jedoch nicht ersichtlich.
Da dem Kläger somit mangels hinreichender Erfolgsaussicht einer Nichtzulassungsbeschwerde keine PKH zu bewilligen ist, hat er nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 121 Abs 1 ZPO auch keinen Anspruch auf Beiordnung eines Rechtsanwalts.