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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 12.09.2023, Az.: XIII ZB 22/20
Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Betroffenen; Annahme der Fluchtgefahr bei wiederholter rechtskräftiger Verurteilung eines Ausländers zu mindestens einer Freiheitsstrafe wegen vorsätzlicher Straftaten
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 12.09.2023
Referenz: JurionRS 2023, 40039
Aktenzeichen: XIII ZB 22/20
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Schweinfurt - 24.01.2020 - AZ: 03 XIV 77/20 (B)

LG Schweinfurt - 18.02.2020 - AZ: 11 T 21/20

BGH, 12.09.2023 - XIII ZB 22/20

Redaktioneller Leitsatz:

  1. 1.

    § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG steht in Einklang mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Verhältnismäßigkeitsgebot. Die vom Haftrichter vorzunehmende Gesamtwürdigung stellt sicher, dass Abschiebungshaft nur dann angeordnet werden kann, wenn ein konkreter sachlicher Zusammenhang zwischen den mehrfachen strafrechtlichen Verurteilungen und der Annahme von Fluchtgefahr gegeben ist.

  2. 2.

    Die Anwendung der Vorschrift verstößt auch nicht etwa gegen das ebenfalls in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rückwirkungsverbot, weil sich - wie hier - das Beschwerdegericht bei der Prüfung der Vorschrift des § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG auf Verurteilungen des Betroffenen gestützt hat, die vor dem Inkrafttreten der Norm ergangen sind. Es handelt sich insoweit um eine grundsätzlich zulässige unechte Rückwirkung, deren Grenzen nicht überschritten sind.

Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. September 2023 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt sowie die Richterinnen Dr. Picker und Dr. Holzinger
beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Schweinfurt vom 18. Februar 2020 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein ivorischer Staatsangehöriger, reiste am 6. Januar 2018 erstmals in das Bundesgebiet ein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit bestandskräftigem Bescheid vom 29. Januar 2018 ab und drohte ihm die Abschiebung an.

2

Mit Urteil vom 6. November 2018 verhängte das Amtsgericht Schweinfurt gegen den Betroffenen eine Gesamtgeldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 10,00 € wegen Sachbeschädigung und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln. Am 13. November 2019 verurteilte ihn das Amtsgericht wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in drei tateinheitlichen Fällen, Sachbeschädigung in zwei Fällen, versuchter Nötigung, unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln, tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte sowie Beleidigung in vier Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr.

3

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen mit Beschluss vom 24. Januar 2020 Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum Ablauf des 6. März 2020 angeordnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht mit Beschluss vom 18. Februar 2020 zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene nach Ablauf der Haft die Feststellung, dass die Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts ihn in seinen Rechten verletzt haben.

4

II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.

5

1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft hätten vorgelegen, weil der Betroffene wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sei. Daraus ergebe sich ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG. Der Betroffene habe durch sein Verhalten gezeigt, dass er der Rechtsordnung ablehnend gegenüberstehe und daher auch der Ausreisepflicht nicht nachkommen werde.

6

2. Das hält rechtlicher Überprüfung stand. Das Beschwerdegericht hat die Annahme der Fluchtgefahr zutreffend auf § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG gestützt.

7

a) Nach § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG kann es einen konkreten Anhaltspunkt für Fluchtgefahr darstellen, wenn der Ausländer wiederholt wegen vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu mindestens einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Erforderlich sind mindestens zwei strafrechtliche Verurteilungen, wobei zumindest auf Grund einer Straftat eine Freiheitsstrafe verhängt worden sein muss. Diese Verurteilungen genügen allein jedoch nicht für die Annahme von Fluchtgefahr. Vielmehr muss durch das Verhalten des Ausländers zu Tage treten, dass er der deutschen Rechtsordnung ablehnend oder gleichgültig gegenübersteht und deshalb zu erwarten ist, dass er auch anderen gesetzlichen Pflichten wie der Ausreisepflicht, die zu sichern die Abschiebungshaft einzig dient, nicht freiwillig nachkommen wird; zudem ist stets durch eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen, ob tatsächlich Fluchtgefahr vorliegt (BGH, Beschluss vom 18. Mai 2021 - XIII ZB 2/20, juris Rn. 10, mwN).

8

b) Weder die Vorschrift selbst noch ihre Anwendung im konkreten Fall verstoßen gegen höherrangiges Recht.

9

aa) Die Vorschrift steht in Einklang mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Verhältnismäßigkeitsgebot. Die nach den vorstehenden Maßgaben vom Haftrichter vorzunehmende Gesamtwürdigung stellt sicher, dass Abschiebungshaft nur dann angeordnet werden kann, wenn ein konkreter sachlicher Zusammenhang zwischen den mehrfachen strafrechtlichen Verurteilungen und der Annahme von Fluchtgefahr gegeben ist. Daher besteht auch, anders als die Rechtsbeschwerde meint, kein Konflikt mit Art. 15 Abs. 1 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger.

10

bb) Die Anwendung der Vorschrift verstößt auch nicht etwa gegen das ebenfalls in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rückwirkungsverbot, weil sich das Beschwerdegericht bei der Prüfung der Vorschrift des § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG auf Verurteilungen des Betroffenen gestützt hat, die vor dem Inkrafttreten der Norm ergangen sind.

11

(1) Eine echte Rückwirkung, die grundsätzlich gegen Art. 20 Abs. 3 GG verstößt und daher unzulässig ist, liegt nur dann vor, wenn nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingegriffen wird (vgl. BVerfG, NVwZ 2016, 300 [BVerfG 12.11.2015 - 1 BvR 2961/14] Rn. 41; NJW 2021, 2424 Rn. 52; BVerfGE 155, 238 Rn. 135). Hingegen liegt eine grundsätzlich zulässige unechte Rückwirkung vor, wenn eine Rechtsnorm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet, die belastenden Rechtsfolgen also erst nach der Verkündung einer Norm eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden ("tatbestandliche Rückanknüpfung"; st. Rspr., BVerfGE 155, 238 Rn. 130 f.; BVerfG, NJW 2021, 2424 [BVerfG 25.03.2021 - 2 BvL 1/11] Rn. 53, mwN; BGH, Urteil vom 14. Dezember 2021 - XIII ZR 1/21, NVwZ-RR 2022, 533 Rn. 31 - Sanktion bei Meldepflichtverstoß). Die Grenzen, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip einer solchen unechten Rückwirkung setzt, sind erst überschritten, wenn die vom Gesetzgeber angeordnete Rückwirkung zur Erreichung des Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen (BVerfGE 155, 238 [BVerfG 30.06.2020 - 1 BvR 1679/17] Rn. 131).

12

(2) Nach diesen Grundsätzen handelt es sich bei der Bezugnahme auf die in Rede stehenden Verurteilungen und die darauf beruhende Annahme von Fluchtgefahr um eine unechte Rückwirkung, weil § 62 Abs. 3b Nr. 4 AufenthG nur Rechtsfolgen für zukünftige Sachverhalte regelt, es für die Beurteilung der Frage, ob Fluchtgefahr besteht, aber nicht ausschließt, dass bei einer auf diese Vorschrift gestützten Haftanordnung solche Verurteilungen berücksichtigt werden, die vor ihrem Inkrafttreten ergangen sind. Die Berücksichtigung solcher Verurteilungen erweist sich weder als ungeeignet noch als nicht erforderlich für die vom Gesetzgeber intendierte Erhöhung der Zahl tatsächlicher Ausreisen von ausreisepflichtigen Ausländern (BT-Drucks. 19/10047, S. 25). Es ist weder ersichtlich, dass ein etwaiges Interesse des betroffenen Ausländers, bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits vorliegende qualifizierte strafrechtliche Verurteilungen könnten in der Zukunft nicht mehr als Grundlage für die Begründung von Fluchtgefahr herangezogen werden, schutzwürdig wäre, noch, dass ein solches Interesse die mit der Vorschrift verfolgten öffentlichen Interessen überwöge.

13

3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG). Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Kirchhoff

Roloff

Tolkmitt

Picker

Holzinger

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