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Bundesgerichtshof
Urt. v. 11.09.2023, Az.: VIa ZR 385/23
Inanspruchnahme eines Fahrzeugherstellers auf Schadenersatz wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Urteil
Datum: 11.09.2023
Referenz: JurionRS 2023, 41157
Aktenzeichen: VIa ZR 385/23
ECLI: ECLI:DE:BGH:2023:110923UVIAZR385.23.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

LG Stuttgart - 07.07.2022 - AZ: 20 O 1/22

OLG Stuttgart - 16.03.2023 - AZ: 24 U 2125/22

Rechtsgrundlagen:

§ 31 BGB

§ 826 BGB

BGH, 11.09.2023 - VIa ZR 385/23

Redaktioneller Leitsatz:

Die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV sind Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 S. 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist.

Der VIa. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 11. September 2023 durch die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Menges als Vorsitzende, die Richterin Möhring, die Richter Dr. Götz, Dr. Rensen und die Richterin Dr. Vogt-Beheim
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 24. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 16. März 2023 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als das Berufungsgericht unter dem Gesichtspunkt einer deliktischen Schädigung des Klägers auf die Berufung der Beklagten die Klage auf Zahlung in Höhe von 9.935,42 € nebst Zinsen aus 23.768,88 € vom 13. März 2021 bis 23. Juni 2022 und aus 9.935,42 € ab dem 24. Juni 2022 abgewiesen und die Berufung des Klägers zurückgewiesen hat, soweit er den Wegfall der Verurteilung der Beklagten Zug um Zug gegen die Übereignung und Übergabe des Fahrzeugs begehrt hat.

Im Übrigen wird die Revision des Klägers gegen das vorbezeichnete Urteil mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die weitergehende Berufung des Klägers als unzulässig verworfen wird.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.

2

Der Kläger erwarb im Januar 2014 von der Beklagten einen von ihr hergestellten gebrauchten Mercedes-Benz E 220 CDI, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 5) ausgestattet ist. In dem Fahrzeug kommt eine sogenannte Abgasrückführung (AGR) zur Anwendung, die sich mindernd auf die Stickoxidemissionen auswirkt, jedoch außerhalb eines bestimmten Außentemperaturbereichs reduziert wird (sogenanntes Thermofenster). Zudem verfügt das Fahrzeug über eine sogenannte Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR), durch die eine verzögerte Aufwärmung des Motoröls zu niedrigeren Stickoxid-Emissionen führt.

3

Der Kläger hat unter Berücksichtigung einer Nutzungsentschädigung auf Basis einer zu erwartenden Gesamtlaufleistung von 300.000 km in erster Instanz zuletzt beantragt, die Beklagte zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 25.978,22 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs zu verurteilen (Klageantrag zu 1), festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des Fahrzeugs in Verzug befinde (Klageantrag zu 2), und dem Kläger vorgerichtlich entstandene Rechtsanwaltskosten zu erstatten (Klageantrag zu 3). Das Landgericht hat der Klage in der Hauptsache unter Anrechnung einer Nutzungsentschädigung auf der Basis einer zu erwartenden Gesamtlaufleistung von 250.000 km in Höhe von 23.768,88 € nebst Verzugszinsen stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Hiergegen haben sowohl der Kläger als auch die Beklagte Berufung eingelegt. Nach Veräußerung des Fahrzeugs am 23. Juni 2022 an einen Dritten zu einem Kaufpreis von 16.000 € hat der Kläger zuletzt beantragt, die Beklagte unter Berücksichtigung einer Nutzungsentschädigung auf der Basis von 300.000 km zur Zahlung von 9.935,42 € nebst Verzugszinsen bis zum 23. Juni 2022 auf 27.580,39 € und danach auf 9.935,42 € sowie auf Erstattung vorgerichtlich entstandener Anwaltskosten zu verurteilen. Das Berufungsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat es zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Berufungsanträge weiter.

Entscheidungsgründe

4

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Revision des Klägers, die entsprechend der beschränkten Zulassung durch das Berufungsgericht ausschließlich Ansprüche unter dem Gesichtspunkt einer deliktischen Schädigung des Klägers zum Gegenstand hat, hat teilweise Erfolg. Sie führt im tenorierten Umfang zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Im Übrigen ist sie mit der aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Maßgabe zurückzuweisen.

I.

5

Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:

6

Die Beklagte hafte nicht gemäß §§ 826, 31 BGB. Der Kläger habe die Voraussetzungen einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung - das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung unterstellt - nicht schlüssig behauptet. Es fehle insoweit an berücksichtigungsfähigem, auf tatsächliche Anhaltspunkte gestütztem Vortrag zu einem vorsätzlichen Verhalten von Repräsentanten der Beklagten. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 oder der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008 scheitere bereits daran, dass es sich bei diesen Normen nicht um Schutzgesetze handele.

II.

7

Diese Beurteilung hält den Angriffen der Revision nicht in allen Punkten stand.

8

1. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB mangels vorsätzlichen (und sittenwidrigen) Verhaltens der für sie handelnden Repräsentanten verneint hat. Das Berufungsgericht hat zu Recht erwogen, dass eine arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde und ein entsprechendes Unrechtsbewusstsein der für die Beklagte handelnden Repräsentanten indiziert wäre, wenn eine im Fahrzeug des Klägers verbaute Einrichtung ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktivierte (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Februar 2022 - VII ZR 602/21, juris Rn. 15 und 25; Beschluss vom 20. April 2022 - VII ZR 720/21, juris Rn. 25; Beschluss vom 21. September 2022 - VII ZR 471/21, MDR 2022, 1340 Rn. 10). Es hat jedoch greifbare Anhaltspunkte für eine solche vom Kläger behauptete Funktionsweise nicht festzustellen vermocht. Hieran ist der Senat gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden. Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.

9

2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen der Verwendung des Thermofensters oder der KSR aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht verneint werden.

10

Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).

11

Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen Schadensersatzes" verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Die Einwände der Revisionserwiderung gegen die dogmatische Herleitung eines solchen Anspruchs geben dem Senat weder Anlass, von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abzugehen, noch - wie von der Revisionserwiderung gefordert - ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten (vgl. nur BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 27 ff.; anders LG Duisburg, Beschlüsse vom 21. Juli 2023 - 1 O 55/19, 1 O 73/20 und 1 O 223/20, jeweils juris). Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines Differenzschadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.

III.

12

Das Berufungsurteil hat gleichwohl mit der aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Maßgabe insoweit Bestand, als der Kläger in der Berufungsinstanz zuletzt Zinsen aus einem höheren Betrag als 23.768,88 € und die Erstattung vorgerichtlich verauslagter Anwaltskosten begehrt hat. Insoweit ist die Berufung nicht zulässig, weil die Begründung den Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO nicht genügt.

13

Danach muss die Berufungsbegründung, soweit sich der Berufungsführer (wie hier mit Ausnahme seines Begehrens auf Wegfall des Zug-um-Zug-Vorbehalts, das der Kläger auch im Wege der Anschlussberufung hätte einführen können) gegen seine Beschwer aus der erstinstanzlichen Entscheidung wendet, die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergeben. Zur Darlegung der Rechtsverletzung gehört die aus sich heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der Berufungskläger bekämpft und welche Gründe er ihnen entgegensetzt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 13. September 2022 - XI ZB 7/22, NJW-RR 2022, 1578 Rn. 5). Bei mehreren Streitgegenständen oder einem teilbaren Streitgegenstand muss sich die Rechtsmittelbegründung grundsätzlich auf alle Teile der angefochtenen Entscheidung erstrecken, hinsichtlich derer eine Abänderung beantragt ist; andernfalls ist das Rechtsmittel für den nicht begründeten Teil unzulässig (z.B. BGH, Urteil vom 23. Juni 2015 - II ZR 166/14, NJW 2015, 3040 Rn. 11 mwN; Beschluss vom 29. November 2017 - XII ZB 414/17, FamRZ 2018, 283 Rn. 9). Eine einheitliche Begründung genügt nur, wenn sich der Angriff gegen einen Rechtsgrund richtet, der in dem angegriffenen Urteil hinsichtlich aller Ansprüche als durchgreifend angesehen worden ist (vgl. BGH, Urteil vom 7. Januar 2021 - III ZR 127/19, BGHZ 228, 115 Rn. 11 f. mwN).

14

Diesen Anforderungen wird die Berufung, soweit der Kläger durch die Begrenzung des Zinsanspruches aus einem Betrag in Höhe von 23.768,88 € und die Klageabweisung hinsichtlich vorgerichtlicher Anwaltskosten beschwert ist, nicht gerecht. Die ausschließliche Bezugnahme auf das Vorbringen erster Instanz und die dort eingereichten Schriftsätze reicht nicht aus (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Januar 2015 - VI ZB 40/14, NJW-RR 2015, 511 Rn. 7; Beschluss vom 7. Mai 2020 - IX ZB 62/18, NJW 2020, 2119 Rn. 11; Beschluss vom 29. September 2020 - VI ZB 92/19, VersR 2021, 860 Rn. 8).

IV.

15

Im Übrigen ist das Berufungsurteil gemäß § 562 Abs. 1 ZPO in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang aufzuheben, weil es sich insoweit nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Insbesondere ist das Zahlungsbegehren entgegen den Einwänden der Revisionserwiderung nicht insgesamt unbegründet, weil der Senat mit dem Landgericht von einer geschätzten Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs von 250.000 km auszugehen hätte.

16

Das Landgericht hat die Beklagte zwar zur Zahlung von 23.768,88 € verurteilt und dabei eine Nutzungsentschädigung auf Basis einer geschätzten Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs von 250.000 km in Abzug gebracht. Damit steht nicht rechtskräftig fest, dass der Kläger sich eine entsprechend berechnete Nutzungsentschädigung anrechnen lassen muss. Vielmehr handelt es sich insoweit um einen unselbständigen Rechnungsposten innerhalb eines einheitlichen vom Kläger geltend gemachten Schadens (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2014 - II ZR 191/12, juris Rn. 9). Der tatrichterlichen Entscheidung des Berufungsgerichts, in welcher Höhe Nutzungsvorteile anzurechnen sind, kann der Senat nicht vorgreifen.

17

Der Senat verweist die Sache daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück, das dem Kläger Gelegenheit zu geben haben wird, zur Berechnung seines Schadens auf der Grundlage des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) näher vorzutragen.

Menges

Möhring

Götz

Rensen

Vogt-Beheim

Von Rechts wegen

Verkündet am: 11. September 2023

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