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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 25.04.2023, Az.: XIII ZB 7/21
Anordnung des Ausreisegewahrsams gemäß § 62b AufenthG
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 25.04.2023
Referenz: JurionRS 2023, 21488
Aktenzeichen: XIII ZB 7/21
ECLI: ECLI:DE:BGH:2023:250423BXIIIZB7.21.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Kerpen - 02.12.2020 - AZ: 68 XIV(B) 13/20

LG Köln - 29.12.2020 - AZ: 34 T 159/20

Rechtsgrundlage:

§ 62b AufenthG

BGH, 25.04.2023 - XIII ZB 7/21

Redaktioneller Leitsatz:

  1. 1.

    Die Anordnung von Ausreisegewahrsam ist nur rechtmäßig, wenn der Haftrichter nicht nur das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 62b AufenthG festgestellt, sondern auch sein Anordnungsermessen erkannt und pflichtgemäß ausgeübt und eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung vorgenommen hat. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind - wenn auch in knapper Form - in der Entscheidung darzulegen.

  2. 2.

    Die Ausübung des Ermessens bei der Anordnung des Ausreisegewahrsams erfordert eine Berücksichtigung der persönlichen Umstände der Person des Betroffenen. Ihr muss deshalb Gelegenheit gegeben werden, sich dazu persönlich zu äußern. Ein diesbezüglicher Mangel kann deshalb im Beschwerdeverfahren nicht mehr geheilt werden, wenn der Betroffene im Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts bereits abgeschoben wurde.

Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. April 2023 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt, die Richterin Dr. Picker und den Richter Dr. Kochendörfer
beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 34. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 29. Dezember 2020 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Kerpen vom 2. Dezember 2020 die Betroffene in ihren Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen in allen Instanzen werden der Stadt Kerpen auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Die Betroffene, eine kongolesische Staatsangehörige, reiste am 28. November 2014 nach Deutschland ein. Mit Bescheid vom 4. September 2018 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihren Asylantrag ab. Sie wurde aufgefordert das Bundesgebiet binnen 30 Tagen zu verlassen. Die dagegen gerichtete Klage der Betroffenen hat das Verwaltungsgericht Köln am 7. November 2017 abgewiesen. Die Entscheidung ist seit dem 28. Januar 2019 rechtskräftig.

2

Auf Antrag der beteiligten Behörde vom 2. Dezember 2020 hat das Amtsgericht Kerpen mit Beschluss vom gleichen Tage gegen die Betroffene den Ausreisegewahrsam bis zum 9. Dezember 2020 angeordnet. Hiergegen hat die Betroffene am 4. Dezember 2020 Beschwerde eingelegt und beantragt festzustellen, dass die Anordnung des Ausreisegewahrsams rechtswidrig war.

3

Die Betroffene wurde am 9. Dezember 2020 in ihr Heimatland abgeschoben. Mit Beschluss vom 29. Dezember 2020 hat das Landgericht Köln die mit dem Feststellungsantrag weiter verfolgte Beschwerde zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen.

4

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache Erfolg.

5

1. Das Beschwerdegericht meint, die Anordnung des Ausreisegewahrsams gemäß § 62b AufenthG sei rechtmäßig. Die Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig und die Ausreisefrist abgelaufen gewesen. Die Betroffene habe ein Verhalten gezeigt, das erwarten ließe, dass sie die Abschiebung erschweren oder vereiteln werde. Ein solches Verhalten sei gemäß § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. d AufenthG zu vermuten, da sie die Frist zur Ausreise um mehr als 30 Tage überschritten habe. Sie habe diese Vermutung nicht widerlegt. Vielmehr habe sie tatsächlich durch ihr Verhalten gezeigt, dass sie eine Abschiebung erschweren beziehungsweise vereiteln wolle. Insbesondere habe sie den Verlust ihres Ausbildungsplatzes nicht unverzüglich angezeigt. Zudem sei die Betroffene unentschuldigt nicht zu Terminen erschienen und habe an der Einreichung erforderlicher Unterlagen nicht hinreichend mitgewirkt. Die Anordnung des Ausreisegewahrsams sei auch verhältnismäßig gewesen. Sie habe der Sicherstellung der bereits terminierten Abschiebung gedient. Mildere, gleich geeignete Mittel zur Vermeidung des Ausreisegewahrsams seien nicht erkennbar gewesen. Es sei nicht ersichtlich, dass die Betroffene durch den Ausreisegewahrsam über Gebühr belastet worden sei.

6

2. Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Die Anordnung des Ausreisegewahrsams durch das Amtsgericht hat die Betroffene in ihren Rechten verletzt.

7

a) Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 und 2 FamFG ohne Zulassung statthaft. Der im Hauptsacheverfahren angeordnete Ausreisegewahrsam nach § 62b AufenthG stellt eine Freiheitsentziehung im Sinne dieser Bestimmung dar (BGH, Beschluss vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 50/20, InfAuslR 2021, 339 Rn. 5).

8

b) Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die Anordnung des Ausreisegewahrsams war rechtswidrig, weil das Amtsgericht von seinem Anordnungsermessen keinen Gebrauch gemacht hat.

9

aa) Gemäß § 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann ein Ausländer unabhängig von den Voraussetzungen der Sicherungshaft gemäß § 62 Abs. 3 AufenthG für die Dauer von längstens zehn Tagen in Gewahrsam genommen werden, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist, feststeht, dass die Abschiebung innerhalb der 10-Tages-Frist durchgeführt werden kann und der Ausländer ein Verhalten gezeigt hat, das erwarten lässt, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird.

10

Der Haftrichter ist beim Vorliegen dieser Voraussetzungen allerdings nicht verpflichtet, Ausreisegewahrsam anzuordnen. Die Anordnung steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen (BGH, InfAuslR 2021, 339 Rn. 23; Beschluss vom 22. Juni 2021 - XIII ZB 88/20, juris Rn. 10, jeweils mwN). Die Anordnung von Ausreisegewahrsam ist deshalb nur rechtmäßig, wenn der Haftrichter nicht nur das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 62b AufenthG festgestellt, sondern auch sein Anordnungsermessen pflichtgemäß ausgeübt und eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung vorgenommen hat. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind - wenn auch in knapper Form - in der Entscheidung darzulegen (§ 38 Abs. 3 Satz 1 FamFG). Das Rechtsbeschwerdegericht hat zu überprüfen, ob eine solche Ermessensentscheidung stattgefunden hat und ob sie fehlerfrei - insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - erfolgt ist (BGH, Beschluss vom 19. Januar 2012 - V ZB 221/11, InfAuslR 2012, 189 Rn. 4; InfAuslR 2021, 339 Rn. 23, jeweils mwN).

11

bb) Eine Ermessensausübung durch das Amtsgericht ist nicht ersichtlich. Der Begründung der Anordnung des Ausreisegewahrsams lässt sich nicht entnehmen, ob sich das Amtsgericht der Notwendigkeit einer Ermessensausübung überhaupt bewusst war. Der Beschluss enthält weder eine ausdrückliche Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht der Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung ihrer Abschiebung noch Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der Anordnung des Ausreisegewahrsams. Es wurde lediglich festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Anordnung des Ausreisegewahrsams nach § 62b Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a AufenthG vorliegen.

12

cc) Dieser Mangel konnte im Beschwerdeverfahren nicht mehr geheilt werden. Das Beschwerdegericht hat zwar Ermessenserwägungen angestellt; es konnte jedoch die hierfür erforderliche persönliche Anhörung der Betroffenen nicht mehr nachholen. Die Ausübung des Ermessens bei der Anordnung des Ausreisegewahrsams erfordert eine Berücksichtigung der persönlichen Umstände der Betroffenen. Ihr muss deshalb Gelegenheit gegeben werden, sich dazu persönlich zu äußern (BGH, InfAuslR 2021, 339 Rn. 23). Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts war die Betroffene jedoch bereits abgeschoben.

13

1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Kirchhoff

Roloff

Tolkmitt

Picker

Kochendörfer

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