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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 12.10.2021, Az.: XIII ZB 110/19
Haftanordnung zur Sicherung der Abschiebung eines eritreischen Staatsangehörigen
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 12.10.2021
Referenz: JurionRS 2021, 45447
Aktenzeichen: XIII ZB 110/19
ECLI: ECLI:DE:BGH:2021:121021BXIIIZB110.19.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Frankfurt am Main - 06.04.2019 - AZ: 934 XIV 581/19

LG Frankfurt am Main - 02.07.2019 - AZ: 2-29 T 86/19

Rechtsgrundlagen:

Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO

Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO

BGH, 12.10.2021 - XIII ZB 110/19

Redaktioneller Leitsatz:

  1. 1.

    Es bedarfkeiner näheren Erläuterung der Haftdauer, wenn eine Abschiebung mit Sicherheitsbegleitung vorgesehen ist und sich die Behörde auf eine Auskunft der zuständigen Stelle oder entsprechende eigene Erfahrungswerte beruft, wonach dieser Zeitraum bis zu sechs Wochen beträgt.

  2. 2.

    Von § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG a.F. werden auch Fälle erfasst, in denen die Vorbereitungshandlung des Ausländers darauf zielt, von der Beförderung durch den Luftfahrzeugführer ausgeschlossen zu werden.

Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Oktober 2021 durch den Richter Prof. Dr. Kirchhoff sowie die Richterinnen Dr. Roloff, Dr. Picker, Dr. Rombach und Dr. Vogt-Beheim
beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 29. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 2. Juli 2019 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein eritreischer Staatsangehöriger, reiste am 19. März 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 17. Mai 2018 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Italien an. Der dagegen gerichtete Eilantrag hatte keinen Erfolg.

2

Vier Versuche der Überstellung des Betroffenen nach Italien scheiterten daran, dass er in der ihm zugewiesenen Unterkunft nicht angetroffen werden konnte. Der Überstellungsversuch am 5. April 2019 wurde abgebrochen, weil der Betroffene seinen zuvor eingenommenen Sitzplatz verließ, aus dem Flugzeug aussteigen wollte und mehrfach gegenüber den Beamten äußerte, dass er nicht nach Italien fliegen wolle. 3 Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht am 6. April 2019 Abschiebungshaft bis zum 17. Mai 2019 angeordnet. Die nach Überstellung des Betroffenen am 29. April 2019 nach Italien auf Feststellung der Rechtsverletzung durch den Beschluss vom 6. April 2019 gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

4

II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

5

1. Das Beschwerdegericht hält die angeordnete Haft für rechtmäßig. Zwar habe das Amtsgericht keine hinreichenden tatsächlichen Feststellungen zu den Voraussetzungen des Haftgrundes getroffen. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ergebe sich jedoch aus Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchst. n der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin-III-VO), § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung (aF). Die Vorbereitungshandlung, um sich der bevorstehenden Abschiebung zu entziehen, sei in dem Verhalten des Betroffenen an Bord des Luftfahrzeugs zu sehen. Die fehlende Begründung für die Dauer der Haft könne das Beschwerdegericht auf Grundlage der Ausführungen im Haftantrag nachholen. Die Notwendigkeit der Haftdauer ergebe sich aus den im Haftantrag genannten Umständen, nämlich der Notwendigkeit eines sicherheitsbegleiteten Fluges, dem Ausschluss der Überstellung während der italienischen Sperrtage über Ostern (15. bis 26. April 2019), der Mindestvorlaufzeit der Überstellung von 9 Tagen und einer weiteren italienischen Sperrfrist vom 1. bis 3. Mai 2019.

6

2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung stand.

7

a) Der Haftanordnung liegt ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde zugrunde.

8

aa) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs- oder Überstellungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung oder Überstellung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen. Sind diese Anforderungen nicht erfüllt, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8, vom 12. November 2019 - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8, vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7, und vom 23. März 2021 - XIII ZB 6/20, juris Rn. 6).

9

bb) Diesen Anforderungen wird der Haftantrag gerecht. Das gilt insbesondere für die Ausführungen der beteiligten Behörde zur erforderlichen Dauer der Haft. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bedarf es keiner näheren Erläuterung der Haftdauer, wenn - wie hier - eine Abschiebung mit Sicherheitsbegleitung vorgesehen ist und sich die Behörde auf eine Auskunft der zuständigen Stelle oder entsprechende eigene Erfahrungswerte beruft, wonach dieser Zeitraum bis zu sechs Wochen beträgt (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 20. September 2018 - V ZB 4/17, InfAuslR 2019, 23 Rn. 11, vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7, und vom 23. März 2021 - XIII ZB 6/20, juris Rn. 8). Die beteiligte Behörde hat im Haftantrag ausgeführt, der nächste Überstellungsversuch erfolge bis zum 17. Mai 2019 mittels sicherheitsbegleitetem Flug, der noch über das Bundespolizeipräsidium zu organisieren sei. Eine frühere Rückführung auf einem Linienflug mit Sicherheitsbegleitung durch die Bundesoder Landespolizei sei aufgrund von Kapazitätsauslastung und der italienischen Sperrtage über Ostern (15. bis 26. April 2019) nicht möglich. Aufgrund der bundesweiten Osterferien könne ebenfalls nicht auf das gesamte Begleitpersonal zugegriffen werden. Die beteiligte Behörde hat sich damit auf Erfahrungswerte hinsichtlich des Aufwands für die Organisation einer begleiteten Abschiebung gestützt. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts lagen der beteiligten Behörde bei Antragstellung entsprechende Auskünfte vor. Weiterer Darlegungen bedurfte es nicht, weil in Fällen der Notwendigkeit eines Fluges mit Sicherheitsbegleitung sich grundsätzlich ohne weiteres erschließt, dass der organisatorische Aufwand einen Zeitraum von bis zu sechs Wochen in Anspruch nimmt (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 6/19, juris Rn. 11).

10

b) Da sich die Notwendigkeit der Haftdauer dem Haftantrag entnehmen lässt, leidet die Haftanordnung des Amtsgerichts entgegen der Auffassung des Betroffenen auch nicht an einem Begründungsmangel. Insoweit genügte die Bezugnahme auf den Haftantrag und die Darlegung, dass der Zeitraum zum einen notwendig und zum anderen ausreichend sei, um die Abschiebung des Betroffenen durchzuführen.

11

c) Das Beschwerdegericht hat zu Recht das Vorliegen eines Haftgrundes nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO bejaht.

12

aa) Unter (erheblicher) Fluchtgefahr ist nach Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO das Vorliegen von Gründen im Einzelfall zu verstehen, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser dem Überstellungsverfahren durch Flucht entziehen könnte. Die in dieser Vorschrift genannten objektiven Kriterien sind im nationalen Recht der Mitgliedstaaten gesetzlich festzulegen (EuGH, Urteil vom 15. März 2017, Rs. C-528/15, NVwZ 2017, 777 Rn. 45 - Al Chodor; BGH, Beschluss vom 20. Mai 2020 - XIII ZB 71/19, juris Rn. 9). Maßgeblich sind im vorliegenden Verfahren noch die in § 2 Abs. 15 i.V.m. Abs. 14 AufenthG aF bestimmten Anhaltspunkte für (erhebliche) Fluchtgefahr.

13

bb) Die Annahme des Beschwerdegerichts, (erhebliche) Fluchtgefahr sei bei dem Betroffenen zu bejahen, weil eine Vorbereitungshandlung nach § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG aF vorliege, ist nicht zu beanstanden.

14

(1) Eine sonstige konkrete Vorbereitungshandlung, die nach § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG aF ein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr sein kann, ist anzunehmen, wenn bestimmte Handlungen auf eine Absicht des Ausländers hindeuten, sich der Abschiebung zu entziehen, und auch objektiv einen gewichtigen Beitrag zur Vorbereitung einer möglichen Flucht darstellen. Zudem dürfen die Vorbereitungshandlungen nicht durch Anwendung unmittelbaren Zwangs überwunden werden können (BGH, Beschlüsse vom 20. Mai 2020 - XIII ZB 71/19, juris Rn. 13, und vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 33/19, juris Rn. 17). Ein solches Verhalten liegt zwar nicht vor, wenn der Betroffene bei dem Versuch einer Abschiebung keinen aktiven Widerstand leistet, sondern sich ruhig verhält und sachliche Gründe gegen die Durchführung der Abschiebung vorbringt, beispielsweise er könne wegen einer seine Flugtauglichkeit ausschließenden oder beeinträchtigenden Erkrankung nicht auf dem Luftwege abgeschoben werden, es sei denn, dass dieses Vorbringen ersichtlich unbegründet ist und allein dazu dient, sich der Abschiebung zu entziehen (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 33/19, juris Rn. 17). Von § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG aF werden aber nicht nur Fälle erfasst, in denen sich der Ausländer durch Androhung oder Anwendung physischen Widerstands der Abschiebung entzieht. Vielmehr kann es sich bei der Vorbereitungshandlung auch um ein Verhalten des Ausländers handeln, das darauf zielt, von der Beförderung durch den Luftfahrzeugführer ausgeschlossen zu werden (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 33/19, juris Rn. 17).

15

(2) Danach konnte das Verhalten des Betroffenen an Bord des Luftfahrzeugs eine Vorbereitungshandlung im Sinn des § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG aF darstellen. Nach den vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen hat der Betroffene zwar zunächst an Bord des für die Überstellung vorgesehenen Flugzeugs seinen Sitzplatz eingenommen, ist beim Eintreten der ersten Passagiere jedoch aufgestanden und wollte über die hintere Fluggastbrücke das Flugzeug verlassen. Gegenüber den eingesetzten Beamten erklärte er, nicht nach Italien fliegen zu wollen. Angesichts des Umstands, dass für den damaligen Flug keine Sicherheitsbegleitung vorgesehen war und deshalb die Anwendung unmittelbaren Zwangs ausschied, war das Verhalten des Betroffenen darauf gerichtet, die zuständigen Stellen dazu zu veranlassen, den Versuch der Überstellung abzubrechen.

16

cc) Der Berücksichtigung des Haftgrundes des Art. 28 Abs. 2 DublinIII-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 2, § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG aF stehen keine verfahrensrechtlichen Hindernisse entgegen. Die Überstellungshaft darf zwar durch das Beschwerdegericht nicht ohne erneute persönliche Anhörung auf einen neuen Haftgrund gestützt werden. Weil es sich bei Art. 28 Abs. 2 DublinIII-VO jedoch um einen einheitlichen Haftgrund handelt, muss das Beschwerdegericht den Betroffenen grundsätzlich nicht erneut anhören, wenn es die angeordnete Sicherungshaft auf einen anderen der in § 2 Abs. 15 Satz 1 i.V.m. Abs. 14 oder Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF festgelegten Anhaltspunkte für Fluchtgefahr stützen will. Anders verhält es sich nur, wenn dabei ein neuer Sachverhalt eingeführt wird, zu dem sich der Betroffene noch nicht persönlich äußern konnte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Januar 2018 - V ZB 28/17, InfAuslR 2018, 184 Rn. 10, vom 23. Januar 2018 - V ZB 53/17, FGPrax 2018, 135 Rn. 13, und vom 23. März 2021 - XIII ZB 141/19, juris Rn. 17). Da der Haftantrag von Anfang an auf den Anhaltspunkt für Fluchtgefahr nach § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF gestützt war und der Betroffene hierzu vom Amtsgericht persönlich angehört wurde, war eine erneute Anhörung entbehrlich. Entgegen der Auffassung des Betroffenen genügt, dass sich die Anhörung des Betroffenen und die Übergabe des vollständig übersetzten Haftantrags dem Sitzungsprotokoll entnehmen lässt.

17

d) Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Kirchhoff

Roloff

Picker

Rombach

Vogt-Beheim

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